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Als Amanda in den Bungalow trat, umfing sie die eigentümliche Stille des indischen Hauses, die ihr noch immer wieder aufs neue auffiel: – die Stille eines Hauses, wo die ganze Bedienung von außen besorgt wird. Deutlich konnte sie in dieser Stille vom anderen Ende des Korridors die Stimmen ihres Vaters und Kala Ramas vernehmen. Die beiden Männer waren offenbar in eine ernste, wahrscheinlich wissenschaftliche Unterhaltung vertieft. Zwar wußte sie, daß sie eine willkommene Zuhörerin sein würde; aber nach dieser etwas erregenden Begegnung mit der »Zierde des Palastes« spürte sie das dringende Bedürfnis, mit ihren aufgescheuchten Gedanken und aufgewühlten Gefühlen allein zu sein.
Freilich hatte sie eine Botschaft von Edmund an den Minister, wenn sie aber die Tür ihres Zimmers angelehnt stehen ließe, konnte Kala Rama nicht weggehen, ohne daß sie – bei der Stille des Hauses – es hören mußte.
Sie öffnete also die Tür gegenüber der Studierstube und trat in ihr eigenes hübsches Zimmer. Hier setzte sie sich an das Fenster und blickte über Garten und See hinüber nach dem Rajapalast, der, auf dem roten Felsen thronend, in blanken Streifen wie mit Pfeilern von polierter Bronze, durch Purpurschatten getrennt, dem Baldachin der rosigen, goldgefransten Abendwölkchen entgegenstieg. Drei Monate lang hatte Amanda Abend für Abend so an diesem Fenster gesessen, in diesen Anblick verloren, und noch immer bezauberte er sie mit derselben Macht des Neuen und Fremdartigen. Nie hatte sie recht gewußt, ob verheißend oder drohend.
Heute wußte sie es.
Sie hatte zu ihrem Vater gesagt, es sei ihr, als ob abends der Palast reden wollte – singen und sagen von allem, was er in alten heroischen Zeiten erlebt hatte. Jetzt sprach er zu ihr. Aber nicht davon: – es jauchzte von den Türmen, es rief von den Zinnen, flüsterte von den Pavillons und Erkern, Worte liefen die Terrassen entlang, eilten die Treppen hinunter, um sie zu erreichen – nur wenige Worte, aber welche Welt von Schmerz enthielten sie: –
Hier lebt die, die er liebt.
Ob wohl auch aus einem Erkerfenster drüben durch das Schnitzwerk der Marmorplatte ein Augenpaar nach dem Bungalow blickte:–
Dort lebt der, den ich liebe.
Sie kannte dies Augenpaar: unter der schweren, gewellten Brauenlinie schwebte es dort vor ihr; und der Blick dieser großen schwarzen Pupillen durchschauerte sie wieder mit jenem unbezwingbaren, fast unsinnigen Abscheu.
War es denn wirklich möglich, daß Edmund mit den Fesseln der Liebe an dieses Geschöpf gebunden war? Die Rani war schön – auf ihre Weise, die nicht die Amandas war. Und war vielleicht gerade dieser Stil bestrickend für einen Mann, der selbst das Blut dieser Rasse in seinen Adern hatte?
Aber war es nicht auch möglich, daß sie sich täuschte? daß sie schon für ausgemacht hielt, was nur eine wahrscheinliche Erklärung war? Könnte eine tödliche Feindschaft zwischen dem Rajputen und dem Engländer nicht auch einen anderen Grund haben? etwa eine politische Intrige? Das war eine Hoffnung, und sie klammerte sich daran, während ihr Blick furchtsam den Erker drüben wieder aufsuchte, hinter dessen Gitter sie jenes feindliche Augenpaar mit dem saugenden Nachtblick vermutete.
Der Erker aber war kaum mehr zu entdecken. Der ganze Bau schien eine glühende Kohle zu sein, und über ihm waren am Himmel alle rosigen Töne erloschen; nur Scharlach und Orange flammten mit der Reinheit und Leuchtkraft prismatischer Farben – –
Und Amanda gedachte eines anderen Sonnenunterganges: auch ein Schloß, in den letzten Sonnenstrahlen glühend und sich gegen einen strahlenden Abendhimmel erhebend – gedachte jenes Abends, da all das seinen Anfang genommen hatte, das jetzt so weit geführt hatte und unaufhaltsam, Gott weiß zu welchem Ziele, weiter strebte...
Es war fast ein Jahr her – in Heidelberg, wo sie sich seit einigen Monaten aufhielten, weil ihr Vater dort eine Professur antreten sollte. Sie saß am offenen Fenster und sah über den Neckar nach Stadt und Schloß hinüber. Ein wunderherrliches Abendbild, alles lieblich, duftig und einschmeichelnd, wenn auch ein wenig matt im Vergleich mit diesen starrenden metallischen Glutfarben des Orients, die sich in das Gehirn einbrennen. Damals freilich glaubte sie, daß es nirgends ein prachtvolleres Abendbild geben könne, als dasjenige, das sie gerade vor Augen hatte. Draußen im Garten deckten gelbe Kastanienblätter den Rasen, und ein würziger Geruch gleich dem eines feinen Curry strömte herein und mischte sich mit dem milden, warmen Duft einiger weinroter Rosen, die in einem hohen Glase vor ihr auf dem Nähtisch standen. Diese Rosen hatte ihr ein Student geschenkt, und zu ihnen gehörte als Begleiter ein kleines Gedicht, das zwar nicht von Liebe sprach, aber so beredt davon schwieg, wie der Anstand es erlaubt, wenn die Dinge noch nicht für eine förmliche Erklärung reif sind. Die Verse waren sehr hübsch, und so war er, der sie geschrieben hatte. Und Amanda erwog in ihrem achtzehnjährigen Herzen, ob dies nun die Liebe sei, und ob sie, wenn er ihr eines Tags seine Hand anböte, diese für Leben und Tod ergreifen dürfe. Dabei pochte dies Herz mit einer süßen Unruhe, die für eine Bejahung der Frage zu sprechen schien. Da trat ihr Vater herein, einen offenen Brief in der Hand.
– Amanda, was meinst du davon, nach Indien zu gehen?
Nach Indien! Der Name war ihr kein so leeres Geographikum wie den meisten jungen deutschen Mädchen, denn ihr Vater pflegte mit ihr über alles zu reden, womit er sich beschäftigte; – hatte sie doch sogar angefangen, das Sanskritalphabet zu studieren, um ihm nach und nach vielleicht behilflich sein zu können. Aber Indien war sicher fern von allem, woran sie gewohnt war; sehr fern besonders von dem jungen Mann mit Rosen und Versen!
Ihr Vater rückte einen Stuhl nahe an sie heran und fing an, ihr alles auseinanderzusetzen. Der Brief war von dem Minister Kala Rama – sie kenne doch Kala Rama – ?
O, ob sie Kala Rama kenne! Von den Ministern ihres eigenen Vaterlandes wußte sie nichts, aber von diesem Minister eines nordindischen Kleinstaates und seinen Verdiensten hatte ihr der Vater ja immer wieder erzählt. Kala Rama also hatte dem Vater geschrieben, daß es sowohl in seinem eigenen Lande wie in den benachbarten Gegenden einige Felseninschriften gäbe, die er zu rechter Zeit festgestellt und gedeutet haben möchte. Zu diesem Zweck, wie auch um die große Manuskriptsammlung, die er selber angelegt hatte, zu ordnen und zu verwerten und teilweise sogar der abendländischen Gelehrtenwelt zugänglich zu machen, wäre es ihm sehr erwünscht, wenn Professor Eichstädt sich auf einige Jahre bei ihm niederlassen wollte. Für den Fall, daß er willens wäre, dies zu tun, sei gerade jetzt eine sehr günstige Reisegelegenheit gegeben. Denn ein junger Engländer, Sir Edmund Trevelyan, stände im Begriff, sich nach Indien zu begeben, und zwar gerade nach diesem Ländchen, zu welchem er in der Tat intime Beziehungen hätte, insofern als er der Enkel einer von dort herstammenden BegumBegum: Indische Prinzessin. sei, die dem fremdländischen Zauber eines englischen Obersten nicht hatte widerstehen können. Er sei der jüngere Sohn einer guten alten Cornwallischen Familie, und habe noch nicht die Vierziger erreicht, obwohl er schon ein sehr abenteuerliches Leben hinter sich hätte. In den letzten Lebensjahren Lord Byrons sei er dessen steter Begleiter gewesen. Sir Trevelyan würde mit einer Brigg segeln, die in Southampton läge, und die sie gerade noch zu rechter Zeit erreichen könnten.
Amanda sah wohl, daß ihr Vater schon mit Leib und Seele unterwegs nach Indien sei, und mit einem stillen Seufzer, der dem jungen Rosen- und Versespender galt, versicherte sie ihm, daß sie sich nichts Herrlicheres denken könnte, als mit ihm in dem alten heiligen Vedalande zu verweilen.
Als sie etwa einen Monat später Southampton erreichten, wartete die Brigg nur noch auf günstigen Wind. Professor Eichstädt machte sofort Sir Trevelyan einen Besuch in seinem Hotel; – ein interessant aussehender Mann von freiem, aber gewinnendem Wesen, meldete er. Schon am nächsten Tage waren sie unter Segel, und die Sonne rollte wie eine feurige Kugel auf der Kimmung, als sie die weiße Küste Albions »über der Bläue des Wassers erbleichen« sahen. Amanda hatte so ziemlich erwartet, daß bei dieser Gelegenheit der Freund Lord Byrons auf dem Achterdeck stehen und Childe Harolds »Gute Nacht« rezitieren würde. Aber nichts dergleichen geschah. Sir Trevelyan mußte auf irgendeine Weise an Bord gekommen sein, ließ sich aber gar nicht sehen. Und so ging es Tag für Tag, Woche für Woche; er blieb unsichtbar. Amanda fühlte sich wohl ein klein wenig enttäuscht, aber lange nicht so sehr wie die englischen Ladies der kleinen Passagiergesellschaft; obwohl er doch sie mehr anging als jene, die nicht wie Amanda in einer kleinen Hindustadt unter einem Dach mit ihm leben sollten, und die nur durch die vagen Gerüchte über sein abenteuerliches Treiben und seine Freundschaft mit Lord Byron ein illegitimes Interesse an seiner Person hatten.
Sie waren auf der Höhe der Kanarischen Inseln, als Amanda an einem stürmischen Abend sich auf das Verdeck hinaufwagte. Seit mehreren Tagen war das Wetter so schlecht gewesen, daß sie in ihrer eigenen Kabine sich hatte aufhalten müssen; jetzt hielt sie es aber nicht mehr aus. Durch die rätselhaften, scheinbar so launenhaften Schicksalsfügungen, welche die Gesetze der Seekrankheit wie so viele andere ordnen, war dieses Mädchen, obwohl aus Familien stammend, die seit unvordenklichen Zeiten das Salzwasser nicht gerochen hatten, gänzlich von dieser Plage verschont geblieben, während die anderen Passagiere durch ihren würgenden Griff auf dem Lager festgehalten wurden. So war sie denn allein auf dem Achterdeck; zufällig befand sich kein Offizier in der Nähe, denn sonst wäre ihr der Aufenthalt dort kaum gestattet worden.
Es war einer der ersten tropischen Sonnenuntergänge, die sie zu sehen bekam, und der erste durch unruhiges Wetter gesteigerte, dessen Anblick sie genoß; zum erstenmal auch sah sie den Atlantischen Ozean seine ganze Majestät offenbaren.
Die Pracht und Größe des Schauspiels überwältigte sie zunächst völlig; dann aber gab sie sich mit dem ganzen Enthusiasmus einer jungen, reinen Seele diesen mächtigen Eindrücken hin.
Der Wolkenberg, in dessen Gipfel die Sonne versank, schien ein ungeheurer Vulkan zu sein, aus dessen Krater gigantische Feuergarben hervorbrachen und den ganzen Himmelsraum durchflammten, um die Wolken in Brand zu setzen, während glühende Lavaströme in das Meer hinunterstürzten. Wie mit goldigem Gebüsch gekrönt, erhoben sich die schäumenden Wellenhügel; Blut floß in ihren Tälern, alle erdenklichen Purpurtöne dämmerten in ihren Höhlen.
Amanda jauchzte und klatschte in die Hand wie ein Kind, jedesmal, wenn der Schaum am Bug der Brigg wie eine glänzende Kaskade emporspritzte und wie Regenbogenflammen vorüberfegte.
Sie hörte die Stufen der Treppe, die sich wenige Schritte hinter ihr befand, leise knarren und wollte hinsehen, ob jemand käme, ihre schöne Einsamkeit zu stören, als ihr Blick unwillkürlich in die entgegengesetzte Richtung gezogen wurde. Da starrte sie in eine durchsichtige smaragdene Wand hinein, von so leuchtender Schönheit, daß sie, jeden Schrecken vergessend, unwillkürlich die Arme gegen sie ausbreitete. Sofort schien sie sich mitten im Ozean, aber zugleich in einer kräftigen menschlichen Umarmung zu befinden.
Nach einer kurzen Weile, die sie aber eine kleine Ewigkeit dünkte, ließ das Meer sie frei, die Umarmung aber nicht. Sie war zu geblendet und zu erschüttert, um irgend etwas zu sehen. Nur Purpurflammen tanzten vor ihren Augen, aber sie hörte über ihrem Kopfe eine klangvolle Stimme lachen: –
– Ei, was ist denn das für ein mutiges Dämchen, das dem Wellenspiel hier applaudiert und den ganzen Atlantischen Ozean umarmen möchte? Nein, bleiben Sie lieber in der Umarmung eines alten Seemanns, das ist besser. Aha, noch eine ...
Diesmal war es keine massive Welle, sondern eine mächtige Schaumkaskade, die ihr den Nacken und die Wangen peitschte und auf dem Deck und dem Glas des Oberlichtes neben ihnen laut klatschte.
– Sie haben sie mehr vom Wind weggedreht; nächstes Mal wird es wieder eine Welle geben, Sie können nicht hier bleiben.
Amanda, die sich ein wenig losgemacht hatte, versuchte einige Schritte zu machen, taumelte aber hilflos gegen das Geländer der Treppe.
– Nein, nein, so geht das nicht. Erlauben Sie – Sie fühlte sich in die Höhe gehoben und die Kampanjetreppe hinuntergetragen. Einen Augenblick danach saß sie wohlbehalten auf dem Sofa im Salon. Vor ihr stand ein hochgewachsener Mann, dessen Mantel in schweren, nassen Falten um ihn hing. Unter der schottischen Mütze ringelte das schwarze Haar, glänzend von Schaumtropfen, sich auf die Schulter hinunter. Seine großen orientalischen Augen lachten ebenso sichtbar wie die vollen Lippen um die blendend weißen Zähne – das ganze dunkle, fast maurisch anmutende Gesicht strahlte seltsam von einer wilden und doch ganz jovialen Heiterkeit.
– Aber ich sollte mich Ihnen wohl eigentlich vorstellen: Edmund Trevelyan, dessen Name Ihnen nicht unbekannt sein dürfte.
Amanda wollte nun ihrerseits die Präsentation vollziehen, aber es kostete ihr Mühe, die Lippen zu bewegen.
Sir Trevelyan bemerkte das.
– Nicht nötig – schonen Sie sich! O ich weiß, die kleine Binnenländerin, in Salonsprache: Miß Amanda Eichstädt. So, nun ist die gesellschaftliche Zeremonie erledigt. Ich denke, wir werden uns noch unter ruhigeren Umständen näher kennen lernen.
Er hatte geklingelt, und das Kabinenmädchen trat jetzt herein. – Fräulein, bringen Sie Miß Eichstädt zu Bett. Sie ist ein bißchen zu nahe in Berührung mit dem Atlantischen Ozean gekommen. Decken Sie sie vor allem gut zu, – eine Tasse starken Tees ist das Richtige, und ich würde bei dieser Gelegenheit empfehlen, ein paar Teelöffel von gutem Jamaika-Rum hineinzutun. Gute Nacht, Miß Eichstädt! –
Die so geknüpfte Bekanntschaft wurde vorläufig nicht weiter gepflegt. Sir Trevelyan ließ sich noch immer fast so wenig sehen wie im Anfange, wiewohl doch schließlich alle die englischen Misses – die nicht ohne Neid von dem Kabinenmädchen soviel, wie dieses von dem Abenteuer des deutschen Fräuleins wußte, erfahren hatten – nach und nach ihre Neugierde befriedigen konnten.
Amanda brachte einen großen Teil des Tages auf dem Verdeck zu; sie konnte sich an den Seewundern der Tropen nicht satt sehen. Stundenlang beobachtete sie die Flugfische, die sich in großen Schwärmen aus den Fluten erhoben und in schimmerndem Flug viele hundert Fuß durch die Luft schossen, bevor sie wieder in ihrem nassen Element Zuflucht suchten. In stillem Wetter entzückte sie besonders der Anblick des »Portugiesischen Kriegsschiffes«, einer allerliebsten kleinen Meduse, die durch die glasige Tiefe bis zur Oberfläche aufstieg und ihre zarten Segel, in dessen durchsichtigen Falten sich Rosa, Orange und Hellblau mischten, vor der leisen Brise ausspannte, um mit erstaunlicher Schnelligkeit über die gekräuselte Meeresfläche hinzugleiten.
Vor allem aber mochte sie keinen Sonnenuntergang versäumen. Es war ein solcher, der die zweite Begegnung, etwa vierzehn Tage nach der ersten, herbeiführte, und zwar unter noch romantischeren, der Erscheinung und dem Ruf ihres neuen Bekannten noch angemesseneren Umständen.
Und jetzt, während sie nach dem Rajapalast hinüberblickte, dessen Glut sich stetig vertiefte und schon hier und da wie von schwärzlichen Schlacken überzogen wurde – jetzt drängte die Erinnerung an jene zweite Begegnung sich ihr lebhafter denn jemals auf.
Unwillkürlich nahm sie ihr Tagebuch zur Hand, das immer auf ihrem kleinen Arbeitstische am Fenster lag. Sie hatte gerade an jenem Nachmittage fleißig darin von fliegenden Fischen, farbenschillernden Medusen und anderen Meerwundern geschrieben, und eine heftige Erregung bemächtigte sich ihrer jetzt, als sie in dem Heft blätterte und zu den Worten kam, bei welchen sie damals die Feder von sich gelegt hatte, weil es die höchste Zeit sei, ihre enge Kabine zu verlassen, wenn sie des Sonnenunterganges nicht verlustig gehen wollte.
Die letzte Nacht war ziemlich stürmisch gewesen, und die See ging noch hohl. So wunderte sie sich nicht sehr, kein weibliches Wesen oben zu finden. Hingegen schien fast alles, was von den Passagieren männlichen Geschlechtes war, »seine Seebeine gefunden zu haben«. Sie hatten sich auf dem Achterdeck versammelt, aber offenbar nicht um den Sonnenuntergang zu bewundern. Vielmehr kehrten sie achtlos ihren Rücken dem strahlenden Westen zu, wo die Sonne, von leichtem Gewölk umschwebt, sich in ihrer vollsten Pracht schnell der Kimmung zusenkte. Ihr ganzer blendender Lichtstrom beleuchtete den Gegenstand, auf den sich jeder Blick gerichtet hatte.
Es war dies ein Schiff, das in schräger Richtung auf sie lossteuerte und sich kaum noch eine halbe Seemeile luvwärts befand. Seine großen, von der frischen Brise vollgeblähten Segel leuchteten in brennendem Orange, goldige Kaskaden spritzten fortwährend empor am Bug, der wie blankes Metall glänzte, und über die purpurne Flut ergoß sich der Spiegelglanz dieser feurigen Erscheinung bis zur Brigg, als ob der fremde Segler, in seinem Eifer diese zu erreichen, sein Bild vorausschickte.
Der Anblick hatte etwas eigentümlich Faszinierendes.
Amanda war noch darin versunken, als eine wohlbekannte Stimme sie weckte.
– Was? das kleine »Fräulein« hier? – Sie scheinen mir einen Trick zu haben, hier oben zu sein, wenn alles Weibliche sich unten befinden sollte.
– Nun heute ist das Wetter doch nicht so schlimm; an das bißchen Rollen hab' ich mich schon gewöhnt. Was ist denn das für ein Schiff?
– Ein Schoner. – Ist es vielleicht das Schiff, das wir in den letzten Tagen immer nach Osten zu wie ein Fleck am Horizonte sahen?
Oho! lachte Sir Edmund; Sie halten Ihre Laternen geputzt, scheint es! Ja, ja – sie sind klar genug. Gewiß, es ist das Schiff, darauf können Sie sich verlassen – und ein guter Segler dazu.
– Nicht wahr! wie er so über die Wellen hintanzt, es ist eine wahre Freude zu sehen.
– Freilich. Aber die besten Tänzer sind nicht immer die besten Leute – eine allgemeine Wahrheit, die Sie auch auf der See bestätigt finden werden, zumal unter diesen Breitegraden. Und da Sie nun schon seinen Tanz bewundert haben, möchte ich Ihnen doch raten, sich lieber hinunter zu begeben.
Hier wurde er vom Kapitän unterbrochen:
– Nun, Sir Trevelyan, was halten Sie von ihr (womit er offenbar nicht Amanda, sondern das Schiff meinte). – Kein Mann an Bord hat ein besseres Urteil darüber.
– Sehr geschmeichelt, Kapitän. Meine unmaßgebliche Meinung ist: klar zum Gefecht.
– Möge ich nie mehr einen Tropfen Grog schmecken, ob sie nicht mit der meinigen übereinstimmt.
Er ließ sofort die Mannschaft auf dem Deck zusammenpfeifen und hielt vom Achterdeck aus eine kurze Ansprache über das altbewährte Thema des Nimmer-Sklaven-Werden-Könnens der Briten, die mit stürmischen Hurras beantwortet wurde, worauf er knapp und bestimmt seine Befehle gab und jeder nach seinem Posten eilte.
Auf dem Achterdeck rissen sich die männlichen Passagiere um die Waffen, die verteilt wurden: alte Büchsen, Pistolen, Enterhaken und Hieber. Überall sah man die ragende Gestalt Edmunds und hörte seine herzhafte Stimme. Der Kapitän hatte ihn damit beauftragt, diese improvisierte Wehrkraft, die das Koffardeischiff sehr nötig hatte, so gut es gehen wollte, ein wenig zu organisieren. Für ein ängstliches Gemüt war seine Gegenwart eine wahre Herzensstärkung, so augenscheinlich war es, daß dieser Mann sich erst jetzt in seinem rechten Element befände, und daß er, für seine Person, nichts lieber sehen würde, als daß es zur Aktion käme. Amanda hatte das Gefühl, als ob sie in seiner Nähe sich nicht fürchten könne, aber auch, als ob ihr bißchen Mut völlig dahin sein würde, wenn sie von ihm entfernt würde. Sie fürchtete nichts mehr, als in den Salon hinuntergeschickt zu werden, wo die Damen natürlich alle hysterisch vor Angst waren. Von ihrem Vater wußte sie zu ihrer Beruhigung, daß er bis über die Ohren im Sanskrit säße, denn er hatte sich vom Buche nicht trennen können, als sie ihn aufforderte, zum Genuß des Sonnenunterganges mit ihr auf das Deck zu gehen.
Sie machte sich darum so klein wie möglich, ganz hinten am Heck, wo der Mann am Steuerrad sie mit seiner breiten Matrosengestalt so ziemlich verdeckte. Schließlich wurde sie doch von Mr. Watson entdeckt, einem jungen Seeoffizier, der ihr sehr beharrlich den Hof machte, in diesem Augenblick aber offenbar keineswegs durch die Begegnung angenehm überrascht wurde. Er bat sie inständig, sich doch hinunter in den Salon zu begeben. Ob es nun war, weil er selbst in einem so ernsten Augenblick keine Gelegenheit zu einem Kompliment unbenutzt vorübergehen lassen konnte, oder weil er gerade diesen Ernst gern etwas scherzhaft verkleiden möchte: jedenfalls versicherte er ihr, er könne ihr nicht erlauben oben zu bleiben, weil sie, wenn es möglich wäre, einem Kampf aus dem Wege gehen müßten; es sei aber noch so hell, daß die Piraten sie dort sehen könnten, und wenn sie das täten, würde nichts sie zurückhalten, sie würden dann auf alle Fälle entern.
– Hoho! Mr. Watson, was ist dies? – Es war Edmunds Stimme, und seine Hand legte sich derb auf die uniformierte Schulter des Offiziers: – Im Begriff falsche Signale zu machen – wie? Sie müssen sehr skrupellos sein, wo es sich um ein Kompliment handelt, oder Sie kennen den Geschmack dieser dunklen Gentlemen und Haremsversorger schlecht. Nein, was die Gefahr angeht, können Sie ruhig Miß Eichstädt hier oben bleiben lassen. Dagegen halten Sie Miß Smith unten, denn wenn die ihre Reize hier oben lüftete, dann könnte Ihre Befürchtung sich allerdings erfüllen.
Amanda blickte eifrig zur Seite nach dem gefürchteten Schiff hinaus. Sowenig auch die ganze Situation zur Heiterkeit stimmte, und sowenig es sich ziemte, von dem etwas plumpen Scherz Notiz zu nehmen, sie mußte ein wenig lächeln. Miß Smith war eine großmächtige britische Jungfrau, bei der die kräftige insulare Kost offenbar gut angeschlagen hatte, und die keineswegs mit ihren sehr substantiellen Reizen geizte, besonders nicht Sir Trevelyan gegenüber.
– O was Miß Smith anbelangt, bemerkte der Schiffsarzt, durch das Oberlicht in den Salon hinunterguckend, wo die Lampen schon angebrannt waren, – die liegt auf dem Sofa und hat ihr Gesicht ganz in den Kissen begraben.
– Betet schon zu Allah, daß sie Sultana werden möge. Nun vielleicht machen wir noch ihre wohl begründeten Hoffnungen zunichte. Freilich von ihr weglaufen, das werden wir schon bleiben lassen.
Das »sie« galt wiederum keiner Dame, sondern dem Schiff.
Selbst das unerfahrenste Auge konnte freilich sehen, daß der Schoner in der Kunst des Segelns der Brigg weit überlegen sei. Er schien das gerade recht neckisch zeigen zu wollen, indem er bald parallelen Kurs hielt, bald sich entfernte und dann wieder auf sie zuschoß. Jetzt lief er, die Brigg einholend, nur einen Steinwurf entfernt luvwärts, auf der Backbordseite. Rechts war die Sonne gerade unter der Kimmung gesunken, aber das leichte Gewölk breitete ihr Licht um so glühender über den ganzen westlichen Himmel bis gegen den Zenith hinauf und ließ einen Widerschein wie von Blut über Segel und Deck des Schoners sich ergießen, der sich stark nach ihnen hinüberneigte. Dies solchermaßen schräg gestellte und leicht zu überschauende Deck schien völlig leer zu sein, mit Ausnahme einer einzigen Gestalt: ein riesiger Neger stand auf dem Achterdeck, die lange Ruderpinne in der Hand. Diese Leerheit machte einen ganz besonders unheimlichen Eindruck; das zierliche Schiff schien ein magisches Boot zu sein, das von selber manövrierte.
Der Kapitän preite den Schoner, aber keine Antwort erfolgte. Noch zwei Anrufungen blieben ebenso fruchtlos. Da drohte er Feuer zu geben, wenn keine Antwort käme; sofort sprang eine Person auf, den Rufer in der Hand, und antwortete mit einem längeren Gebrüll, das unverständlich war und wahrscheinlich auch beabsichtigte es zu sein. Unmittelbar danach hielt der Schoner ab; anstatt sich aber zu entfernen, drehte er sich auf dem Fuß des Hinterstevens wie ein Kreisel.
– Sie will uns die Breitseite längsschiffs von hinten geben, Kapitän, rief Edmund.
– Kenne schon den alten Trick, schmunzelte der Kapitän zurück, und gab schnell einige Befehle.
Die Brigg machte eine kleine Drehung, freilich nicht so elegant wie der Schoner, aber doch gut genug, um zu verhindern, daß die gefährliche senkrechte Gegenüberstellung vorkäme. Bald liefen die beiden Segler wieder parallel mit etwas westlicherem Kurs. Man hatte aber jetzt den Schoner auf der Steuerbordseite und hatte ihm die Luv genommen, wie Amanda die Leute ringsum sagen hörte und was sie als einen großen Vorteil zu betrachten schienen. In der Tat bemerkte auch sie, daß der Feind nicht mehr so übermütig und spielend manövrierte. Wiederum preite der Kapitän. Wiederum sprang, wie von einer Spiralfeder aus einer Schachtel emporgetrieben, der Mann mit dem Rufer in die Höhe und brüllte sein Abrakadabra. Unmittelbar danach fiel der Schoner ab und lief mit dem Wind davon, nach Westen zu, wo er bald in der jetzt plötzlich einbrechenden Dunkelheit verschwand.
Die Brigg wurde wieder in ihren alten Kurs gebracht, von welchem sie sich um einige Striche westlich entfernt hatte. Eine heitere Stimmung machte sich unter den Passagieren bemerkbar. Man hatte den Schoner aus nächster Nähe betrachtet und fand, daß von einem so kleinen Schiff wenig zu befürchten sei. Da es von seiner Bemannung nur zwei Personen gezeigt habe, würden wohl nicht allzuviel an Bord sein. Und man machte sich darüber lustig, daß er sich so bald davon überzeugt habe, daß für ihn hier nichts zu holen sei.
Einige blasse Gesichter älterer Herren, und später auch einiger Frauen, zeigten sich am Rande der Kajütskappe, kamen aber nicht weiter, denn ein hier postierter Matrose schickte sie wieder hinunter. Dieser Umstand, sowie das eifrige, flüsternde Gespräch, das Edmund abseits mit dem Kapitän führte, erweckte bei Amanda die Vermutung, daß alles doch nicht ganz so friedlich sein mochte, wie es den Anschein hatte.
In diesem Zustand banger Zweifel gereichte es ihr sofort zu einer gewissen Beruhigung, als Edmund nun wieder in ihre Nähe zurückkehrte, indem er sich neben den Mann am Steuerrad stellte, um ihm, wie es schien, einige Direktiven des Kapitäns möglichst unauffällig zu vermitteln. Unter diesen ungewöhnlichen Umständen meinte Amanda, daß ihre flüchtige Bekanntschaft wohl genügen möchte, um ihr zu erlauben, eine Frage über die wahre Lage der Dinge an ihn zu richten, und trat zu ihm hin.
– Ach, Sie sind noch hier, Fräulein Eichstädt! und ich meinte, Sie wären längst unten, um Ihrem Vater das glücklich überstandene Abenteuer zu berichten.
– Ist es wirklich auch glücklich überstanden? Ich glaubte, sie würden wiederkehren.
– Glaubten Sie? hm – Sie sind gescheiter als die anderen. Nun, wenn Sie meine Meinung hören wollen, dann kann es noch ernst werden. Der Kapitän hat sehr klug gehandelt, seine Stückpforten gut verschlossen zu halten, damit sie nicht sehen sollten, wie wenig Zähne wir zu zeigen haben. Ja, ich denke, wir werden sie bald wiedersehen, aber ich kann mich ja irren.
Damit fing er an, das Schloß seines Gewehres zu untersuchen.
Seine allerletzten Worte machten sie an ihrem Entschluß irre, ihren Vater und Barbara aufzusuchen und ihnen zu sagen, wie die Sache stände. Wenn sie ihren Vater recht kannte, würde er noch mit der Nase im Buche sitzen, ohne die leiseste Ahnung von der Nähe der Piraten zu haben, und hätte Barbara den geringsten Verdacht gehabt, daß irgendeine Gefahr in der Luft schwebe, würde sie sicher nicht geruht haben, bevor sie ihr Fräulein gefunden hätte. Warum nun also die beiden, vielleicht ganz unnötig, in Angst und Unruhe versetzen?
Die Brigg schien sich allerdings allein auf dem weiten Meere zu befinden. Der Mond war aufgegangen, aber der östliche Himmel war etwas diesig, und so war sein Licht getrübt. Links lag eine Nebelbank auf dem Wasser; rechts, wo der Schoner verschwunden war, konnte man weit blicken, und kein Schiff war zu sehen.
Eine halbe Stunde verstrich.
Sie wollte doch jetzt hinunter und wenigstens sehen, wie es dem Vater und dem Mädchen ginge; schließlich brauchte sie ja noch nichts zu sagen.
»Segel, ho« klang es vom Fockmars herunter.
Ein Schauder, der durch das ganze Schiff zu zucken schien, schüttelte Amanda von der Fußsohle bis zum Scheitel. Sie folgte dem Blick Edmunds, der luvwärts hinausspähte.
Aus der hier auf dem Wasser brütenden Nebelbank glitt der Schoner, kaum in der Entfernung eines Kanonenschusses, hervor.
Der Gedanke, den Vater aufzusuchen, war verschwunden, wie jeder andere Gedanke. Sie konnte nur gedankenlos und fast gefühllos jenen auf sie zugleitenden Segler anstarren, der in dem Gespensterlicht des verschleierten Mondes so furchtbar, aber auch so unwirklich zu sein schien, wie der fliegende Holländer selber.
Auf Deck und Achterdeck war alles in lebhafter Bewegung. Edmund war überall, aufmunternd, an vorher Verabredetes erinnernd oder neue Anordnungen treffend.
Amanda stand noch immer am Hecke. Ihre Augen waren gerade über der Reiling und hingen am Schoner, der jetzt, genau wie das erste Mal, auf demselben Kurs wie die Brigg lief, und so nahe an dieser, daß man bequem hinüberrufen konnte – aber das Preien hatte keinen Sinn mehr. Soweit sie beim unsicheren Licht sehen konnte, bot das Deck denselben leblosen Anblick: nur am Ruder der riesige Steuermann, der in dieser Beleuchtung vollends wie ein dämonisches Wesen wirkte, wenn er sich über die kolossale Ruderpinne beugte.
– Hier, nehmen Sie diese – auf alle Fälle.
Es war Edmunds Stimme. Seine Nähe hatte sie schon gespürt. Jetzt fühlte sie die Berührung von einem kalten Gegenstand, um den sich ihre Hand instinktiv schloß. Eine Pistole. Sie sah auf, und ihr Blick begegnete dem seiner schwarzglänzenden Augen, aus dem ihr ein seltsamer milder Ausdruck tiefer Besorgtheit entgegen leuchtete.
– Nur wenn's zum Äußersten kommt! Nicht wenn sie entern ... erst wenn sie hier auf dem Achterdeck die Oberhand gewinnen – sie entern mittschiffs – wenn sie hier Fuß gewinnen. Dann nicht gezögert – nur den Hahn spannen, und abdrücken – die Mündung an der Schläfe ...
– Aber – mein Vater? –
– Wir Männer werden alle über die Klinge springen, das ist bald geschehen. Aber die Frauen –! Nun, für Sie ist gesorgt, wenn Sie den Mut haben – und ich glaube, Sie haben ihn. Ich denke, wir werden finden, daß Manfred recht hat: »es ist so schwierig nicht, zu sterben«.
Ein Gefühl freudigen Stolzes, weil er, der machtvolle Mann, der einzige, der sich nicht fürchtete, sich so um sie kümmere, weil er ihr das zutraue – das war alles, wofür das Gemüt in diesem Augenblick Raum hatte.
Aber freilich, sie konnte das nicht tun. Freiwillig sterben, ja. Aber nicht so. Sie mußte den Vater und die Barbara finden. »Wir wollen zusammen in die See springen – ich muß sofort zu ihnen!«
Das war ihr ausgesprochener Wille – aber sie war nicht imstande einen Fuß zu bewegen. Sie stand da, vom Anblick des fremden Schiffes festgebannt.
Jetzt lenkte es von der Brigg ab, lag still und fing seine Kreiseldrehung auf dem Achtersteven an – dasselbe hinterlistige Manöver.
Die Kommandorufe des Kapitäns erschollen, das Rad flog in den Händen des Rudergastes, die Ketten des Steuers knackten und schurrten, die Rahen knarrten, die Segel schlugen und knallten ... aber die Stimme des Kapitäns ertönte wieder und heftiger. Erneutes Knarren, Knacken, Schurren und Knallen; erneute Kommandorufe, mit Flüchen und Fußstampfen untermischt. Eine Welle von Unruhe, jedem einzelnen fühlbar, ging über das Deck: – etwas sei nicht in Ordnung, das Manöver gelinge nicht! Und Amanda sah den Schoner immer mehr sich hinter das Heck der Brigg schieben. Sie erinnerte sich der Worte Edmunds: sie will uns ihre Breitseite längsschiffs von hinten geben. Im nächsten Augenblick konnte ein Eisenhagel über das Deck hinfegen.
Sie blickte, wie hilfesuchend, auf Edmund.
Sein Gesicht war am Kolben des Gewehrs.
Ein blendendes Aufblitzen, ein scharfer Knall.
Drüben, auf dem Achterdeck des Schoners rollte der Riesenkörper des Steuermannes. Die mächtige Ruderpinne schwenkte wie ein Arm, der nach einer stützenden Hand greift, die Segel schlugen wild hin und her – –
Ein Freudenruf erscholl auf der Brigg vom Achterdeck bis zur Back.
Der Schoner trieb hinten wie ein Wrack – ein dunkler Fleck auf dem leuchtenden Streifen des Kielwassers.
Lange dauerte es freilich nicht, bis der Feind wieder sein Schiff in der Hand hatte. Alle Segel beigesetzt, die Nase bis zum Bugspriet im Schaum, kam der Schoner herangebraust; wie ein Windhund, der an der Seite des fliehenden Hirsches springt, hielt er sich zur Seite der Brigg. Diese hatte aber wieder die Luv gewonnen, und das allgemeine Gefühl, daß Edmunds Meisterschuß sie gerettet habe, sollte sich nicht als ein trügerisches zeigen. Schon nach wenigen Minuten drehte der Schoner ab, um vor dem Wind westwärts zu gehen.
In diesem Augenblick trat der Vollmond über den Rand einer Wolke hervor.
Ein unwillkürlicher Schrei entrang sich den Lippen Amandas, und er war nicht der einzige Schreckensausruf, der an Bord laut ward.
Das plötzlich hereinströmende volle Silberlicht des Mondes zeigte ihnen das Schiff, dessen Heck kaum einen Steinwurf entfernt war, gedrängt voll von Menschen. Sie überfluteten Deck und Schanze, ritten und krochen auf den Rahen, hingen in den Wanten. Das wimmelte durcheinander da drüben wie in einem umgewälzten Bienenkorb; man sah die weißen Zähne in den schwarzen Gesichtern grinsen. – So, Fräulein Eichstädt, nun können Sie Ihren Vettern und Cousinen daheim schreiben, daß Sie Piraten gesehen – und, was das beste ist, Sie haben das letzte von ihnen gesehen. Das hätten sie uns nicht gezeigt, wenn sie daran dachten wiederzukommen. An die dreihundert Mann – mehr als genug, um uns allen die Gurgel abzuschneiden, wenn sie den Mut gehabt hätten.
Die plötzliche Gewißheit, daß die Gefahr, gerade in dem Augenblick, wo sie ihr Gesicht entschleierte, endgültig vorüber sei, war zu viel für Amandas Nerven. Die Pistole entglitt ihrer schlaffen Hand und fiel rappelnd auf die Deckbohle. Ein kräftiger Arm unterstützte sie.
– Ach, Mr. Watson! bringen Sie Fräulein Eichstädt in die Kajüte! Ich sehe, daß der Kapitän mich sprechen will. – Und trösten Sie Miß Smith, weil ihre Sultanaschaft ad undas ging.
Dieser Seemannsscherz war das letzte, was ihr von diesem Abend in Erinnerung geblieben war.
Nie war später zwischen ihr und Edmund eine Hindeutung auf das Abenteuer gefallen. Und heute hatte Arthur Steel verraten, daß sein Vetter zu ihm davon gesprochen und ihren Mut gelobt habe – ihren Mut, während sie doch immer geglaubt hatte, eine recht klägliche Rolle gespielt zu haben! Ja, mehr noch: Edmund hatte selber mit Wort und Blick seine Bewunderung für ihren Mut ausgesprochen. – –
Daß Sir Trevelyan nach diesem Abend, als Retter des ganzen Schiffes, der populärste Mann an Bord war, und das weibliche Interesse für ihn im Salon bis zum Siedepunkt stieg, hatte nicht die Wirkung, ihn geselliger zu machen – eher die entgegengesetzte. Zu den gemeinsamen Mahlzeiten hatte er sich sowieso nie in der Kajüte eingefunden, da wenige Dinge ihm verhaßter waren als eine « table d'hôte«, und er sich von dieser Einrichtung ganz unabhängig fühlte. Durch sein Zusammenleben mit Shelley und Byron hatte er sich sowohl die gewohnheitsmäßige Unregelmäßigkeit wie die absolute Bedürfnislosigkeit in bezug auf das Essen selbst, welche den beiden englischen Dichterdioskuren gemeinsam war, vollkommen angeeignet. Unter dem weiblichen Publikum verbreitete sich dadurch die Sage, daß er, ebenso wie Lord Byron, es nicht vertragen könne, Damen essen zu sehen, weil ein solcher Anblick mit den Vorstellungen, die er von ihrem ätherischen Wesen hatte, kontrastiere – eine Schrulle, die Miß Smith zwar »himmlisch« fand, dennoch aber aus tiefstem Herzen bedauerte.
Edmund hielt sich also nach wie vor fern von den Passagieren und verkehrte in der Messe, aber auch vielfach vor dem Mast, wo er, da er sich ausnehmend gut mit dem Kapitän stand, bisweilen den nicht diensthabenden Teil der Mannschaft mit Rum bewirtete.
So ließ er sich denn mehr hören als sehen. In den tropischen Nächten, mit ihrer milden Kühlung und ihrem ungeahnten herrlichen Sternenhimmel über der stillen Sommersee, liebte Amanda es, wachend auf dem Verdeck zu träumen, wurde aber in dieser angenehmen Beschäftigung oft gestört durch den Gesang der Zechenden von der Back des Schiffes: – eine hohe, ungeschliffene aber nicht unangenehme Baritonstimme und ein brüllender Chorus der Mannschaft. Besonders ein sehr beliebtes Lied gab es, dessen Kehrreim immer mit unglaublicher Gewalt von den durstigen Seelen angestimmt wurde:
Fifteen men on the dead mans chest –
Yo-yo-ho! and a bottle of rum –
Leutnant Watson, der seine Kavalierdienste noch immer getreulich dem deutschen Fräulein widmete, erklärte ihr freilich bei einer solchen Gelegenheit, daß dieses Lied eher unter den lustigen Roger als unter den blauen Peter hingehöre. Sie gestand lächelnd, diese beiden Gentlemen nicht zu kennen; worauf er ihr sagte, der letztere sei nichts weniger als die britische Seeflagge, während der lustige Roger die gemütliche Bezeichnung für die schwarze Flagge der Piraten sei.
– Sie wollen doch nicht sagen, scherzte Amanda, daß Sir Trevelyan ein Pirat gewesen sei, Mr. Watson?
– Wer weiß, was er gewesen sein mag, antwortete der Seeoffizier mit einem skeptischen Achselzucken. Im vorigen Jahrhundert gab es in York einen Erzbischof, dem man nachsagt, er sei in seiner Jugend BucanierBucanier: Westindische Seeräuber-Gesellschaft. gewesen. Ich darf behaupten, daß Sir Trevelyan nicht Erzbischof in York wird, aber ich würde nicht darauf schwören, daß er nicht in seiner Jugend unter dem lustigen Roger gefahren ist.
Es gab keinen vernünftigen Grund, warum Amanda dem jungen Seeoffizier diese Meinung übel vermerken sollte, sicher ist es aber, daß sie ihn von diesem Augenblick an kühl behandelte. – –
Die lange, dreimonatliche Reise näherte sich nun ihrem Abschluß. Man kreuzte gegen westlichen Wind im bengalischen Meerbusen an der Orissaer Küste. Als Amanda zur Zeit des Sonnenunterganges auf das Deck kam, hörte sie Edmund vom Achterdeck ihren Namen rufen und sah ihn eifrig winken.
– Kommen Sie, Fräulein Eichstädt! begrüßen Sie Indien, das Land der fremden Götter.
– Ich will meinen Vater rufen.
– Nein, sputen Sie sich! Wir wollen den Stewart nach Ihrem Vater schicken.
Auf dem Achterdeck waren mehrere Passagiere versammelt, die westwärts blickten. Man hatte ein großes Fernrohr auf die Reiling gestützt und spähte eifrig nach irgendeinem bestimmten Punkt.
Die Brigg hatte sich beim Kreuzen dem Lande bis auf eine knappe Seemeile genähert. Es war eine trostlos flache Küste – vor ihr der weiße Streifen der Brandung. In wenigen Minuten mußte das Schiff über Stag gehen und sich wieder von der Küste entfernen. Deshalb Edmunds Eifer.
– Ich war gerade daran, nach Ihnen zu schicken – sehen Sie hier durchs Rohr!
Schon mit bloßem Auge hatte Amanda mächtige und seltsame Bauwerke gewahrt. Durch das Fernrohr, das Edmund für sie richtete, sah sie mit großer Deutlichkeit ein unvergeßliches Bild.
Die Küste erhob sich nur wenig über den beweglichen weißen Schaumrand der Brandung. Hier und da einige dünne Palmen – wie riesenhafte, blühende Grashalme. Und nun umfaßte das Sehfeld jenen Komplex von Gebäuden. Aus einem ziemlich ausgedehnten Hain stiegen zwei Pyramiden; aber weit über diese hinauf ragten zwei hochgestreckte Kuppeltürme, gleich zwei ungeheuren Gurken, von denen man das eine Drittel abgeschnitten und die man auf der Schnittfläche aufgestellt hatte. Der Anblick war grotesk, und doch nicht ohne eine gewisse feierliche und wilde Schönheit, zumal die Sonne gerade zwischen der einen breiten Pyramide und dem höchsten – weil nächsten – Kuppelturm stand. Ein rosiger Feuerschein schmiegte sich welch um die Zylinderfläche des Turmes, während die Stufen der Pyramide mit Goldstreifen gezeichnet waren, zwischen welchen kolossale Skulpturen aus dumpfer Purpurglut hervordämmerten, ihre violetten Sammettiefen hineingrabend und hier und dort ein Streiflicht auffangend oder es mit einem schartigen Rande brechend. Die schweren Schlagschatten lagen quer über den Hain; überall aber, wo die Bäume nicht in ihrem Bereich waren, glänzten Laub und Geäst, als ob sie aus Bronze wären, und die ganze Luft ringsum schien voll von Goldstaub zu sein, so daß eine Glorie um das Bild stand.
– Was ist das? fragte Amanda, ohne das Auge vom Glas zu nehmen – sind das Ruinen?
– Nein, bewahre! die Steine sind lebendig genug. Es ist wohl das wirksamste Heiligtum der Welt: – Jaggernauth, wenn Sie den Namen gehört haben.
Sie hatte ihn gehört. War er doch ein sprichwörtliches Symbol geworden für selbstopfernden religiösen Fanatismus phantastischster und wildester Art. Und mit tiefem, fast andachtvollem Schaudern hing ihr Blick an seinen schwarzen Pyramiden und hochaufsteigenden Kuppeln in ihrem Tempelhain, von der Glut des hinter ihnen sinkenden goldenen Sonnendiskus umstrahlt, rings um sie herum unabsehbare rostrote Sandwüste, zu ihren Füßen die schäumende Schwelle des blauen Weltmeeres.
– Ja, das ist in der Tat heiliges Land, was Sie dort sehen, Miß Eichstädt, sagte Leutnant Watson. Ich habe im vorigen Jahr einen kurzen Urlaub benutzt, um von Kalkutta aus diesen Tempel zu besuchen, und es ist keine Übertreibung, daß die Seiten der Wege meilenweit weiß von den Gebeinen der Pilger sind. Denn von überall her in ganz Indien schleppen sich Leute, die sich dem Tode nahe fühlen, nach diesem Tempel und sterben glücklich an der Seite des Weges, wenn ihre brechenden Augen jene Kuppeltürme erblicken. Deshalb kann ich nicht einmal sagen, daß diese Totenschädel und Knochen, die in dem roten Sand bleichen, einen traurigen Eindruck machen – denn nichts ist gewisser, als daß diese Menschen in vollkommener Zuversicht auf ein seliges Leben sterben.
– Und wie werden sie enttäuscht! in welcher Hölle müssen sie erwachen – wie Lazarus sterben, und wie der reiche Mann erwachen! seufzte ein glattrasierter Herr, dem man auf eine – englische – Viertelmeile den »Reverend« ansah. – Und das nennen Sie keinen traurigen Anblick, ein so entsetzliches Zeugnis davon, bis zu welchem Wahnsinn der Aberglaube die Menschen verblenden kann, wenn sie nicht durch das Licht des Evangeliums erleuchtet sind? Und was sagen Sie zu den wahrhaft teuflischen Prozessionen in jenem Tempel, bei welchen Hunderte von fanatischen Anbetern sich von den Rädern des Götzenwagens zermalmen lassen und so durch Selbstmord ihren Schöpfer verleugnen?
Professor Eichstädt war unterdessen auf dem Achterdeck erschienen und hatte durch die Hilfe Amandas einen flüchtigen Anblick des Tempels genossen, bevor die Brigg über Stag ging und sich wieder von der Küste entfernte, was gerade jetzt geschah. Er wandte sich nunmehr kampfbereit gegen den Kirchenmann und erklärte ihm, daß dies Ammenmärchen von den Selbstaufopferungen in Jaggernauth auf Verleumdung oder grobem Mißverständnis beruhe; die Gottheit würde gerade hier in ihrer lebenserhaltenden Form als Vishnu angebetet, so daß solche wilden Gebräuche hier absolut ausgeschlossen seien. Er fand einen willkommenen Unterstützer in einem hübschen, schlanken Herrn mit einem starken Schnurrbart, einem Kavallerieoberst, der von einer Urlaubsreise nach England zurückkehrte: – es sei konstatiert, daß in den letzten dreizehn Jahren nicht ein einziger solcher Fall vorgekommen sei; die vereinzelten Fälle vor der Zeit möchten leichtbegreifliche Folgen des ungeheuren Gedränges sein.
Solchermaßen zurückgewiesen setzte der Reverend eine mächtig hochkirchliche Miene auf, wobei seine Oberlippe noch einmal so lang wurde, und meinte, dem sei wie ihm wolle, jedenfalls würde dieser und ähnliche scheußliche Gebräuche bald von diesem nachtumhüllten Land durch das Licht der Kirche und das segensreiche Zivilisationswerk der Engländer verjagt werden.
– Ach, gehen Sie mir mit ihrem Zivilisationswerk! rief der unverfrorene Edmund. Was würden die Engländer für Spuren zurücklassen, wenn sie morgen aus diesem nachtumhüllten Land hinausgejagt würden? – den großen Hauptweg von Kalkutta nach Benares – soweit er gebaut ist – und eine Pyramide von leeren Bierflaschen.
Dieser herausfordernden Behauptung wurde mehr mit Kopfschütteln und Lachen als mit Entrüstung begegnet. Die des Pastors war augenscheinlich, aber stumm.
– Na, na, Sir Trevelyan, rief der Kapitän, der sich unterdessen auch der Gesellschaft angeschlossen hatte – das ist doch wohl etwas zu viel gesagt. Aber immerhin! besser eine Pyramide von Bierflaschen zu hinterlassen, als eine von Menschenköpfen, was frühere Eroberer Indiens getan haben, wenn es mit dem Garn, das man mir darüber gesponnen, seine Richtigkeit hat.
– Ich weiß nicht! Ich glaube, daß ich die letztere vorziehe. Sie ist dekorativer und man kann sie wenigstens in einem Gedicht verwenden.
Man lachte über diesen unerwarteten Gesichtspunkt.
Seine Ehrwürden hatte sich mittlerweile gefaßt und richtete mit strenger Miene die Frage an Edmund, ob er etwa auch das nicht für eine unschätzbare Wohltat wollte gelten lassen, daß der gotteslästerlichste, teuflischste Gebrauch, den je ein dem Götzendienst verfallenes Volk erfunden habe, die Sati, schon jetzt in den eigentlichen britischen Besitzungen verboten wäre und hoffentlich bald vom Boden Indiens überhaupt und damit aus der Welt vertrieben sein würde?
Etwas ausweichend antwortete Edmund, daß auch darüber wohl verschiedene Meinungen sein könnten, weil eben niemand so eifrig für die Sitte des selbstgewählten Feuertodes der Witwen eingetreten sei, wie gerade die indischen Frauen, die doch in dieser Frage zuständig sein müßten.
Hiermit war nun eine allgemeine Diskussion über die Sati eröffnet worden, die nicht umhin konnte, äußerst lebhaft, ja erregt zu werden. Es war kaum fünf Jahre her, daß der Gouverneur, Lord Bentinck, unter großer Opposition von allen Seiten, das Verbot der Sati in Bengalen durchgesetzt hatte, wodurch jeder aktive Teilnehmer an einer solchen der strafbaren Tötung schuldig erklärt wurde. Selbst in diesem kleinen Kreise waren die Meinungen geteilt; wenn auch einige Lord Bentinck als einen der größten Wohltäter der Menschheit priesen, so zweifelten andere, ob ein solcher humanitärer Eingriff in uralte religiös-ethische Vorstellungen eines der ältesten Kulturvölker berechtigt sei.
Professor Eichstädt mußte den interessierten Zuhörern auseinandersetzen, daß die Sati zwar in das graue Altertum zurückreiche, dennoch aber nicht in der vedischen Zeit beglaubigt sei; vielmehr sei sie nachträglich durch Hinzufügung eines Hakens an einen Sanskritbuchstaben von den Brahmanen in den heiligen Text hineingefälscht worden, wodurch sie erst die religiöse Sanktion erhalten habe und eine, wenn auch keineswegs obligatorische, so doch sehr häufig ausgeübte Sitte geworden sei, während sie im Altertum vielmehr das Gepräge der heroischen Ausnahmen getragen habe. Eben diese heroische Treue priesen einige als noch heute so bewundernswert wie je, während andere das durchaus nicht wollten gelten lassen. Es sei lediglich die Furcht vor dem gänzlich freudelosen Leben des indischen Witwenstandes, die eine Frau zur Sati bestimme, in Verbindung mit den Bitten der Familie, auf die der Glanz einer solchen Handlung fallen würde, und mit den abergläubischen Versprechungen und Drohungen der Brahmanen. Wenn so ein armes Geschöpf seine Einwilligung gab, sei sie schon von Opium berauscht, und vollends bei der Handlung selbst befände sie sich bekanntlich im Zustande vollkommener narkotischer Apathie.
Fast der einzige Mann, der sich an diesem Streit nicht beteiligte, war der Oberst. Als nun eine kleine Pause eintrat, räusperte er sich und meinte, da er, wie es schien, der einzige Anwesende sei, der einer Sati beigewohnt hatte, würde es vielleicht nicht unangebracht sein, wenn er ihnen seine Erfahrung und seinen Eindruck mitteilte.
Man bezeugte einstimmig den Wunsch, dies Erlebnis so ausführlich wie nur möglich berichtet zu hören, und selten hat ein Erzähler sich von einem aufmerksameren Kreis umgeben gefühlt, als jetzt der Oberst, da er seinen Bericht anfing.
Er hatte sich drei Jahre vorher in der nördlichen, halb unabhängigen Provinz Cutch mit mehreren seiner Kameraden aufgehalten, um der gewöhnlichen Ferien-Rekreation der indischen Offiziere von der Langweiligkeit des Kantonnementslebens zu genießen: der Tigerjagd. Kurz nach ihrer Ankunft erfuhren sie, daß eine junge Frau ihre Absicht erklärt habe, nach dem Sati-Ritus auf dem Scheiterhaufen ihres am vorhergehenden Tage verblichenen Gatten zu sterben. Die Offiziere kamen überein, daß sie sich überzeugen wollten, ob diese Tal völlig freiwillig geschehe, ohne daß List oder Macht irgendwie mit im Spiele sei, widrigenfalls sie auf jede Gefahr hin und, wenn nötig, unter Gebrauch der Waffen die Ausführung der Sati verhindern wollten. Sie begaben sich also in guter Zeit zur angegebenen Stelle, wo es schon von Zuschauern wimmelte. Bald danach erschien die Witwe selbst, begleitet von den Brahmanen und von ihren Angehörigen; der Leichnam ihres Gatten wurde hinter ihr hergetragen.
Sie war eine außerordentlich schöne Frau, etwa dreißig Jahr alt, und prachtvoll gekleidet. Die Zuschauer begrüßten sie mit lautem Preisen ihrer Tugend und warfen Blumen – die Frauen drängten sich vor, um nur ihr Kleid zu berühren. Selbst legte sie eine solche Ruhe an den Tag und sah dem Aufschichten des Scheiterhaufens anscheinend so gleichgültig zu, daß der Verdacht sehr nahe lag, sie befände sich unter dem Einfluß von Opium. Zwei von den Europäern, die Militärärzte waren, traten deshalb nahe an sie heran, kamen aber beide zu dem Resultat, daß weder Opium noch sonst irgendein betäubendes oder auch nur berauschendes Mittel verwendet worden sei.
Der Oberst wandte sich nun selbst an das Weib, fragte sie, ob sie völlig aus freiem Willen diese Tat begehe, und versicherte ihr, daß, wenn sie nur das geringste Widerstreben spüre, ihr Gelübde zu erfüllen, dann würde er, im Namen der britischen Regierung, ihr Schutz des Lebens und des Eigentums garantieren. Ihre Antwort war ruhig, von heroischer Festigkeit: »Ich sterbe freiwillig. Gebt mir meinen Gemahl zurück, dann will ich leben.«
Während die Zeremonien weiter schritten, versuchte man es noch einmal mit Vorstellungen, Bitten, ja man beschwor sie flehentlich, von ihrem Vorhaben abzulassen; aber alles vergeblich. Niemals hat ein christlicher Märtyrer mit größerer Festigkeit den Scheiterhaufen bestiegen, als dies zarte Weib es ohne jeden Zwang tat. Von dem obersten Brahmanen begleitet umschritt sie siebenmal den Scheiterhaufen, indem sie die Gebete hersagte, Reis auf den Boden streute und die Umherstehenden mit Wasser besprengte, dem man eine entsühnende Kraft zuschrieb. Sie nahm dann ihre Juwelen ab und verteilte sie an ihre Angehörigen, wobei sie für jeden ein tröstendes Wort hatte. Der Brahmane reichte ihr eine brennende Fackel, und mit dieser in der Hand trat sie durch die Tür und setzte sich ins Innere des Scheiterhaufens. Hier wurde der Leichnam ihres Gatten, nachdem er siebenmal um den Scheiterhaufen getragen worden, ihr über die Kniee gelegt. Nun wurde der Eingang durch Dorngestrüpp und Gras verdeckt; die Engländer bestanden aber darauf, daß dies so oberflächlich geschehe, daß die Frau, wenn sie aus ihrem brennenden Gefängnis entfliehen wollte, nicht durch diese Schranke daran gehindert würde. Sie überzeugten sich, daß die Kraft eines Kindes genügen würde, um das Hindernis zu beseitigen, und erinnerten aber und aber die Frau daran, daß ihr der Ausgang keineswegs versperrt sei: denn sie hofften noch immer, daß sie noch im letzten Moment entweichen würde. Eine lautlose Stille trat ein, bis ein dünner Rauch, der sich vom Gipfel des Scheiterhaufens emporkräuselte, sie benachrichtigte, daß die Frau mit ihrer Fackel das Holz angezündet habe. Gleich danach züngelten und prasselten die Flammen in die Höhe – kein Schrei, ja nicht das leiseste Stöhnen verriet, daß etwas anderes als die Leiche des Verstorbenen vom Feuer verzehrt wurde.
Diese Erzählung, belebt durch die anschaulichen Kleinzüge, worüber nur der Augenzeuge verfügt, und unterstützt durch die Bewegung, die, von der lebendigen Erinnerung ausgelöst, sich in Stimmklang, Blick und Miene unwillkürlich verriet und sich so den Zuhörern direkt mitteilte, hätte nie und nirgends ihre Wirkung verfehlen können. Hier, unter diesen Umgebungen, war sie überwältigend. Oben der glänzende Nachthimmel, wo das Licht des Mondes das Brillantfeuer der Sterne nicht zu beeinträchtigen vermochte; – unten die See, die Mondlicht und Sternenblinken auf ihren langen, flachen Wellen schaukelte, welche sich mit leisem monotonem Brausen am Bug des Schiffs brachen; und draußen nach links, hinter dem weißen Streifen der Brandung, dies mächtige, rätselhafte Land, ein Weltteil für sich, Indien mit seinen unerhörten Gegensätzen, mit seinen tiefen Mysterien, seiner uralten Weisheit, verborgen im Nebellicht, als ob es lausche, schweigend in der Nachtstille, mit einem Schweigen, das ihnen allen – vielleicht sogar den Pfarrer nicht ausgenommen – hörbar wurde: – »Ihr Fremden, die ihr draußen vor meiner Schwelle schwimmt, was erkühnt ihr euch mit euren Neulingshänden an meinen uralten Gebräuchen zu rütteln, was vermeßt ihr euch mit euren Ideen von gestern über mich zu Gericht zu sitzen?« –
Endlich brach Edmund das Schweigen, das nach der Erzählung des Obersten als der beredteste Dank von selber eingetreten war.
– Wir haben nun die Sache für sich selbst reden hören. Die europäischen Herren haben reichlich Gelegenheit gehabt, sich darüber auszusprechen, und was die indischen Frauen meinen, wissen wir auch. Nun möchten wir auch hören, was die europäischen Damen sagen.
Die anwesenden Engländerinnen waren jetzt, da der Bann, worunter sie sich befunden, gebrochen war, sehr bereit, einmütig vom beifälligen Murmeln seiner Ehrwürden aufgemuntert, zu erklären, der Selbstmord sei ein schreckliches Verbrechen, das von dem lieben Gott ausdrücklich verboten sei, weshalb man unmöglich mit einer solchen Handlung sympathisieren könne. Die einzige Ausnahme bildete jene nicht Sultana gewordene Miß Smith, die mit einem schmachtenden Blick auf Edmund verstehen ließ, daß es ihr eine wahre Wonne sein würde, ihre Körperfülle auf dem Scheiterhaufen eines geliebten Ehegesponses zu opfern – was freilich später von dem undankbaren Edmund dahin gedeutet wurde, die Miß sei so erpicht darauf, einen Mann zu bekommen, daß sie zur Not das Risiko des Feuertodes mit in den Kauf nehmen wolle.
– Britannia hat gesprochen. Was meint Germania?
Es ärgerte Amanda sehr, zu fühlen, wie sie errötete und wie verwirrt sie wurde, als diese Frage Edmunds plötzlich die Aufmerksamkeit aller auf sie richtete. Außerdem befand sie sich in einer etwas unklaren Position. Die ganze Erörterung hatte so ziemlich den Charakter eines Kampfes zwischen dem Mann der Hochkirche und dem Byronianer angenommen. Man rangierte sich, je nach seinen Sympathien oder nach dem, was man scheinen möchte, unter der Fahne des einen oder des anderen – und jetzt wurde sie von dem einen der Führer aufgefordert, als der letzte Kombattant ihre Partei zu ergreifen. Nun war ihr der Hochkirchenmann, der unterwegs mehrere Zusammenstöße mit ihrem Vater gehabt, vom ersten Anblick an im Innersten zuwider gewesen, und nie mehr als gerade heute Abend. Andererseits wollte ihr aber auch das ganze Auftreten Edmunds bei dieser Gelegenheit nicht recht gefallen. Diese ziemlich gemischte Gesellschaft mit gewagten Paradoxen teils zu amüsieren, teils zum Widerspruch zu reizen, schien ihr an sich eine nicht ganz würdige Rolle, und noch dazu eine solche, die für die ganze Stimmung nach dem ersten Eindruck einer fremden, mächtigen Welt, der man zusteuerte, ganz besonders schlecht gewählt war.
– Ich weiß nicht, antwortete sie endlich ein wenig stotternd und nach Worten suchend, ob es Germania ansteht, durch meine Wenigkeit zu sprechen. Aber ich finde, daß, wenn eine solche Handlung wirklich aus reiner Liebe geschieht, wenn gar nicht die Furcht vor einem freudelosen Leben mitspricht, wenn die Unglückliche sich neben den Leichnam ihres Gemahls auf dem Scheiterhaufen hinlegt, weil sie von ihm nicht lassen kann, weil sie ohne den Geliebten nicht leben will und wohl auch hofft, mit ihm in einem seligen Leben vereinigt zu werden, dann verstehe ich nicht, wie man vor einer solchen Treue bis in den Tod hinein andere Gefühle als die der unbedingten Hochachtung und Bewunderung hegen kann.
Seine Ehrwürden erhob sich und trat in würdevollster Haltung, die Hände auf dem beleidigten Rücken, einen Spaziergang auf dem Deck an, offenbar um die Nähe eines Wesens zu meiden, das eine so verworfene Meinung äußern konnte.
Dieser Erfolg tat Amanda im Herzen wohl – viel wohler als der laute Beifall Edmunds, der nicht auf sich warten ließ.
– Heroisch gesprochen wie Schillers Jungfrau, und weise wie Shakespeares Portia!
– Noch nicht ganz wie Portia, denn da muß man auch die andere Seite in Betracht ziehen, sagte Amanda mit einem ihr eigentümlichen schalkhaften Augenlachen, das selten unterließ, denjenigen, an den es gerichtet war, begierig zu machen, was wohl jetzt folgen würde.
Auch Edmund war etwas neugierig, als er fragte:
– Und was ist denn die andere Seite, edle Portia? Sie haben recht: audiatur et altera pars!
– Die andere Seite ist die, daß ich nie davon gehört habe, daß ein indischer Witwer sich auf dem Scheiterhaufen seiner Frau hat verbrennen lassen, und daß ich dies Gegenstück einigermaßen schmerzlich vermisse.
Diese Replik weckte ein so lebhaftes und lautes Echo, daß sogar der Pastor sich mit beschleunigten Schritten der Gruppe näherte, um zu erfahren, was vorgefallen sei. Der Kapitän vollends war so entzückt, daß er mit seinen großen Seemannstatzen Edmund auf den Rücken klatschte und ihn fragte, ob er – old boy – diesen Trumpf stechen könnte?
Der »alte Knabe« schien nicht in dieser glücklichen Lage zu sein, und es kam ihm offenbar recht gelegen, als die allgemeine Aufmerksamkeit gerade in diesem Augenblick dadurch von ihnen abgeleitet wurde, daß von der Saling aus ein großes Schiff, vorne auf der Backbordseite, signalisiert wurde.
– Gott verdamme seine Augen! rief der Kapitän, ist denn der Junge verrückt geworden? – wie sollte denn dort ein Schiff sein können?
– Mit Ihrer Erlaubnis, Herr Kapitän, sagte Leutnant Watson, der Matrose hat wahrscheinlich die schwarze Pagode bei Kanarak für ein Schiff gehalten; und es muß zu seiner Entschuldigung dienen, daß er nicht der erste Seemann ist, den sie getäuscht hat.
Es zeigte sich in der Tat, daß dies der Fall war. Bald konnte man jenseits des Schaumstreifens einen dunklen Gegenstand unterscheiden, der einem großen Schiffe unter voller Segelbekleidung täuschend ähnlich sah. Diesmal handelte es sich nicht, wie bei Jaggernauth, um einen lebendigen Tempel, sondern um eine ehrwürdige Ruine, und zwar um eins der berühmtesten architektonischen Denkmäler Indiens. Der turmartige Hauptbau war längst zusammengestürzt, und was man sah, war nur der kubische Vorbau mit seinem pyramidenförmigen Dach, das sich zu einer Höhe von etwa hundertunddreißig Fuß erhob. Leutnant Watson, der auf seiner Rückfahrt von Jaggernauth auch diesen Tempel besucht hatte, mußte eine Beschreibung zum besten geben. Er sagte, die schwarzen Marmorblöcke, aus denen das Heiligtum gebaut war, seien von so übergigantischen Dimensionen, daß man schlechterdings nicht begreife, wie menschliche Kraft sie in ihre jetzige Lage gebracht habe; und dabei seien sie mit Skulpturwerken von so minutiöser Ausführung bedeckt, daß nur der große Buddhatempel auf Java damit rivalisieren könne ...
Das war Amandas erster indischer Abend, und wohl mochte er mit allen Kleinigkeiten unauslöschlich in ihrer Erinnerung stehen, von allen anderen getrennt, eingehegt durch die beiden mächtigen Landkennungen und indischen Wahrzeichen: den Tempel von Jaggernauth und die schwarze Pagode. Aber wie ein Stern leuchtete zwischen ihnen im Grunde ihres Bewußtseins der stolze Gedanke, daß sie dem übermütigen Edmund einen Fehdehandschuh hingeworfen habe, den er nicht hatte aufnehmen dürfen. Wußte sie doch mit untrüglicher Gewißheit, daß er das Leben einer Frau und das eines Mannes nicht als gleichwertig betrachte. Ohne Zweifel würde er jeden Augenblick bereit sein, das Leben für eine Frau zu opfern, und dies auch von jedem Mann verlangen. Aber nur, weil es dem Mann gezieme, ritterlich zu sein und den Tod zu verachten. Im Grunde seines Herzens befände er sich völlig in Übereinstimmung mit der Wertschätzung, die sich in der einseitigen Satisitte so naiv aussprach. Sie wußte aber auch, daß er in jenem Augenblick sich dessen auf beschämende Weise bewußt geworden sei und sich ihr gegenüber zu dieser orientalischen Ansicht nicht habe bekennen dürfen. – – –
Und noch ein Bild tauchte an der Hand dieser Reihe auf, um sie abzuschließen:
Der Sonnenuntergang von Benares.
Wenn der Sonnenuntergang von Jaggernauth der erste Gruß von Indien bedeutete, so war der von «der heiligen Stadt am heiligen Strom« erst die volle Weihe, die endgültige Bestätigung, daß man sich jetzt wirklich mitten im alten Wunderland befände.
Aber zwischen Jaggernauth und Benares lag Kalkutta und damit das Eintreten eines neuen Faktors in ihr plötzlich so bewegtes Leben.
Der Aufenthalt in Kalkutta bildete eine kleine Oase zwischen der dreimonatlichen Seefahrt und der ebenso langen Bootfahrt den Ganges aufwärts nach Cawnpore, wo man die Zivilisation zu verlassen hatte, um in Ochsenkarren sich langsam weiter zu bewegen. In jener »Stadt der Paläste« die weder dem Vater noch der Tochter zusagte, schloß sich Sir Trevelyans Vetter, der etwa fünfundzwanzigjährige Arthur Steel, der Gesellschaft an. Er hatte eine nicht gerade hervorragende Stellung im Dienste der ostindischen Kompanie gehabt und wollte jetzt seinem Vetter folgen in der Eigenschaft als Sekretär, ein weder sehr anstrengender noch sehr einbringender Dienst allerdings; aber ihm schien es hauptsächlich darum zu tun zu sein, Land und Leute kennen zu lernen und sich vielleicht dadurch für eine zukünftige Anstellung zu qualifizieren. Durch sein freundliches und offenes Wesen gefiel er sofort Amanda, während er das Herz des Indologen durch sein Interesse für alles Indische gewann. Leider entdeckte dieser aber bald, daß dieses Interesse, das bei den Engländern in Indien nicht gar zu häufig zu finden war, bei dem jungen Schotten stark abergläubisch angehaucht sei. Arthur Steel gehörte einer geheimen theosophischen Gesellschaft an, in die er durchaus Professor Eichstädt einführen wollte. Glücklicherweise war keine Zeit dazu; man mußte westwärts eilen, um vor der größten Hitze den Bestimmungsort zu erreichen.
Die Fahrt den Hugli und den Ganges aufwärts wurde mit einer kleinen Flotille von Budgeras unternommen, »eingeborenen« Booten von einem besonders »unchristlichen« Äußeren, wie die brave Bärbele fand, die sich mit schwerem Herzen einem solchen Fahrzeug anvertraute. Amanda meinte, es ähnele am meisten einem umgekehrten »Dreimaster«. – Zwei Drittel des Decks auf einem solchen Gangesfahrzeug sind der Bequemlichkeit des Passagiers eingeräumt und bilden eine Kajüte, die in zwei Zimmer geteilt ist, von welchen das hintere als Schlafzimmer benutzt wird. Vor dem ersten Raum ist eine Veranda, und das Dach ist das erhöhte Achterdeck des Schiffes, das bei schönem und nicht zu heißem Wetter der hauptsächliche Aufenthaltsort für den zeitweiligen Besitzer dieser Herrlichkeiten ist, vom Steuermann nicht zu reden, der hier das enorme Steuerruder hantiert. Im vorderen, offenen Teil des Schiffes stehen die Bootsleute, die mit ihren plumpen Rudern den viereckigen Segeln helfen, das Fahrzeug vorwärts zu bringen. Alleine vermögen die Ruderer nicht, dies stromaufwärts zu tun. Bei Windstille oder Gegenwind wurde deshalb ein Seil am Mast befestigt, worauf die ganze Mannschaft – etwa zwölf Mann hoch – auf dem Ufer marschierend, ihre Kräfte nicht sparte, um das Fahrzeug, langsam genug, vorwärts zu schleppen.
Zu jeder Budgera gehörte, als ein Trabant, ein Küchenboot – mehr Floß als Boot, bestehend aus einigen rohen Balken mit einer Grashütte darauf, und von zwei oder drei überaus lumpigen, schwarzen Gesellen vorwärts geschaufelt.
Edmund und Arthur führten an; die zweite Budgera beherbergte Amanda und Bärbele. Professor Eichstädt hatte sich mit einer kleinen Bibliothek in der dritten eingerichtet, und die Dienerschaft folgte in einer vierten. Das Wetter war fast immer schön. Amanda brachte den größten Teil oben auf dem Deck ihrer Kajüte zu und versuchte – besonders wenn sie geschleppt wurden – in ihr Skizzenbuch landschaftliche Erinnerungen einzutragen. Jede Biegung des Flusses entfaltete eine neue Szenerie, immer reizend durch schroffe Felsen, anmutige Hügel und mächtige Baumgruppen, oft geschmückt durch ein Kuppelgrab, einen verfallenen Tempel oder die Hütten eines Dorfes. Als sie aus dem Hugli hinaus waren und Mutter Ganga sie auf ihrem breiten Strome trug, oft sich zu einem großen See erweiternd, aus welchem tempelgekrönte Felseninseln emportauchten, nahm alles einen größeren Charakter an. Auf Dörfer folgten Städte mit den Freitreppen und Torbauten der Ghats am Wasser, belebt durch die farbenfreudigen Kleider der Bengalen; mit ihren Kuppeln und Minareten, hohen Pforten und mächtigen, wehrhaften Granitmauern, ihrem Durcheinander von Palästen und Hütten, immer wunderlich und im höchsten Grade, malerisch.
So wurde, bei aller Einförmigkeit, die Fahrt Amanda niemals langweilig, zumal das träumerische, beschauliche Dasein während des Tages immer einen gesellschaftlichen Abschluß auf dem Achterdeck der ersten Budgera fand, wo Edmund allabendlich seine Gäste zum Plaudern bei einem Glas Sorbet erwartete.
Die Unterhaltung war dann gewöhnlich ebenso lebhaft wie mannigfaltig und lehrreich. Der Professor versäumte nicht, aus der reichen Vorratskammer seiner Gelehrsamkeit geeignete Wegezehrung hervorzunehmen. Bihar, das alte Magadha, an dessen Nordgrenze sie fuhren, gab mit seinen großen buddhistischen Traditionen reichliche Veranlassung zu geschichtlichen Abstechern, die das Licht der Vergangenheit über die umgebende Gegenwart strahlen ließen. Als sie an Patna vorüberkamen, verstand es sich von selber, daß er den Glanz des alten Pataliputra schilderte, der Hauptstadt des großen, edlen Kaisers Asoka, wie sie der Grieche Megasthenes angestaunt hat und wie fast siebenhundert Jahre später der chinesische Pilger Fa-hien sie noch sah, erfüllt von gelbgekleideten Buddhamönchen und von der festlich geschmückten Menge und der endlosen Prozession der Bilder. Dort lag nun der Rest jener Herrlichkeit vor ihnen, mit seinen Vorstädten, die sich drei Meilen weit am Südufer des Ganges hinstreckten, überaus malerisch zwar, aber doch sehr den Eindruck machend, als ob Pataliputra, ähnlich wie Benares, zwar einst aus Gold gebaut gewesen, aber zur Strafe seiner Sünden später in Stein und Mörtel, Lehm und Schmutz verwandelt worden wäre. Vielleicht ähnelte die Stadt in diesem bescheidenen Zustand mehr dem uralten ehrwürdigen Pataligama, in dessen Herberge der Buddha auf seiner letzten Wanderung einkehrte, wo er bis tief in die Nacht die Laienbrüder mit religiöser Belehrung erfreute, und wo er, nach der legendarischen Hinzufügung, in der Morgendämmerung, durch die Anwesenheit großer Götterscharen aufmerksam gemacht, seinem Lieblingsjünger Ananda die zukünftige Größe der Stadt prophezeite.
Arthur Steel seinerseits hatte während seines dreijährigen Dienstes viele Erfahrungen über indisches Leben und über die Denkart der Hindus, teils durch eigene Beobachtung, teils durch Berichte zuverlässiger Zeugen gesammelt, die man gern aus ihm herauslockte, wenn er durch irgendeine Bemerkung einen Anhaltepunkt bot, denn er war, besonders im Anfang, zu schüchtern, um selber damit hervorzutreten. Namentlich entwickelte Amanda eine große Geschicklichkeit darin, so einen fast zufällig heraushängenden Faden zu ergreifen und behende daran zu ziehen, bis ein ganz hübsches Gewebe zum Vorschein kam, und der junge Schotte, ehe er sich's versah, sein »Garn so hübsch spann« wie sein seemännischer Vetter; und daß mit diesem Garn alles in der Ordnung sei, daran würde nicht leicht jemand zweifeln, während es bei dem Spinnen Edmunds immer ein wenig zweifelhaft blieb, ob die Jugendjahre auf der See (die für die Wahrheit ebenso gefährlich zu sein scheint wie der Wald), und das Zusammenleben mit Dichtern (die auch keine Erzieher zur Wahrheit sind) nicht manchmal das gesponnene Garn etwas glänzender machte, als es von Rechts wegen hätte sein sollen.
Dieser letzte Beitrag zur Unterhaltung war überhaupt anderer Art und hatte keine Verbindung mit dem fremden Wunderland, das man durchkreuzte. Es wurde aber nicht mit geringerem Interesse aufgenommen, wenigstens nicht von Amanda. Wenn Edmund von seinen mit Byron, Shelley und Keats verbrachten Stunden sprach, da schien ihr der ganze indische Sternenhimmel, der über ihnen leuchtete und in den Wellen des heiligen Stromes blinkte, allmählich zu verblassen vor dem Abglanz jenes Dreigestirns der englischen Poesie, der diesem Mann ihr gegenüber entströmte, welchem in der Tat diese Erinnerungen – und nur sie – etwas Heiliges waren.
Auf diesem erhöhten Achterdeck des ersten Schiffes war denn auch die Gesellschaft versammelt an dem Abend, wo man erwartete, hoffentlich noch vor dem Eintritt der Dunkelheit Benares zu Gesicht zu bekommen.
Sie hatten den ganzen vorhergehenden Tag in der Militärstation Ghazipore zugebracht, wo ein Jugendfreund Edmunds als Major garnisoniert war. Edmund war mit ihm und mehreren Offizieren auf Wildschweinjagd geritten; obwohl Arthur ein guter Sportsmann war, zog er es vor, Amanda und ihrem Vater Gesellschaft zu leisten. Als Beamter der ostindischen Kompanie war er einigermaßen mit ihrer Geschichte vertraut, so mußte er denn die Wißbegierde des Professors stillen und hier selbst den Historiker spielen, indem er vor dem Grabmonument des Marquis Cornwallis, nicht ohne anfängliches Stottern, einen Vortrag über die Regierung und die Kriegstaten des ersten aus der englischen Aristokratie hervorgegangenen indischen Generalgouverneurs hielt. Dabei fühlte er sich noch dazu bedrückt durch eine etwas feindselige Stimmung im männlichen Teil seines Auditoriums; denn in seiner Begeisterung für alles Indische hielt Professor Eichstädt eigentlich die Eroberungen der Engländer hier für Räuberzüge, obwohl er ohne sie niemals das gelobte Land gesehen hätte. So war es denn doppelt nötig, daß Amanda ihn aufmunterte, indem sie etwas Sympathie für den edlen Marquis zeigte, dessen Mausoleum nicht eben sehr zur Bewunderung aufforderte. Sie wunderte sich, warum alle indischen Denkmäler Stil und Charakter hätten, während alles, was die Engländer bauten, beides vermissen ließ; und Arthur konnte nicht umhin, zu gestehen, daß sie auf ihrer ganzen Reise keinem so reizlosen Bauwerk begegnet wären wie diesem.
Seit unvordenklichen Zeiten war Ghazipore berühmt wegen seiner Rosen, die alle Cenanas Indiens mit Rosenwasser versahen. Der süße Duft von diesen unabsehbaren Blumenfeldern wurde von einem kühlenden Abendwind der Gesellschaft entgegengeweht, als man sich auf dem Promenadenplatz vor dem Mausoleum erging und der Militärkapelle lauschte, die den deutschen Gästen zu Ehren Stücke aus der Zauberflöte und ein paar alte Wiener Walzer spielte, nach denen schon der Kongreß getanzt hatte.
Es war bei dieser Gelegenheit, daß Amanda sich die Frage vorlegen mußte, ob sie nicht vorher zu viel Interesse an den Taten des Marquis Cornwallis gezeigt habe, und ob sie nicht mit Blicken und Mienen, ja sogar mit Worten dem jungen Schotten gegenüber vorsichtiger umgehen müsse, als sie in der letzten Zeit getan hatte. Leicht fiel es einer solchen Frage nicht bei ihr aufzutauchen, da sie keineswegs zu den Mädchen gehörte, die jeden Jüngling, der in den Bereich ihrer Augen kommt, als in übermächtiger Gefahr schwebend betrachten. Im Gegenteil, da sie im Profil keine griechische Stirn- und Nasenlinie aufzeigen konnte und en face über kein eiförmiges Madonnengesicht verfügte, hatte sie längst entschieden, daß sie auf Schönheit keinen Anspruch habe, und fand deshalb keinen Grund, warum ein junger Mann sich kopfüber in sie verlieben solle. – Und das trotz ihrer Erfahrung hinsichtlich des Heidelberger Studenten mit den Versen und den Rosen, an den eine Erinnerung sie hier, inmitten dieses Rosenduftes, ganz natürlich anwandelte. Ob er wohl vielleicht in dieser Abendstunde in einem Wirtschaftsgarten am lieblichen Neckarstrom säße, seinen Wein trinkend, ihrer gedenkend und vielleicht Verse schreibend – »auf Flügeln des Gesanges« sie suchend? Ihm war es zweifelsohne passiert; das kam ihr aber auch als ein unbegreiflicher Fall vor, der sich nicht so bald wiederholen könne. Und andererseits, daß ein junger Mann während einer monatelangen, einförmigen Flußreise, wo sie der einzige Repräsentant des zarten Geschlechts war, nachgerade ihr gegenüber in einen leichten, schwärmerischen Rausch geriet, war schließlich kein Zauberstück und brauchte nicht viel zu bedeuten.
Aber es war ein beunruhigendes Symptom, daß er sie sogar den Wildschweinen vorzöge, Und ganz wundervoll war nun auch die Behendigkeit, womit dieser junge Mann beim Aufbruch wußte, alles so zu ordnen, daß Amanda allein mit ihm im Dogcart fahren mußte.
Man hatte nämlich, da der Fluß von Ghazipore bis Benares sich in mächtigen Windungen schlängelt, die Flottille den ganzen Tag weiter segeln lassen, um sie in der Nacht an einem bestimmten Punkt einzuholen, zu welchem Zweck die Offiziere ihnen bereitwillig einen Zweispänner und einen Dogcart zur Verfügung gestellt hatten. Im letzteren saß also Amanda neben dem kutschierenden Arthur – an sich keine üble Situation, da man auf diesem freien, erhöhten Sitz die herrliche Fahrt in der erfrischend kühlen, balsamischen Nachtluft durch die stille, weit und breit vom Monde erleuchtete Landschaft mit ihren großen Bäumen, ihren Hügeln und kleinen Ruinen viel besser als im großen Wagen genoß. Wenn nur nicht eben dies neue, ihr so ungewohnte Bewußtsein dagewesen wäre, sich nicht gehen lassen zu dürfen, aufpassen zu müssen, damit die Stimmung nicht zu romantisch würde, was ihren Genuß ziemlich beeinträchtigte. Sie atmete sogar erleichtert auf, als sie die silberglänzende Biegung des Flusses mit den schwarzen Punkten der Flottille sah, ohne daß etwas Beunruhigenderes passiert wäre, als daß er ihr ein paarmal versichert hatte, er würde diese Nacht nicht vergessen, wenn er auch hundert Jahre alt würde, und daß ihre Herrlichkeit in sein nächstes Erdenleben noch hineinklingen müsse; wobei ihr nicht ganz leicht war, die Fiktion aufrecht zu erhalten, daß solche Einzigartigkeit dieser Nokturne lediglich auf die Rechnung der umgebenden Natur zu schreiben sei.
Und nun standen sie alle auf dem hohen Achterdeck der ersten Budgera ihrer Flottille; alle im höchsten Stadium gespannter Erwartung – mit Ausnahme der unerschütterlichen Bärbele, die sich zum ersten und letzten Male – freilich ohne es zu wissen – in Übereinstimmung mit einem großen indischen Worte befand – mit dem nämlich, daß es dem Weisen gleich gilt, ob er in Benares oder in einer Hundehütte sterbe; nur hatte sie insofern eine noch höhere Warte des Gleichmuts erstiegen, als es ihr auch gleichgültig war, welches von beiden sie sähe.
Jetzt sah sie Benares.
Wenigstens sahen es die anderen.
Ja, da lag sie vor ihnen, auf dem hohen Ufer sich amphitheatralisch aufbauend, im glitzernden Wasser widergespiegelt –die heilige Stadt am heiligen Strom!
Kühler Schattendunst webte einen violetten Schleier über die Treppenreihen und Torbogen der Ghats,Ghat: Landungs- oder Badeplatz mit prächtigen Treppenanlagen, von hervorspringenden, kioskgekrönten Basteien unterbrochen, und oben oft durch prächtige Torbauten architektonisch abgeschlossen. und neue Fäden zogen sich in dies Gewebe hinauf von den Rauchknäueln der auf den Leichenverbrennungsstätten am Ufer glimmenden Scheiterhaufen. Goldiges Helldunkel umflutete mystisch das Durcheinander und Übereinander der Tempel – die Stadt schien nur aus solchen zu bestehen – stufensteigende Terrassendächer, Pyramiden, runde Kuppeln und hochgestreckte Kuppeln und ganze Kuppelbünde, altersschwarze und elfenbeingelbe, blutrote, besternte und güldene. Und über diesem ganzen bunten und wilden Gewimmel thronte in einsamer und erhabener, majestätischer Ruhe, wie weiland die Mogulmacht über das zersplitterte Hindutum, Aurangzebs Moschee, die mit ihren einfachen arabischen Formen dem ganzen Bild erst das entschieden orientalische Gepräge, den Zaubertempel tausendundeinnächtiger Märchenpoesie aufdrückte, indem sie ihre glänzenden Kuppeln und die beiden fast überschlanken Minareten gegen den Abendhimmel erhob – einen Himmel, in dessen Tiefe alle Rosen, die je auf den Feldern Ghazipores ihr feuriges, duftiges Blumendasein gefristet haben, in verklärter Gestalt zu überirdischer Wonne wiedergeboren zu sein schienen.
– Dachte ich mir's doch, sagte Edmund – daß dies sehenswert sein müsse: da doch ein schwacher – sehr schwacher Abglanz genügt hat, um mich überhaupt hierher zu bringen.
– Da möchte man ja wirklich mit den indischen Fabeltieren die neugierige Frage stellen: »Wie war das?«
– O, keineswegs fabelhaft, mein lieber Professor, sondern überaus einfach. Ich hatte die Absicht, nach Amerika zu gehen, um zu sehen, wie die in Europa geknebelte Freiheit sich dort gebürdete. Eines Tages besuchte ich einen Freund in London, um Abschied zu nehmen. Während ich im Salon wartete, blätterte ich in einem illustrierten Reisewerk, und das erste Bild, worauf mein Blick fiel, war ein feiner Farbendruck von Benares. Dieser Anblick – was der für einen Eindruck auf mich machte – – – nun, ich denke, er hat mich da berührt, wo ich meinen Strich mit dem TeerpinselDer Teerpinsel: a touch of tarbrush ist der gewöhnliche Ausdruck in Indien für einen Engländer, der Hindublut in seinen Adern hat. bekommen habe; jedenfalls sehen Sie die Wirkung, daß ich jetzt hier stehe und nicht in Amerika bin.
– Einfach kann man das ja nennen, rief Arthur, – ich gestehe aber, daß ich darin eine wunderbare Fügung sehe, für die ich wahrlich nicht dankbar genug sein kann.
– Nun, das nenne ich wahrhaftig einmal ritterliche Gefühle, deren Äußerung mir im tiefsten Herzen wohltut, sagte Edmund im aufgeräumtesten Ton und klatschte Arthur auf die Schulter. – Glänzende äußere Vorteile hat dir mein Herkommen ja nicht gewährt; deine Freude darüber darf ich also ganz auf die Rechnung meiner Persönlichkeit schreiben.
Der spöttische Sinn seiner Worte klang so deutlich heraus, daß Arthur sich genötigt sah, anstandshalber zu äußern, er habe den Kanzleidienst in Kalkutta herzlich satt und sehne sich sehr danach, Land und Leute kennen zu lernen, so daß Edmunds Ankunft, die ihm Gelegenheit dazu böte, allerdings auch abgesehen von verwandtschaftlichen Gefühlen, ein wahrer Segen für ihn sei. –
Als ob es nicht genug wäre, daß der junge Schotte bei dieser Ausflucht, mit der Durchsichtigkeit der blonden Naturen, bis unter sein sandfarbiges Haar hinauf errötete, mußte er außerdem noch Amanda einen entschuldigenden Blick von solcher Beredsamkeit schicken, daß sie froh war, sich in den Anblick von Benares vertiefen und darauf bezügliche Fragen an ihren Vater richten zu können.
Kein Zweifel, daß es sich hier um etwas mehr als um eine durch die Einförmigkeit einer Flußreise in Bewegung gesetzte und durch den Mangel an Auswahl dirigierte elementare Übung des jugendlichen Herzens handle. Kein Zweifel auch, daß dieser Jüngling so treu und zuverlässig sei, wie das Metall, nach dem er sich nannte. Und so sah sie sich denn gebieterisch der Frage gegenübergestellt, ob sie wohl imstande sein würde, das Gefühl, das aus diesen gewöhnlich recht kalten stahlblauen Augen ihr so warm entgegenleuchtete, jemals zu erwidern.
Damals, angesichts des von der seligen Röte des Sonnenunterganges am Himmel und im Wasser umleuchteten Benares, wußte sie diese entscheidende Frage nicht zu beantworten.
Heute, angesichts des im sterbenden Abendlichte finster und drohend sich erhebenden Rajapalastes, wußte Amanda, daß sie jene Frage verneinen müsse: – nie würde sie den braven jungen Schotten lieben können. Ihr Herz war vergeben.
Die so urplötzlich erweckte Vorstellung, daß Edmund eine andere liebe, und die gleichzeitig auftauchende Angst vor einer ihm drohenden Lebensgefahr, hatte ihr Innerstes mit solcher Macht aufgewühlt, daß das Verborgenste an den Tag gekommen war. Die Bekanntschaft mit jener anderen aber, und der Eindruck, den diese auf sie gemacht hatte, steigerten durch bittere Schärfe das Liebesbewußtsein bis zur höchsten, fast unerträglichen Klarheit.
Ja, sie liebte Edmund!
O wie verschieden war dies rückhaltlose Selbstgeständnis von jener schüchternen Frage in Heidelberg! Hier gab es aber auch keine süße Unruhe mehr, keine belebende, freudige Hoffnung: alles schien hier Drohung, Enttäuschung, Entsagung und Verzweiflung zu sein.
Und doch hätte sie dies nicht gegen jenes vertauscht. Doch hätte sie nicht wünschen können, daß sie nie das liebliche Neckarstädtchen verlassen und ihren Fuß nie auf das Deck einer englischen Brigg gesetzt hätte. Was konnte sie überhaupt jetzt wünschen? Nichts! – nur verharren konnte sie in der Gegenwart.
Denn in die Zukunft hinausblickend, was wurde sie wohl dort gewahr? Was war das Nächste? – Vielmehr: was war das Neueste, das irgendeine Aussicht eröffnete? Sie wußte, daß etwas Neues hinzugekommen sei; noch an diesem Tage, wo sich so manches zusammenfand, war es hinzugekommen ... Sie mußte die Hände an die Schläfen pressen, um ihre Gedanken gewaltsam zu sammeln.
Richtig! da war es: – Edmunds Mission nach Afghanistan.
Diese Mission – wenn er sie annähme, würde sie ihn von ihr entfernen? Auf wie lange? Auf immer vielleicht! Ja, wahrscheinlich auf immer. Kala Rama hatte nicht verschwiegen, daß die persönliche Gefahr, die mit dieser Sendung verbunden war, eine sehr große sei. Und außerdem: der Ruf der Afghaner als das verräterischste und mordlustigste Räubervolk auf Gottes Erden war in Nordindien, das sie so oft entvölkert hatten, lebendig genug und auch ihr nicht unbekannt geblieben.
Und dennoch hatte sie selbst ihm geraten hinzugehen, hatte das bißchen, was sie von Überredungskunst besaß, in Worten, Blick und Miene aufgeboten, um bei ihm die Überzeugung zu wecken, daß es seine Pflicht sei, nach Afghanistan zu gehen. Wie hatte sie nur das tun können? Wie, wenn ihre Verwendung das letzte Lot wäre, das die Schale zum Sinken brächte! Wenn sie es wäre, die ihn in den Tod schickte!
Amanda bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. Ein Zittern ging über ihren ganzen Körper.
Dann erhob sie entschlossen den Kopf: –
»Lieber die afghanischen Löwen als die indische Schlange!«