Friedrich Gerstäcker
Der Kunstreiter
Friedrich Gerstäcker

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

25.

Hugo von Silberglanz befand sich, als er Georginen verließ, wirklich in einem außergewöhnlichen Grade von Aufregung, der nicht allein den Reizen des schönen Weibes, sondern auch noch seinen durch sie plötzlich überstürzten Plänen und Geschäften, wie all den Verwicklungen galt, in die er dadurch gezogen werden konnte. Und was würde Baron Silberglanz' Vater dazu sagen, wenn er von diesem tollen Streiche des Barons Silberglanz' Sohn unglücklicherweise gehört hätte? Bah! das Unglück wäre zu ertragen gewesen; er war jetzt Kavalier und mußte kavaliermäßig handeln – wenn es ihm auch ein paar Taler kostete – welchen Preis eroberte er außerdem nicht dabei für sich – einen Preis, um den ihn die halbe Residenz beneiden würde! – Aber der Mann – wenn Monsieur Bertrand . . .

»Zühbig hat recht!« brummte er dabei leise vor sich hin, als er den Fahrweg entlang dem Dorfe zueilte, »sie sind keinesfalls zusammen getraut – nur eine wilde Ehe, wie es bei der Art Leuten ja so häufig vorkommen soll, und dieser hochnäsige Graf Geyerstein hat sich die wunderschöne Reiterin hier ins warme und bequeme Nest gesetzt. Dem aber gönn' ich den Ärger, wenn er erfährt, daß Hugo von Silberglanz, der verachtete, ›neugebackene Baron‹, mit seiner Beute durchgegangen ist. Nur allein die Genugtuung wäre das ganze Abenteuer wert. – Und diese Georgine – ein göttliches Weib – ein wahrhaft göttliches Weib! Ob sie mich nicht rein verrückt gemacht hat mit ihren Reizen? Und wie apropos bin ich hier zur rechten Zeit gekommen – das ist aber mein altes Glück! Glück muß der Mensch haben, sagt mein Papa, und der Mensch hat Glück. Hm – ja – aber wohin? – Und was zerbreche ich mir noch den Kopf? Nach Paris – wollte ich doch nach Paris und habe den Umweg nur über hier gemacht – jetzt reis' ich in Gesellschaft, und was für Gesellschaft! Was liegt an den paar hundert Talern – und wenn's tausend wären! Hugo von Silberglanz ist nur einmal jung, und will auch sein Leben genießen wie andere Kavaliere. Ein Geschäft bringt die ganze Sache zehnmal wieder ein.« Und mit dem Troste sich, teils der Kälte, teils seiner angenehmen Empfindungen wegen, die Hände reibend, eilte er in das Dorf hinein, dessen erste Gebäude er schon erreicht hatte.

Durch und durch Geschäftsmann, wurde es ihm hier nicht schwer, seine Rolle als Getreidehändler zu spielen; aber zu wirklichen Käufen traf er, woran ihm übrigens auch nicht viel lag, keine günstige Zeit, da Baron von Geyfeln, wie ihm die Bauern sagten, eben deshalb verreist sei, um einen Handel für sein und ihr Getreide – wenn ihnen der Preis nämlich zusagt – abzuschließen. Erst wollten sie deshalb einmal hören, was für Gebote er bekommen habe, ehe sie sich auf einen Handel einließen – den Fall natürlich ausgenommen, daß ihnen hier ein sehr annehmbares Gebot gemacht würde, von Silberglanz war aber gar nicht geneigt, teuer einzukaufen, und unter diesen Umständen ließ er sich nur das noch vorhandene Getreide zeigen, wog es auf einer Wage, die er bei sich führte, und schrieb sich die verschiedenen Namen der Bauern auf, um vielleicht später doch einmal, wie er sagte, einen Handel mit ihnen abzuschließen.

Vorher schon hatte er seinem Kutscher die nötigen Befehle gegeben, um Georginens Auftrag auszuführen. Das versprochene Gepäck kam auch gegen Abend an, und am nächsten Morgen, lange vor Tage, war der Wagen schon unterwegs nach seinem Bestimmungsorte, wobei der Kutscher freilich den Kopf schüttelte, daß er eine Kiste und ein paar Koffer spazieren fahren mußte.

Der Wirt im Stern wußte indes nicht anders, als daß der fremde Herr – von dem der Kutscher nur sagen konnte, daß er ein Baron sei, und der sich als »Baron Solbern« in das Fremdenbuch geschrieben – hier in der Gegend die Rückkunft des Herrn von Geyfeln abwarten wollte.

So verging der Tag – die Nacht, und Hugo von Silberglanz, während er das neue Sonnenlicht mit Jauchzen begrüßte, konnte die Zeit kaum erwarten, die ihm gestatten würde, wieder zu Georginen zu eilen und den Lohn für seine Aufopferung zu ernten. Punkt zehn fand er sich oben im Gute ein, und Georgine kam ihm, heute ein ganz anderes Wesen als gestern, lächelnd entgegen.

»Nun?« fragte sie »haben Sie Ihre Getreidekäufe glücklich beendet?«

»Holde Georgine,« sagte Hugo, »reden Sie mir jetzt nicht von Getreide und Geschäften. Ich versichere Ihnen, ich kann das Wort nicht hören. Sprechen Sie mir von sich, gestatten Sie mir, daß ich Sie ansehe, daß ich Sie an mein Herz . . .«

»Halt, mein bester Baron!« sagte die Frau, ihn lächelnd abwehrend. »So weit sind wir noch nicht. Haben Sie alles besorgt, was ich Ihnen aufgetragen?«

»Alles, bis aufs letzte.«

»Ist der Wagen fort?«

»Heute morgen, zwei Stunden vor Tage.«

»Kennen Sie den Weg zur Zaubereiche?«

»Wie meine Tasche – ich bin hin und her gegangen und fürchte beinahe, ich habe mich dabei erkältet – der Schnee war so tief.«

»Ist Ihr eigenes Gepäck mit fortgegangen?«

»Alles, bis auf ein Täschchen, das ich am kleinen Finger tragen kann.«

»Vortrefflich! Sie sind ein Muster von Pünktlichkeit, Baron. Zur Belohnung sollen Sie auch heute eine Spazierfahrt mit mir machen. Haben Sie Lust dazu?«

»Bis ans Ende der Welt.«

»Um Gottes willen, nein!« lachte Georgine. »So weit will ich Ihre Güte nicht in Anspruch nehmen.«

»Aber wann brechen wir auf? – Jetzt?«

»Jetzt noch nicht. Ich muß einige Leute los werden, die mir hier im Wege sind. Um drei Uhr nachmittag wird der alte Mann, der gestern oder vorgestern verunglückt ist, unten im Dorfe beerdigt werden. Meine Wirtschafterin und der alte Verwalter werden mit zur Leiche gehen. Um drei Uhr fahre ich von hier fort. Seien Sie um diese Zeit, oder bald nachher, an der Zaubereiche.«

»Aber warum ließen Sie mich meinen Wagen fortschicken?«

»Ich nehme mein eigenes Pferd mit, das ich nicht zurücklassen möchte, und komme in einem Schlitten, auf dem wir beide Platz haben. Fürchten Sie sich, mit mir allein zu reisen?«

»Georgine!«

»Gut; jetzt ist alles Nötige besprochen, und nun verlassen Sie mich. Wir dürfen keinen Verdacht erwecken.«

»Jetzt wollen Sie mich schon wieder fortschicken?«

»Sie werden meiner Gesellschaft noch überdrüssig werden,« lächelte die Frau. »Ich bitte Sie, jetzt zu gehen.«

»Ich gehorche Ihnen,« sagte von Silberglanz resigniert, »also um drei Uhr an der Zaubereiche. Ich werde die Minuten bis dahin zählen.«

»Dann sind Sie vollständig beschäftigt. Ist noch etwas?«

»Ja,« sagte von Silberglanz, entschlossen auf sie zugehend und ihre Hand ergreifend. »Sie haben mich zu Ihrem Beschützer erwählt, Georgine; ich bin bereit, alles daran zu setzen. Ihnen zu willfahren – seien Sie nicht grausam!« Er legte seinen Arm um sie und wollte sie an sich ziehen.

»Wir sind keinen Augenblick hier sicher, überrascht zu werden,« sagte Georgine, ihn von sich haltend; Herr von Silberglanz war aber nicht so leicht abzuschütteln.

»Und soll ich so lange auch ohne den kleinsten Lohn bleiben?« drängte der Verliebte. »Georgine – holdes, göttliches Wesen, in wenig Stunden ketten Sie Ihr Geschick an das meine, und jetzt« – er drückte ihren Arm zurück und preßte, ehe sie es verhindern konnte, seine Lippen auf die ihrigen.

Georgine duldete den Kuß, dann aber sich von ihm losmachend, rief sie: »Seien Sie vernünftig, Baron! Sie setzen mich und sich der größten Gefahr aus, unsern ganzen Plan scheitern zu machen. Gehen Sie jetzt, es ist genug; um drei Uhr an der Zaubereiche.«

»Um drei Uhr,« rief Hugo, der sie wie in einer Verzückung anstarrte, »um drei Uhr!« und mit Gewalt sich losreißend, eilte er, so rasch er konnte, in das Dorf zurück, um dort seine Rechnung zu bezahlen, seine kleine Tasche zu packen und zur bestimmten Zeit an der bezeichneten Stelle nicht zu fehlen.

Georgine blieb allein in ihrem Zimmer zurück und starrte, als Herr von Silberglanz sie schon lange verlassen hatte, noch immer still und schweigend vor sich nieder; aber die Zeit für sie war auch zum Handeln gekommen, ein Rückschritt nicht mehr möglich, und das kühne, selbständige Weib gewann mit diesem Bewußtsein auch ihre ganze Energie und Entschlossenheit wieder.

»Frei – frei – frei!« flüsterte sie wie eine Beschwörungsformel leise vor sich hin, »frei bin ich wieder, wie der Vogel in der Luft, wie das wilde Roß, das die Steppe durchfliegt und seiner Verfolger lacht. Den Zwang habe ich abgeschüttelt, der mir die Seele wund gedrückt und Geist und Körper niedergebeugt hat, und schon fühle ich den beweglichen Boden wieder unter meinen Füßen, fühle, wie der wehende Luftzug mir die Locken um den Nacken peitscht – sehe die dichtgedrängte Schar der Zuschauer, höre ihr Jauchzen, höre ihr Jubeln und fliege im Triumph die alte Bahn dahin. – Georg wird wüten, wenn er zurückkehrt und mich – wenn er sein Kind nicht mehr findet, obgleich es ihm die deutschen Gesetze zusprechen. Weder Josefine noch ich werden jemals wieder deutschen Boden betreten. Und will er im Schweiße seines Angesichts, in ruhmloser Beschäftigung und Arbeit sein Brot hier verdienen, will er, kann er vergessen, was er einst gewesen, als ich ihn liebte, dann verdient er auch nicht, daß ich je mit einem Atemzuge an ihn gedacht. Und nun ans Werk, denn nur noch wenige Stunden sind mein!« Und mit den Worten, als ob sie damit alles abgeworfen habe, was sie bis jetzt noch gedrückt, ging sie rasch und fröhlich daran, den einmal festbeschlossenen und eingeleiteten Plan zur Flucht auszuführen.

Vorbereitet war er insofern schon lange, als Georgine ihre Künstlergarderobe gepackt in *** stehen und dort die Weisung hinterlassen hatte, sie ihr später dorthin zu schicken, wohin man eben die Weisung bekommen würde. Gestern hatte sie diese erteilt, und in wenigen Tagen konnte ihr Auftrag vollzogen sein. Ihre wie Josefinens nötigste Kleider waren heute morgen mit dem Wagen des Barons abgegangen, und was sie unterwegs brauchten, konnten sie recht leicht und unbemerkt mit in den Schlitten nehmen.

Allerdings war die Tour für ihr eigenes Pferd etwas stark, aber es mochte sich nachher lieber wieder ordentlich ausruhen, und auf andere Weise konnte sie es doch nicht mit sich fortführen. Josefine wußte freilich noch kein Wort von der beabsichtigten Flucht aus ihrer neuen Heimat; sie hätte vielleicht gegen ihre Gouvernante nicht geschwiegen, und diese jedenfalls versucht, die Ausführung des Planes zu hintertreiben. War Josefine nicht mehr da, so sah sie sich natürlich auch ohne Stellung – ohne Brot; und wer verliert das gern so leicht? Daß Josefine selber mit Freuden das alte fröhliche Leben begrüßen, daß sie den Vater bald vergessen würde, davon glaubte Georgine fest überzeugt zu sein. Überdies hatte das Kind keinen eigenen Willen und mußte der Mutter dahin folgen, wo diese für ihr Glück und ihre Wohlfahrt sorgen wollte.

Nur etwas mußte sie noch besorgen, dann war sie mit allem fertig, und zwar von des Kindes Leibwäsche genügend für die erste Zeit beiseite zu bringen, ohne daß es Mademoiselle Adele bemerkte. Ein Vorwand, diese zu entfernen, war aber bald gefunden. Georg hatte in seiner Stube einige alte Kupferwerke, die dem Grafen Geyerstein gehörten, und die er deshalb sorgfältig hütete. Josefine durfte die Bilder nicht besehen, wenn er nicht selber dabei war. Heute erlaubte Georgine dem Kinde, hinüberzugehen und sich die Kupferstiche zu betrachten, bat aber die Gouvernante, dabei zu bleiben, daß ja nichts mit den Büchern geschehe und die Erlaubnis nicht mißbraucht werde. Adele wandte allerdings ein, der Herr Baron würde es vielleicht nicht gern sehen und böse werden, wenn er es erführe; Madame dagegen erklärte, die Verantwortung allein auf sich nehmen zu wollen, und die Erzieherin konnte sich natürlich nicht länger weigern, dem Befehle zu gehorchen.

Die Zeit, die beide dort verbrachten, genügte vollkommen. Georgine packte alles Nötige in zwei große Fußsäcke und schrieb dann die letzten Zeilen an Georg. Der Brief war kurz und inhaltschwer; aber mit sich im reinen, grübelte sie nicht lange über die Fassung. Die Zeilen flogen auf das Papier, dann faltete sie das Blatt zusammen, überschrieb und siegelte es und legte es, als Adele und Josefine Georgs Zimmer wieder verlassen hatten, auf ihres Mannes Schreibtisch.

Nach dem Mittagessen ging sie noch mit der Wirtschafterin durch die Gebäude und ordnete einiges an, dann zu der Erzieherin auf die Stube und bat diese, Josefinen warm anzuziehen, da sie ein Stündchen mit ihr im Schlitten fahren wolle. Das war den Winter schon einigemal geschehen und konnte deshalb keinen Verdacht erregen. Josefine selber freute sich auch darauf, und mit dem Schlage drei Uhr hielt der eine Knecht, der den Auftrag dazu bekommen, mit dem kleinen leichten, mit Georginens eigenem Pferd bespannten Schlitten vor der Tür. Georgine trug selber den einen Fußsack hinunter und ließ den andern dann, während sie das Pferd hielt, von dem Knechte nachholen. Adele war noch beschäftigt, Josefinen recht warm einzuhüllen, und wenige Minuten später klingelte das muntere Tier mit seiner leichten Last lustig zum Tore hinaus und auf der glatten Straße hin, dem Walde zu.

Unten im Dorfe läutete die Glocke zu dem Begräbnis des alten Tobias, dem die Wirtschafterin und der alte Verwalter pflichtschuldigst beiwohnten, und nach dem Begräbnis gingen die Leute ins Wirtshaus, tranken noch ihr Glas und sprachen über den Verunglückten und die Art seines Todes.

Von Schildheim aus schritt Herr von Silberglanz, fest in seinen Paletot eingepackt und ein Paar Pelzstiefel, wie sein kleines Täschchen unter dem einen, seinen großen Pelz über dem andern Arm, einen schmalen Fußpfad entlang gerade dem Walde zu, das ihm bestimmte Rendezvous richtig und pünktlich einzuhalten.

Es war ein wundervoller Tag, der Schnee glitzerte und funkelte in dem kalten Sonnenlicht, und der hellblaue Himmel war von einem leisen Dunsthauche nur eben matt überzogen. Das muntere Pferd, mit dem leichten Schlitten hinter sich, das überdies jetzt lange im Stalle gestanden hatte, griff auch tüchtig aus, und die Kufen glitten blitzesschnell über den hartgefrorenen, knisternden Schnee.

»Freut es dich, Josefine,« fragte Georgine, als sie den Waldessaum erreichten, »so mit mir durch die Welt zu fahren?«

»Ach sehr, Mama, sehr,« rief das Kind, »es ist gar so wunderhübsch. Wäre nur Mademoiselle Adele bei uns?«

»Und möchtest du lange, recht lange so mit mir fahren? weit, weit hinweg von hier?«

»Wenn Papa und Mademoiselle Adele mitführen, gewiß – und wenn wir wieder hierher zurückkämen.«

»Und wenn wir nun wieder hinausführen in die Welt?« sagte die Frau, der diese Worte einen Stich durch das Herz gaben, »wenn wir nun wieder draußen lustig unsere Pferde bestiegen und in Glanz und Lichterpracht dahinflögen?«

Josefine schüttelte das Köpfchen. »Zu Hause ist's hübscher,« sagte sie, »und ich habe schon beinahe vergessen, wie es früher war.«

»Zu Hause ist's hübscher?« wiederholte Georgine, »ei, ei, Josefine, hast du ganz vergessen, wie stolz wir früher auf dich waren, wie reizend du auf dem Pferde aussahst, und wie geschickt du deine Sachen machtest?«

»Ja – aber ich mußt jetzt lernen, viel lernen, daß ich einmal eine wackere, brave Frau werden kann,« sagte das Kind, »ich muß auch dem lieben Gott dankbar sein, daß er mir eine Heimat und Eltern gegeben hat, die für meine Erziehung sorgen. Die armen kleinen Mädchen, die da draußen auf den Pferden tanzen und springen müssen, haben es doch lange nicht so gut wie ich.«

»Wer, um Gottes willen,« rief Georgine erstaunt, »hat dir die albernen Dinge in den Kopf gesetzt?«

»Alberne Dinge, Mama?« sagte Josefine erschreckt, »ich habe eine hübsche Geschichte von einer armen Marie gelesen, und Mademoiselle Adele hat sie mir erklärt, und jetzt freue ich mich so darauf, daß mir Papa eine andere liebe Marie mitbringen will, mit der ich spielen und tüchtig lernen kann.«

»Und so sehnst du dich gar nicht wieder zu dem früheren Leben zurück, und wenn du auch ein eigenes kleines Pferd bekämest?«

»Nein, Mama,« sagte Josefine rasch, »ich will bei dir, bei Papa und Mademoiselle Adele bleiben und mit Marie recht, recht fleißig lernen. Du sollst sehen, ich werde einmal ein recht gutes, braves Mädchen.«

Georgine erwiderte nichts, aber sie preßte die Lippen fest zusammen, und ihr Gaul fühlte die Peitsche, daß er in toller Flucht den Weg entlang stob.

Georgine kannte die Waldwege genau, und links abbiegend wußte sie, daß sie das Forsthaus umfahren konnte, um die bezeichnete Eiche zu erreichen. Außerdem glaubte sie kaum jemanden heute im Walde zu treffen, denn bei dem Begräbnis einer so allbekannten Persönlichkeit wie der »faule Tobias«, von dem ihr die alte Wirtschafterin gestern abend noch viel erzählt hatte, litt schon die Neugierde die Leute nicht zu Hause. Begegnete sie aber auch wirklich einem oder dem andern der Forstleute oder Holzmacher, so rechtfertigte das schöne Wetter vollständig eine Spazierfahrt, und niemand hätte an etwas anderes denken können.

Georgine bog aufs neue in die vom Forsthaus nach der sogenannten »Zaubereiche« führende Straße ein. Hier war wieder Bahn, da einzelne Holzschlitten hin und her gefahren sein mußten. Dort vor ihr lag der ziemlich freie, lichte Platz, an dem die alte, ehrwürdige Eiche stand. Dort sah sie auch die dunkle Gestalt eines Mannes, und kaum eine Minute später zügelte sie ihr schnaubendes Roß neben der Stelle ein – aber Herr von Silberglanz war nicht da.

Neben der Eiche, auf einer hölzernen Bank, von der er den Schnee hinweg gekehrt, neben ein paar roh behauenen, mächtigen Steinblöcken, die der Volksmund als den Opferaltar der hier früher hausenden Heiden bezeichnete, saß der alte Forstwart Barthold und stand ehrerbietig grüßend auf, als er die »Frau Baronin« erkannte.

»Guten Tag, Forstwart,« sagte die Dame und nickte ihm zu, während ihr Blick ungeduldig den schmalen Pfad hinabflog, auf dem sie den hierher bestellten Herrn von Silberglanz erwarten mußte. »Wie geht's? – was habt Ihr da?«

»Einen Fuchs, gnädige Frau,« sagte der alte Mann, indem er seinen Ranzen öffnete, aus dem die Lunte des überlisteten Raubtieres heraushing. »Ich habe ihn heute morgen ausgegraben, denn das ist böses, nichtsnutziges Raubzeug, das im Winter wie im Sommer nur in einem fort zusieht, wo es was zu stehlen findet. Wir haben unter den Menschen auch solch Gesindel, nur daß man sie nicht immer gleich am Pelz draußen so gut erkennen kann wie die da.«

»Seid Ihr schon lange hier, Forstwart?«

»Nein, gnädige Frau – etwa eine Viertelstunde.«

»Ihr seid nicht vom Dorfe heraufgekommen?«

»Nein – gerade von der andern Seite aus dem Walde. Nur als ich die Glocke unten hörte, die dem alten Tobias das Geleite zur letzten Ruhestätte gibt, da setzte ich mich hier auf die Bank und horchte den Tönen. Es klingt ja so heilig und erhebend, wenn man die Glocken kann im Walde anschlagen hören, noch dazu von einem solchen Platze aus wie dieser, wo sie in früheren Jahrhunderten ihren Götzen Opfer schlachteten und von dem lieben Herrgott da oben nichts wissen wollten. Sonntag morgens bin ich fast immer hier, besonders im Sommer, und mit dem Geläute unten, dem Singen der Vögel und dem Rauschen des Waldes müßte das ein verstockter Mensch sein, der da nicht von Herzen beten könnte.«

Georgine hörte kaum, daß er sprach. Ihr Blick schweifte unruhig über ihn hin und an den Stämmen bei Bäume vorüber. Wenn er sein Wort nicht hielte! dachte sie mehr, als daß sie es durch die halb geöffneten Lippen murmelte, und fast unwillkürlich ballte sich die Rechte zornig um die gehaltenen Zügel. Das Pferd scharrte indessen ungeduldig den Schnee und blies den Dampf aus seinen feinen Nüstern in die klare Luft hinein.

»Aber, Mama,« sagte Josefine, »du hältst so lange still. Wird es deinem Fingal nicht schaden?«

Der alte Forstwart, der seinen Blick schon lange ernst und aufmerksam auf der Kleinen hatte haften lassen, lächelte, als er die Worte hörte.

»Sieh, wie besorgt das kleine gnädige Fräulein schon um das arme Tier ist! Das ist recht; das zeigt ein gutes Herz, und was wir an dem geringsten seiner Geschöpfe tun, wird uns der Herr da oben auch wieder zugute halten.«

»Fahren wir jetzt wieder nach Hause zurück, Mama?« fragte die Kleine, als Georgine den Schlitten langsam um die Eiche lenkte, das in der Tat warm gewordene Tier etwas in Bewegung zu halten.

»Nein,« sagte die Frau, »wir besuchen vielleicht einmal den Storchhof oder Kleinmarkstetten.«

»So weit?«

Der Schlitten hielt wieder neben dem Forstwart – Georgine zerbrach sich den Kopf, wie sie den lästigen Menschen entfernen könnte.

»Tätet Ihr mir einen Gefallen, Forstwart?«

»Mit dem größten Vergnügen, gnädige Frau.«

»Ginget Ihr wohl einmal jetzt – oder schicktet gleich, wenn Ihr nicht selber gehen könnt, irgendeinen der Holzmacher auf das Gut hinüber, dort zu bestellen, daß ich möglicherweise mit meiner Tochter nach Kleinmarkstetten hinüber gefahren wäre und in dem Falle die Nacht nicht nach Hause käme, denn die Tour wäre für mein Pferd hin und zurück zu groß. Sie möchten sich also nicht ängstigen.«

»Sehr wohl, gnädige Frau – soll pünktlich besorgt werden,« sagte der Forstwart, ohne sich jedoch von der Stelle zu rühren.

»Nun? – ist noch etwas?«

»Hm – gnädige Frau – Sie lachen mich vielleicht aus, und – ich bin auch wohl ein alter Tor – aber – ich hätte auch eine Bitte an Sie – oder vielmehr an das kleine gnädige Fräulein.«

»An mich?« sagte Josefine erstaunt.

»Ja,« sagte der alte Mann, und sein gutmütiges, faltiges Gesicht rötete sich leicht, »es ist nicht viel,« setzte er aber rasch hinzu, »nur bitten möchte ich Sie, mir ein einzig kleines Mal – die Hand zu geben.«

»Gern!« rief das fröhliche Mädchen, indem sie ihre Hand aus dem Muff zog und dem Alten reichte.

Der alte Forstwart nahm sie, sah dabei dem Kinde recht treuherzig in die Augen, und das kleine Händchen dann an die Lippen drückend, sagte er freundlich: »Dank, mein kleines gnädiges Fräulein, Dank, tausend Dank, aber Sie glauben gar nicht, gnädige Frau, wie wohl der Anblick dieses jugendfrischen Gesichtchens mit den großen, hellen Augen meinem alten Herzen tut. Es erinnert mich an die Zeit, wo die beiden jungen Herren Grafen hier bei uns wohnten, und aus den Augen da ist es mir immer, als ob der jüngste der beiden, das liebe, herzige Kind, herausschauen wollte. Ich habe den kleinen Burschen damals zu lieb gewonnen, ihn je wieder vergessen zu können.«

»Welcher beider junger Grafen?« sagte Georgine, die damit das Gespräch abzubrechen wünschte.

»Der jungen Grafen Geyerstein.«

»Der beiden jungen Grafen? hat Geyerstein noch einen Bruder?« fragte Georgine in dem Interesse, das sie plötzlich an der Sache nahm.

»Allerdings,« erwiderte der alte Mann, »einen jüngeren Bruder, und die beiden jungen gnädigen Herren waren als Kinder hier. Der jüngste von ihnen aber . . .«

»Wie hieß der?«

»Georg.«

»Georg?«

»Ja, gnädige Frau – der jüngste von ihnen kam aber nie wieder zurück – er soll draußen in der Fremde gestorben sein,« setzte er mit einem schmerzlichen Seufzer hinzu, »und das Kind da, wie es mich so lieb und mitleidig ansieht, gemahnt mich immer, als ob ich den jungen, lieben gnädigen Herrn wieder vor mir sähe. Es ist freilich eine lange Zeit her, und ich bin alt – recht alt seither geworden. – Aber ich schwatze hier und schwatze, wo ich den Befehl Ew. Gnaden ausführen sollte. Gott schütze das liebe, kleine Haupt und streue ihm nur Blumen auf den Weg, gebe ihm Gesundheit, ein langes Leben und ein glückliches Alter mit seinem besten Segen!« Und eine tiefe Verbeugung machend, trat der alte Mann von dem Schlitten zurück, nahm dann seinen Ranzen wieder auf, sowie sein Gewehr und schritt langsam der Richtung nach dem Gute zu.

»Sein Bruder!« flüsterte Georgine leise und erschreckt vor sich hin, »sein Bruder – und das mir ein Geheimnis, mir, der Gattin – hätte ich das ahnen können – und wenn ich nun – zu spät!« stöhnte sie dann, ihr umherschweifender Blick fiel in dem Moment auf die Gestalt des Herrn von Silberglanz, der, unter seiner Pelzlast keuchend, im Schnee herangewatet kam. Er schaute aber nicht nach ihr hin, sondern den Weg zurück, und als sie den Kopf dahin wandte, bemerkte sie noch den alten Forstwart, der den Fremden gesehen hatte und jedenfalls abwarten wollte, was er hier suche, solange die gnädige Frau noch da hielt.

»Meine beste gnädige Frau!« rief das zierliche, im Schnee watende Männchen endlich, als er näher kam, »ich muß unendlich bedauern, wenn Sie auch nur eine Sekunde auf mich gewartet haben, aber der Schnee war« – sein Blick fiel auf Josefine, und er blieb mitten in seiner Rede stecken – »Ihre – Ihre Fräulein Tochter?«

»Nun?« sagte Georgine kalt.

»Diese – diese Überraschung . . .«

»Wünschen Sie noch uns zu begleiten?«

»Aber, gnädige Frau, welche Frage!« rief Herr von Silberglanz erschreckt.

»Sie werden dann hintenaufstehen müssen.«

»Erlauben Sie mir nur, daß ich meine Pelzstiefel geschwind anziehe. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, das war ein Schnee hier herauf, daß ich beinahe stecken geblieben wäre.«

»Im Pfad?«

»Ich – verfehlte den Weg. Glücklicherweise fand ich einen biedern Holzfäller oder Köhler oder was er sonst ist, der mich wieder zurechtwies,« sagte der Baron, der sich an der Holzbank den Schnee von dem dünnen Schuhwerk schlug und in aller Hast seine Pelzstiefel anzulegen suchte, »an dem Pelz hier habe ich mich beinahe totgeschleppt,« fuhr er dabei fort, »ich bin durch und durch echauffiert!«

»Sie werden Zeit haben sich abzukühlen.«

»Das fürch – ja – ja, gewiß – aber der Pelz hier hält mich warm. Wer ist übrigens jener alte Förster? – Der scheint an dieser Stelle permanent Schildwache zu stehen, denn gestern fand ich ihn ebenfalls hier.«

»Der Forstwart,« sagte Georgine und drehte den Kopf nach ihm um. Der alte Barthold aber, der jetzt gesehen hatte, daß der Herr ein Bekannter der gnädigen Frau war, wandte sich langsam wieder und verfolgte seinen Weg. Herr von Silberglanz fuhr in seinen Pelz.

»Sind Sie fertig?«

»Vollständig – aber wollen Sie mir nicht gestatten, die Zügel zu nehmen?«

»Ich fahre selber – geben Sie mir Ihre Tasche in den Schlitten.«

»Geht der Herr mit uns, Mama?« fragte Josefine.

»Ja, mein Kind!« Sie drehte halb den Kopf, der Baron war auf die Pritsche gestiegen und setzte sich zurecht. »Komm, Fingal!« Sie schnalzte leise mit der Zunge, und das Pferd, das ungeduldig diesen Augenblick erwartet hatte, flog, aufwiehernd, die schmale, glatte Bahn dahin durch den Wald.

 


 << zurück weiter >>