Friedrich Gerstäcker
Der Kunstreiter
Friedrich Gerstäcker

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3.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Reges, bewegtes Leben herrschte in der Residenz, wo einesteils die gerade abgehaltene Messe eine Menge von Landleuten und Fremden in die Stadt gelockt hatte, während zugleich, zur Geburtstagsfeier des Fürsten, große Parade abgehalten wurde. Equipage um Equipage fuhr langsam durch das Gedränge der Straßen, dem Landesherrn zu diesem Tage die Glückwünsche des Hofes und der Beamten, ja des ganzen Volkes zu bringen. Der Rittmeister von Geyerstein sah sich den Morgen über durch seinen Dienst teils auf der Parade, teils bei Hofe gefesselt und kam erst gegen zwei Uhr nach Hause, während er um fünf Uhr schon wieder zur Tafel befohlen worden. Zum nicht geringen Erstaunen seines Burschen kleidete er sich aber, so wie er zurückkehrte, um und in Zivil, und während dieser, immer dabei mit dem Kopfe schüttelnd, die verschiedenen nötigen Gegenstände herbeibrachte, sagte sein Herr: »Hast du mir die Wohnung gefunden, die ich dir aufgetragen, Karl?«

»Zu Befehl, Herr Rittmeister – die von dem Seiltänzer meinen Sie doch?«

»Von Monsieur Bertrand.«

»Sehr wohl. Rosenstraße Nummer 47, zweiter Stock, erste Tür rechts.«

»Rosenstraße? – wo ist die Rosenstraße? die kenne ich gar nicht.«

»Gleich am Landgrafenplatz, zu Befehl, die kleine Gasse, die hinter der Bude hineinläuft. Nummer 47 ist das rechte Eckhaus, aber der Eingang in der Gasse drin. Das Haus selber heißt auch die Rose und war früher ein Hospital, ist jetzt aber ein Wirtshaus, und die Kunstreiter kehren gewöhnlich dort ein, weil ihnen die Ställe unten bequem liegen und der Mann, dem das Haus gehört, auch Futter und Streu zu verkaufen hat.«

»Es ist gut, du – kannst mir eine Droschke holen.«

»Herr Rittmeister halten zu Gnaden, um fünf Uhr Tafel.«

»Ich weiß es – bis dahin bin ich wieder zurück. Du gehst mir indessen nicht fort und hältst alles bereit.«

»Sehr wohl, Herr Rittmeister!«

Wenige Minuten später rasselte die Droschke über das Pflaster und hielt vor der Tür.

»Wohin?« fragte der Kutscher.

»Landgrafenplatz!« und fort klapperte das Fuhrwerk, der bezeichneten Richtung zu.

Am Landgrafenplatz angekommen, schaute der Kutscher in das vordere Fenster hinein, zu erfahren, ob er sich rechts oder links halten müsse. Eine Handbewegung des Fahrenden wies ihn zurecht, und in der Nähe der kleinen Straße angekommen, stieg der Rittmeister aus. Er wollte nicht vor dem Hause mit dem Wagen halten. Den bezeichneten Platz fand er ohne Schwierigkeit. Die Beschreibung des Burschen war genau gewesen, und er betrat gleich darauf einen dunkeln, schmutzigen Hausflur, in dem sich nur ein paar Pferdeknechte herumtrieben und mit dem hindurchgehenden Hausmädchen schäkerten. Einige Schwierigkeit hatte es, die Treppe in den zahlreichen Einschnitten des alten Gebäudes zu finden, die zu ebenso vielen Keller- oder Stubentüren, bald mit Stufen abwärts, bald aufwärts, führten. Endlich fand er aber die schmale hölzerne Stiege, der er, ohne weiter jemandem zu begegnen, bis in die zweite Etage folgte. Die ihm von seinem Burschen bezeichnete erste Tür rechts trug eine daran geheftete Visitenkarte, und als er näher trat, las er die mit feiner, zierlicher Schrift gestochenen Worte »George Bertrand.«

»Georg,« flüsterte der Rittmeister leise vor sich hin, und zögernd und unschlüssig hob sich seine Hand nach dem Drücker. Sollte er anklopfen? – aber die Zeit verging, und im nächsten Augenblicke tönte ihm schon ein lautes »Herein!« aus dem Zimmer entgegen.

Ohne sich länger zu besinnen, öffnete er die Tür und überraschte hier eine Dame, die sehr ungeniert und in tiefstem Negligé auf dem Sofa lag, auch nur langsam den Kopf nach dem Eintretenden umdrehte. Kaum aber erkannte sie, daß es ein Fremder sei, als sie auch blitzschnell aufsprang und wie ein Schatten durch die dicht daneben befindliche Tür huschte. Verlegen, hier so gestört zu haben, sah sich der Rittmeister im Zimmer um und entdeckte jetzt erst in der andern Ecke, dicht am Fenster, noch eine andere Persönlichkeit, einen älteren Mann, der ihn mit eben nicht freundlichem Blick und etwas vorgebogenem Kopfe über eine Klemmbrille hinüber betrachtete.

»Suchen Sie jemanden?« sagte er dabei mit heiserer Stimme.

»Herrn Bertrand. Ist er zu Hause?«

»Nein.«

»Wann kann ich ihn treffen?«

»Weiß ich nicht. Was wollen Sie?«

»Ich möchte ihn sprechen.«

»Müssen Sie morgen wiederkommen – heute hat er keine Zeit,« brummte der Alte, der, wie der Rittmeister jetzt erst sah, mit einer kurzen Pfeife im Munde, eine Hanswurstjacke auf den Knien liegen hatte und beschäftigt schien, sie mit Nadel und Zwirn auszubessern.

»Ich bitte den Herrn, ein klein wenig zu warten – ich komme den Augenblick,« rief da die Stimme der Dame aus dem Nebenzimmer, und der Alte, als ob damit die Sache für ihn erledigt sei, schob sich seine Brille zurecht und nahm seine Arbeit wieder auf. Der Fremde mochte sich indessen selber die Zeit vertreiben.

Dem Rittmeister war es nicht wohl in dieser Umgebung, und er überlegte schon, ob er nicht lieber Monsieur Bertrand zu sich bestellen solle. Er hatte gehofft, ihn allein zu finden, denn bei dem, was er mit ihm zu sprechen wünschte, brauchte und wollte er keinen Zeugen. Aber er mochte nicht unartig gegen die Dame sein; jedenfalls erhielt er von ihr auch bessere Auskunft, als der mürrische Alte, in dem er jetzt den Hanswurst von gestern abend zu erkennen glaubte, geben mochte. – Ganz recht – er hatte sich nicht getäuscht. An der linken Seite des eben nicht zu sorgfältig abgewaschenen Gesichts ließ sich noch ein schmaler Streifen der weißen Farbe erkennen, mit der er gestern bemalt gewesen. Aber wie anders sah der sauertöpfische Gesell heute aus gegen gestern, wie er da, zusammengekauert, ein Bein über das andere geschlagen, mit hohlen, tief liegenden Augen und runzeligen Wangen, das stark mit Grau gemischte Haar wirr und ungekämmt um den Kopf hängend, vor ihm saß und seine Narrenjacke flickte! Doch in der ganzen Stube sah es ebenso wild und ungeordnet aus. Auf dem Sofa lagen eine Menge getragener Kleidungsstücke, die jedenfalls der Dame gehörten – Unterkleider und Trikots, ohne den Glanz, den ihnen die abendliche Beleuchtung verliehen; über einen Stuhl daneben war ein prachtvoller Waffenrock von kirschfarbenem Samt geworfen. Darunter stand ungeputztes Schuhwerk, und Schmuck und Tand, mit Schminknäpfchen, Pinseln, Farben und allen möglichen anderen Utensilien, das Publikum zu täuschen, deckten den Tisch und die benachbarte Kommode. Das Zimmer war auch noch nicht ausgekehrt, eine Decke mit einem schon mehrfach gebrauchten Kopfkissen nahm einen der Stühle ein – es sah fast aus, als ob jemand die Nacht auf dem Sofa gelegen hätte, und der Tabaksqualm aus der Pfeife des Alten hatte den Schlafdunst noch nicht bewältigen können.

Dem Rittmeister benahm es bald den Atem, und draußen lag der helle Sonnenschein so warm auf den Fensterscheiben. Er hätte Gott weiß was darum gegeben, ein Fenster aufreißen zu dürfen. Da öffnete sich die Kammertür wieder, durch welche die Dame vorhin geflüchtet war, und Madame Bertrand – nicht so bezaubernd wie sie gestern abend wohl dem Publikum erschienen, aber immer noch ein bildschönes Weib – trat auf die Schwelle.

»Ich muß tausendmal um Entschuldigung bitten,« sagte sie, während ihr Blick im Zimmer umherschweifte und sie rasch die jedenfalls ihr gehörigen und zunächst liegenden Kleidungsstücke aufraffte und hinter sich in die Kammer warf – »Sie finden uns aber noch so in Unordnung . . .«

»Madame,« unterbrach sie der Rittmeister höflich, »wenn jemand hier um Entschuldigung zu bitten hat, so bin ich es, der ich unangemeldet bei Ihnen eintrat und Sie unberufen störte.«

Madame Bertrand hatte indessen zu ihm aufgesehen, und ein eigenes Lächeln belebte plötzlich ihre Züge.

»Ich glaube, ich habe schon gestern das Vergnügen gehabt. Sie bei unserer Vorstellung zu sehen,« sagte sie, »aber wollen Sie nicht Platz nehmen? Guter Gott, es sieht wahrhaftig heute gerade zu unordentlich bei uns aus! Was müssen Sie nur von uns denken!« Sie räumte dabei rasch und ziemlich rücksichtslos, wohin sie die Sachen aus dem Wege brachte, das Sofa ab, und sich dann in die eine Ecke lehnend, zeigte sie mit einer leichten Handbewegung lächelnd auf die andere, so daß Graf Geyerstein nicht umhin konnte, neben ihr Platz zu nehmen. Halb verlegen gehorchte er auch der Einladung, und es entging ihm dabei nicht, daß die schöne Frau dem Alten einen bezeichnenden Blick zuwarf. Dieser griff, demselben gehorchend, und wie es schien ziemlich mürrisch, seine Arbeit auf, sah rechts und links neben sich auf die Erde, ob er nicht etwas vergessen habe, und verließ dann ohne weiteren Gruß das Zimmer.

»Ich bin Ihnen vor allen Dingen eine Erklärung schuldig, Madame,« nahm jetzt der Rittmeister das Wort, »daß ich gewagt habe . . .«

»Ich bitte Sie um Gottes willen, keine Entschuldigung,« unterbrach ihn lächelnd die Frau, »Sie sind da, und das genügt mir – was wollen Sie mehr? Es soll mich nur freuen, wenn ich Ihnen mit etwas dienen kann.«

Graf Geyerstein geriet dieser Antwort, ja Ermunterung gegenüber in Verlegenheit, und Madame Bertrand schaute ihn so freundlich dabei an, und sah in dem leichten seidenen Oberkleide, das ihren vollen Körper nur locker umschloß, wirklich so reizend aus – er konnte nur eine dankende Verbeugung machen.

»Sie sind Soldat, nicht wahr?« nahm da die Dame die Unterhaltung wieder auf, »Kavallerieoffizier?«

»Allerdings.«

»Ich dachte es mir – oder vielmehr, ich erinnere mich Ihrer Uniform,« setzte die Frau leicht errötend, aber doch auch wieder halb schelmisch hinzu, »und Sie – interessieren sich für unsere schönen Pferde?«

»Ich muß gestehen, daß ich entzückt davon bin,« erwiderte der Graf, der um jeden Preis diese Unterredung abzubrechen wünschte, »aber das ist es eigentlich nicht, was mich hierher geführt.«

»Sie wollten auch die Reiter kennen lernen,« lächelte Madame Bertrand, »ein sehr natürlicher Wunsch, der aber leider nur gewöhnlich die Illusion zerstört, die bis dahin einen eigenen, fremdartigen Zauber um sich warf.«

»Ich wünschte Monsieur Bertrand zu sprechen.«

»Georg? – er ist leider nicht zu Hause. Heute, am Meßsonntage, geben wir zwei Vorstellungen, und seine Anwesenheit ist deshalb im Zirkus unumgänglich nötig, um die erforderlichen Anordnungen dort zu treffen. Er wird vielleicht vor der Vorstellung nur noch auf einen Augenblick herüberkommen.« Graf Geyerstein schwieg und sah sinnend vor sich nieder. »Kann ich vielleicht irgendeinen Auftrag ausrichten? Georg wird sich jedenfalls geehrt fühlen. – Aber, mein Gott! fehlt Ihnen etwas! – Sie sehen totenbleich aus.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und sah besorgt zu ihm auf.

»Nicht das mindeste,« sagte abwehrend der Graf, »ich danke Ihnen, Madame, aber ich befinde mich vollkommen wohl – nur die drückende Luft hier im Zimmer . . .«

»Sie haben recht!« rief Madame Bertrand, aufspringend und rasch ein Fenster öffnend, »es ist hier auch entsetzlich heiß, und Vater hat dabei wieder einmal so gequalmt.«

»Der Vater!« flüsterte der Rittmeister leise vor sich hin, und fast krampfhaft faßte die Linke den Tisch, an dem er sich emporrichtete.

»Sie wollen schon wieder fort?« rief da Georgine, mit einem halb erstaunten, halb bittenden Blick.

»Ich darf Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.«

»Aber Sie stören mich gar nicht, und wenn Sie Geschäfte mit Georg . . .«

»Geschäfte nicht, Madame, aber – ich wünschte ihn zu sprechen,« unterbrach sie der Graf, »und – ich sehe auch keinen Grund, weshalb ich Ihnen die Ursache verschweigen sollte. Eine merkwürdige Ähnlichkeit, die er mit einem meiner früheren Freunde hat, läßt mich wünschen, ihn kennenzulernen – möglich, daß es nur eben eine Ähnlichkeit ist, aber ich würde ihm sehr dankbar sein, wenn er mich vielleicht morgen früh zwischen acht und zehn Uhr besuchen wollte. Meine Karte hier haben Sie wohl die Güte ihm zu überreichen.«

»Graf Wolf von Geyerstein,« las Georgine, sich leise und lächelnd dabei gegen den jungen Offizier verneigend, »ich werde nicht ermangeln, Ihren Auftrag pünktlich auszurichten, Herr Graf. Aber – wissen Sie wohl, daß das ein recht eigenes Zusammentreffen ist?«

»Welches, Madame?«

»Daß Sie Georg einer Ähnlichkeit wegen aufsuchen wollen,« sagte die junge Frau, »während gerade Sie, Herr Graf, auch mir einer Ähnlichkeit wegen von Anfang an aufgefallen sind.«

»Und wem sah ich ähnlich?« flüsterte der Graf, und seine Blicke hafteten fest und stier auf den Augen des schönen Weibes.

»Keinem so entsetzlichen Wesen, als Sie zu glauben scheinen,« lächelte schalkhaft Georgine, »nur – einem früheren Geliebten von mir – meinem jetzigen Manne.«

»Georg Bertrand?«

»Demselben – wenigstens damals, als er noch nicht einen so furchtbaren Bart trug wie jetzt.«

»Sie sind schon längere Zeit verheiratet, Madame?«

»Leider!« seufzte Georgine mit komischem Bedauern.

»Leider?«

»Ich weiß nicht, ob Sie vermählt sind, Herr Graf, aber – es ist doch ein anderes Ding um einen Liebhaber, als um einen Ehemann, und Monsieur Bertrand ist, besonders in der letzten Zeit, so ernst – ja, ich möchte fast sagen, finster geworden, als ob er die ganze Lust an seiner Kunst verloren hätte.«

»Und wenn dem wirklich so wäre?«

»Wenn dem so wäre,« lachte Georgine. »Sie reden gerade, als ob er von seinen Renten leben könnte! Er hat weiter nichts gelernt als die sogenannte »brotlose Kunst«, die uns aber doch ein ganz hübsches Brot abwirft, und die Dressur der Pferde, in der er Meister ist. Sollte er aber jetzt, wo er so viele in seinem Dienst gehabt, selber Dienste bei einem Herrn nehmen und Bereiter werden? Er hielte es nicht vierundzwanzig Stunden aus.«

»Und finden Sie selber Freude an diesem Beruf – an dieser Kunst, wenn Sie wollen?«

»Ich lebe und atme darin,« rief Georgine, und ihre Augen leuchteten, ihre ganze Gestalt hob sich. »Auf dem Rücken meines Tieres bin ich ein anderes Wesen, gehöre dieser Erde kaum mehr an, und was dem Fisch das Wasser, der Pflanze das Licht sein mag, ist mir der jauchzende Beifall der Menge, die buntgeschart mich umgibt. Ich schwimme dann in einem Meer von Glanz und Licht und Wonne, und – erwache erst, wenn diese Wände hier aufs neue mich umgeben – einschließen.«

»Und doch ist das ein unnatürlich Leben,« sagte der junge Graf, »das Haus ist eigentlich des Weibes schönster Wirkungskreis.«

»Nicht der meine,« rief Georgine, indem ein trotziges Lächeln ihre schönen Lippen umspielte. »Das Haus? – ja, für die Weiber, die stricken und nähen und Freude vor ihrem Wäscheschrank finden können. Mein Wirkungskreis liegt draußen in der Bahn; ich tanze, fliege durch das Leben, und so – so möcht' ich enden, wenn es denn einmal geschieden, gestorben sein muß. Aber Sie sind Soldat. Sie können sich ja am besten, am leichtesten in solche Sehnsucht denken. Und möchten Sie, wie Sie da vor mir stehen als Mann, das Leben eines Stubenhockers, eines Aktenmenschen wählen, der über seinen staubigen Papieren brütet und Licht und Luft und Sonnenschein da draußen ungesehen, unbeachtet wirken, schaffen, segnen läßt? Sie nicht, Sie wahrlich nicht, und gerade so denk' auch ich. Von klein auf zu diesem Beruf herangebildet, hab' ich mit der Muttermilch schon die Lust an solchem Leben eingesogen, und wenn das nun einmal im Blute liegt, glauben Sie nicht, daß der sich einer geregelten – einer festgeschnürten Existenz möcht' ich es nennen, einem Gang in der Tretmühle des menschlichen Lebens je wieder fügen könne. Zugvögel, die wir sind, müssen wir auch die Freiheit des Zugvogels behalten, wenn wir nicht verkümmern, nicht untergehen sollen.«

»Und denkt Ihr Gatte ebenso?«

»Gewiß – er wäre sonst nicht der, der er ist: Bertrand, der kühnste aller Reiter und – mein Mann. Aber ich plaudere und plaudere, und denke nicht daran, daß es Sie wenig kümmern wird, welche Gesinnungen über ihr Leben eine Kunstreiterin hegt. Von Ihren Sphären sind wir freilich ausgeschlossen, und doch – wer weiß, ob nicht so wackere Herzen oft unter dem bunten Tand, mit dem wir uns behängen müssen, wie unter Stern und Ordensbändern schlagen! Doch mein Geschwätz ermüdet Sie; nehmen Sie wieder Platz, Herr Graf, und – wenn Sie es wünschen und etwas Besonderes mit Monsieur Bertrand zu bereden haben, will ich ihn rufen lassen. Der Zirkus ist nur wenige Schritte von hier entfernt.«

»Ich danke Ihnen, Madame,« unterbrach sie der Rittmeister. »Meine Zeit ist überdies heute beschränkt, wie die seine wahrscheinlich. Morgen früh wird ihm eher Raum bleiben, mir eine halbe Stunde zu gönnen. Meine Wohnung finden Sie auf der Karte angegeben. Ich darf Sie bitten, ihm meinen Wunsch mitzuteilen?«

»Ihr Auftrag soll pünktlich vollzogen werden,« sagte die Frau, und der Rittmeister, indem er sich dankend verbeugte, grüßte sie achtungsvoll und verließ das Zimmer.

Georgine blieb, die Unterlippe mit den kleinen weißen Zähnen gefaßt, wohl mehrere Minuten in derselben Stellung am Fenster. Sie hielt die Karte, die er ihr gegeben, noch in der Hand, und ihre Augen hafteten darauf.

»Kalt wie Eis,« murmelte sie dann mit einem spöttischen und doch auch wieder verdrießlichen Lächeln vor sich hin, »aber – was er nur von Georg will? denn die Ähnlichkeit war leere Ausrede – Graf Wolf von Geyerstein, Rittmeister – hier und Adjutant des Fürsten? Sollte der Fürst – vielleicht wegen des Turmseils? aber, bah! was hat der mit dem Kunstreiter zu schaffen, daß er einen seiner Adjutanten zu ihm schicken würde? Auch war der Herr Rittmeister nicht in Uniform, sondern in Zivil; er hat sich vielleicht geschämt, in Uniform bei uns gesehen zu werden. Aber er wollte Georg sprechen, nicht mich. – Doch was zerbreche ich mir den Kopf?« rief sie plötzlich, die Karte neben sich auf den Tisch werfend. »Ob Herr Graf Wolf von Geyerstein Ursache hat, den Kunstreiter Bertrand aufzusuchen oder nicht – was kümmert's mich! Georg mag das selber untersuchen. Die ganze Sache läuft doch nur zuletzt auf einen Pferdekauf hinaus.«

»Ist er fort?« sagte in diesem Augenblick der Alte, der seinen Kopf wieder zur Tür hereinsteckte.

»Wie du siehst, ja,« erwiderte gleichgültig die Frau, »dort unten geht er eben über die Straße.«

»War gerade noch so ein Mosjö da, der dich sprechen wollte.«

»So? – wer?«

»Der geschniegelte und geleckte Bengel mit dem Schnurrbart wie ein Malerpinsel. Silbermann oder Silberfranz – was weiß ich's, wie er heißt! Ich habe ihn gleich an der Treppe abgefertigt.«

»Das war recht – ich mag den faden Menschen überhaupt nicht leiden.«

»Und wer war der?«

»Ein Graf.«

»Und wollte?«

»Georg sprechen.«

»Nur Georg?«

»Nur Georg.«

»Pferdehändler!« brummte der Alte und schleppte seine Jacke wieder zum Fenster, an dem er den alten Platz einnahm, um mürrisch und finster wie vorher an dem scheckigen, schmutzigen Kleidungsstück weiter zu nähen. Kein Wort mehr wurde zwischen den beiden gewechselt, die jedes mit den eigenen Gedanken vollständig beschäftigt schienen. Da schallten Schritte vom Vorsaal herein.

»Georg,« sagte die Frau aufhorchend.

»Wird mich wieder zur Probe haben wollen,« knurrte der Alte, »aber verdammt will ich sein, wenn ich jetzt hinübergehe. Heute die Rackerei zweimal ist vollständig genug.«

Die Tür ging auf, und Monsieur Bertrand betrat in der Tat das Zimmer, ohne die beiden aber nur im mindesten zu beachten. Selbst ohne Gruß kam er herein, warf seinen Hut auf einen Stuhl und schritt dann eine Weile, die Arme fest ineinander geschlagen, in dem kleinen Raume auf und ab. Der Alte warf über die Brille einen forschenden Blick nach ihm hin, nahm aber weiter keine Notiz von ihm, und nur Georgine sagte endlich: »Ist etwas vorgefallen, daß du so verdrießlich bist?«

»Vorgefallen? – nein,« erwiderte der Mann, ohne seinen Spaziergang zu unterbrechen.

»Ist die Erlaubnis zu deinem Turmseil noch nicht gekommen?«

»Nein.«

»Und wär' auch kein Schade, wenn sie ganz ausbliebe!« brummte der Alte. »Mit dem verwünschten Seiltanzen nimmt es noch einmal ein böses Ende. Und wenn Ihr's noch nötig hättet! Aber die Reiterei ist weit ehrenvoller und bringt hundertmal mehr Geld ein, als der halsbrechende Lauf.«

»Aber er macht Aufsehen!« rief Georgine rasch. »Wenn sich die Kunde verbreitet, daß Georg gewagt hat, was vor ihm keiner wagte, strömt das Volk von nah und fern herzu, um ihn zu sehen.«

»Sie denken gar nicht daran,« sagte der Alte finster, »und du solltest gerade die letzte sein, die dem Tollkopf auch noch zuredete, sein Leben an solch einen Quark zu wagen. Was wird aus dir, aus uns allen, wenn er den Hals bricht oder selbst nur zum Krüppel stürzt?«

»Und geht er nicht so sicher auf dem Seil, wie hier auf ebenem Boden?« rief die Frau.

»Papperlapapp! mir mußt du so etwas nicht sagen,« meinte aber kopfschüttelnd der Hanswurst. »Mein Bruder, der lange Franz, mit dem ich meine tollsten Jahre verlebt, war ein so tüchtiger Seiltänzer wie nur einer, und wie er zuletzt glaubte, er könnt's ganz allein, und höher und immer höher stieg, passierte ihm doch einmal etwas Menschliches. Ob er den Krampf bekam, ob er schwindelig wurde – er hat's keinem Menschen mehr erzählt, aber ich seh' ihn noch vor mir, wie er da oben haushoch über die staunende Menschenmenge hinlief, daß wir unten, gegen den grauen Himmel hin, nicht einmal mehr das Seil erkennen konnten – ich sehe ihn noch vor mir, wie er auf einmal schwankte, wie ihm die Stange aus der Hand fiel, und ein Schrei von den Tausenden – ein furchtbarer Schrei zu ihm hinaufgellte – dann kam ein dumpfer Schlag – und als ich wieder scheu den Kopf hob, lag ein häßlicher, blutiger Klumpen vor mir – der lange Franz. – Seit dem Tage hab' ich kein Seil wieder betreten.«

Bertrand war vor dem Alten stehengeblieben, aber sein Blick schweifte über ihn hin nach seinem Weibe, das halb abgewandt von ihm, die rechte Hand auf das Fensterbrett gestützt, den Kopf unwillig und langsam hin und her wiegend, am Fenster lehnte.

»Du hättest etwas Gescheiteres tun können,« sagte sie jetzt, während der Vater, in der Erinnerung noch zusammenschaudernd, schwieg, »als ihm gerade heute die Geschichte zu erzählen. Daß etwas derartiges passieren kann, weiß ich auch, aber eben die Möglichkeit desselben übt den Reiz auf die Zuschauer, gründet den Ruf des kühnen Läufers. Wäre keine Gefahr dabei, wer würde sich die Mühe geben, auch nur zuzusehen?«

»Du hast gut reden,« sagte der Alte finster.

»Und glaubst du, ich fürchte die Gefahr?« rief rasch und heftig die Frau, »glaubst du, ich redete ihm zu, wenn ich sie nicht teilen wollte? – Ich werde ihn begleiten.«

»Du? – auf dem Turmseil?« lachte kopfschüttelnd ihr Vater. »Du bist nicht gescheit!«

»Das geht nicht, Georgine,« sagte Bertrand. »Wenn ich mich selber auch sicher genug da draußen weiß, um nicht das Schicksal des langen Franz zu befürchten, möchte ich doch nicht die Angst für dich mit hinausnehmen. Außerdem weißt du selber, daß es viel schwerer ist, zu zweien, als allein das Seil zu begehen.«

»Bah! wir sind so oft zu zweien darauf gewesen.«

»Allerdings, doch nicht in solcher Höhe.«

»Und welcher Unterschied ist zwischen Haus- und Turmhöhe? Ein Sturz wäre von der einen genau so verderblich wie von der andern.«

»Gewiß! aber du selber hast ein Seil in solcher Höhe noch nie betreten; du weißt nicht, wie es dich erregen würde – doch wir streiten da um einen ganz nutzlosen Gegenstand. Bis jetzt hat es mir der Magistrat verboten, und ob mein direkt an den Fürsten gerichtetes Gesuch einen andern Erfolg haben wird, weiß ich noch nicht.«

»Ein Adjutant des Fürsten war heute morgen hier,« sagte Georgine, »ich bezweifle aber, ob in der Angelegenheit. Jedenfalls wollte er dich sprechen.«

»Ein Adjutant des Fürsten? rief Bertrand rasch – »und weshalb hast du mich da nicht rufen lassen?«

»Er hatte keine Zeit. Dort liegt seine Karte. Er ersucht dich, ihn morgen früh zwischen acht und zehn Uhr zu besuchen.«

»Sonderbar!« sagte Bertrand und schritt langsam zu dem Tisch, auf dem die Karte lag. Georgine hatte sich dem Fenster zugewandt und sah hinaus, und der Alte nähte den letzten abgerissenen großen weißen und ballähnlichen Knopf an seine Jacke.

»Nun?« sagte Georgine endlich, als Bertrand noch immer schwieg, indem sie sich nach ihm umdrehte. »Kennst du den Herrn?« Bertrand antwortete nicht. Er hielt die Karte zwischen den Fingern; seine Augen hafteten darauf, aber er sprach kein Wort. Georgine schritt hinüber zu ihm und sah über seine Schulter auf die Karte nieder; erst als er noch immer nicht sprach, schaute sie zu ihm auf und erschrak über die plötzliche Blässe seiner Züge.

»Was fehlt dir, Georg?« rief sie. »Du siehst kreideweiß aus. Was ist mit dem Fremden?«

»Kreideweiß?« lächelte Bertrand, aber ihrem scharfen Blick entging nicht, welche Gewalt er sich dabei antun mußte, wenn er auch sonst seine ganze Fassung und Ruhe behielt. – »Du träumst. Aber wer brachte diese Karte?«

»Der, dessen Namen sie trägt.«

»Wolf von Geyerstein,« flüsterte Bertrand halblaut vor sich hin, aber es war, als ob er die Worte mehr zu sich selber spräche, als sie für ein anderes Ohr bestimmte.

»Du kennst ihn?« fragte die Frau, und ihre Augen hingen erwartend an denen des Gatten.

»Ich kenne den Namen,« sagte dieser ruhig, »kannte wenigstens einen, der ihn trug – aber das ist lange Jahre her und war auch an einem andern Orte – weit von hier.«

»Und der hieß Wolf von Geyerstein?«

»Nein – sein Vorname ist mir jetzt entfallen; aber der – lebt auch nicht mehr.«

»Ein Verwandter denn – ein Bruder vielleicht?«

»Möglich,« sagte Bertrand gleichgültig, »aber wir werden ja sehen. Also morgen?«

»Morgen früh zwischen Acht und Zehn. – Du glaubst also nicht, daß es auf deine Eingabe Bezug haben könnte?«

»Und warum nicht? – was sonst hätte ich mit einem Adjutanten des Fürsten zu tun und zu verkehren? – Aber mach' dich fertig; die Zeit vergeht, und es muß drei Uhr vorbei sein. Die Leute drängten sich schon zur dritten Galerie, als ich vorüberkam.«

»Heute gibt's eine gute Einnahme,« sagte der Alte, der seinen Plunder aus den verschiedenen Zimmerecken zusammensuchte, »wo zum Teufel ist jetzt meine Peitsche? Ich habe sie gestern abend dort auf den Stuhl gelegt.«

Georgine verließ das Zimmer, um noch einiges für ihre Garderobe zusammenzusuchen, und Georg stand noch immer und starrte still und schweigend auf die Karte nieder, bis er sich endlich, als er die Frau zurückkommen hörte, davon losriß und seinen Hut ergriff. Es war in der Tat Zeit für den Zirkus, und alle anderen Gedanken nahm der Augenblick vollkommen in Anspruch.

 


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