Karl Gjellerup
Die Weltwanderer
Karl Gjellerup

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

Der Nautsch

Unterdessen hatte Amanda Zeit gefunden, sich einen passenden Moment auszusuchen, um Kala Rama für sein fürstliches Geschenk zu danken. Indem sie nun dabei seine Hand küßte, flüsterte sie:

– Ich muß Sie heimlich sprechen, Exzellenz: ich habe Ihnen eine Sache von höchster Wichtigkeit anzuvertrauen, die keinen Aufschub duldet.

– Sobald diese Schaustellung vorüber ist, meine liebe Memsahib, werde ich Sie hinführen, wo wir ganz ungestört miteinander sprechen können.

– Wenn es dann nur nicht zu spät – –

– O, seien Sie ohne Sorge, es wird nicht gar zu lange dauern. Mit diesen Worten führte er Amanda zu den Ehrensitzen der ersten Reihe und lud Sir Edmund ein, sich an seine andere Seite zu setzen. In einem Augenblick hatten alle Anwesenden Platz genommen, wodurch nur ein Teil der vordersten Sitzreihen bevölkert wurde.

Zwei, wie es schien, in alte Shawltücher gewickelte Inder betraten von entgegengesetzten Seiten die kleine Arena, jeder einen Widder haltend, dessen Kopf ebenfalls in ein Tuch gewickelt war. Sofort war alles ein Geschrei und ein Wirrwar von schnalzenden und gespreizten Fingern, als ob sie alle Morra spielten. Es war das Wetten, das losging. Die Köpfe der Widder wurden enthüllt, und ohne sich einen Augenblick zu bedenken, stürzten die beiden Tiere aufeinander los und begegneten sich in der Mitte der Arena mit einem solchen Krach, daß Amanda einen kleinen Schrei ausstieß, in der Erwartung, die armen Tiere mit zerschmetterten Köpfen daliegen zu sehen. Sie prallten aber nur zurück wie ein paar Billardkugeln, um sich sofort wieder mit einem noch fürchterlicheren Krach zu begegnen, aber ohne eine andere, sichtbarere Wirkung als die erstere.

Edmund lachte laut: Er sei sonst nicht gerade ein Neidhammel, aber diese beiden Widder beneide er; wußten sie doch offenbar nicht, was Kopfweh sei. Professor Eichstädt aber pries den Vorzug eigener Anschauung; – von jetzt ab wisse er, warum die Alten ihren Sturmböcken Gestalt und Namen des Widders gegeben hätten.

Nach dem dritten Zusammenstoß wurden die streitbaren Tiere – offenbar sehr gegen ihren Willen – auf den Wink Kala Ramas entfernt, zur größten Beruhigung Amandas, die an dieser rajputanischen Volksbelustigung durchaus keinen Gefallen fand, was ihr der Minister wohl anmerkte.

– Ich fürchte, Memsahib, sagte er, daß dieses Beispiel unserer volkstümlichen Gebräuche Ihnen wenig zugesagt hat – oder eigentlich kann ich nicht sagen, daß ich es fürchte, da ich es nicht anders erwartet habe. Auch schien es mir nicht wahrscheinlich, daß die nächste Nummer, die das Programm von Rechts wegen hätte aufzeigen müssen, besseres Glück bei Ihnen gehabt hätte, weshalb ich sie gestrichen habe. Eigentlich hätte nämlich jetzt ein Wachtelkampf folgen müssen.

– Ein Wachtelkampf, Exzellenz? Sie meinen doch nicht, daß die kleinen Vögel miteinander kämpfen?

– Ach, davon haben Sie noch nichts gehört, Memsahib? Das ist ja ein uralter, höchst beliebter indischer Sport.

– Nein, wie die Menschen doch grausam und gemein sind! Diese lieben, kleinen Vögel, die so herzig in unseren Wäldern singen – »Fürchte Gott« rufen sie, meint das Volk – das klingt so frisch und klar wie das Sprudeln einer Quelle. Ich wurde immer froh, wenn ich es hörte – unser großer Beethoven hat auch den Wachtelruf so lieb gehabt, hat ihn in Musik gesetzt – und diese kleinen Tiere hetzt man hier aufeinander, natürlich um seiner Spielwut zu frönen und Wetten zu machen – das ist wirklich recht abscheulich! – Ich will diese böse Sitte gegen Ihren gerechten Zorn nicht verteidigen, Memsahib, sagte der greise Minister mit sanftem Lächeln. Wenn die Tierchen auch selber etwas streitbar sind, geziemt es gewiß nicht den Menschen, ihre Leidenschaft noch künstlich anzufachen, um dabei ihrer eigenen Spielwut zu frönen. Um so mehr freut es mich, daß ich so voraussehend war, diese Nummer zu streichen. Wenn aber der sportmäßige Anfang dieser Schaustellung Ihnen mißfallen mußte, so werden Sie, hoffe ich, reichlichen Ersatz durch die letzte Darbietung finden. Ein zartes Spiel, recht für Frauenseelen geschaffen – wie es denn auch in der Tat eine besondere Aufmerksamkeit für Sie seitens der Rani ist.

Amandas ehrliches Gesicht zeigte nur zu deutlich, daß sie sich von einer Aufmerksamkeit der Rani nicht größeres Vergnügen verspreche, als von den brutalen Sportspielen Altrajputanas.

Der Stimmenlärm der enttäuschten Wettenden verstummte jetzt plötzlich. Ein großes weißes Tuch war über den Boden für den Nautsch gebreitet worden, und zwei Nautschnis erschienen jetzt – eitel duftige zartfarbige Musseline, blitzende Juwelen, glänzende Goldspangen. Sie machten ihren Salam vor dem Minister und den fremden Gästen, gaben ihren drei im Hintergrunde kauernden Musikanten ein Zeichen, hoben die Arme in die Höhe und stimmten, beim ersten Ton der Instrumente, ein populäres Lied an mit einem Temperament, das sofort die Zuhörer zu lautem Beifall hinriß, während Amandas Ohren nicht wußten, ob sie am meisten durch diese schreienden und öfters dissonierenden Stimmen oder durch das ewige Feilen auf derselben Kadenze und das blödsinnige Tam-Tam der Begleitung beleidigt sein sollten. Der Tanz aber, womit die Nautschnis ihren Gesang illustrierten, fesselte sie sofort durch seine Anmut und lebhafte Ausdrucksfähigkeit. Im Anfange waren die Bewegungen sanft, als unwillkürliche Kundgebungen eines stillen Behagens, während die Tänzerinnen ihren Chuddur, den farbigen Musselin, der den Oberkörper bedeckte, mit größter Behendigkeit abwickelten und umwickelten, wobei sie Formen von statuenhafter Schönheit entschleierten und verhüllten. Als dann aber die Musik anschwoll, wurden Haltung, Bewegungen und Mienen immer lebhafter; Sehnsucht, Hoffnung, Furcht, Eifersucht und Haß redeten abwechselnd ihre unverkennbarste Sprache, bis schließlich Musik und Gesang, gegenseitig einander steigernd, die beiden Mädchen zu wahren Verkörperungen der glühendsten Liebe und des hoffnungslosesten Verzweifelns umzauberten – offenbar dem Inhalt der volkstümlichen Ballade entsprechend, die sie vortrugen.

Die Worte waren freilich Amanda unverständlich. Sie vermißte sie aber nicht. Längst war jedes Sichsträuben der Sinne und des Geschmackes gegen fremdartige Tonleitern, Intervalle, Rhythmen oder Klangfarben dahin. Wie könnte auch Kritik sich regen, wo alles unmittelbares Erlebnis wurde? War denn dies nicht ihre eigene Liebe, in ihrem leisen, ahnenden Aufkeimen, ihrer vergeblichen Hoffnung, ihrer starren Versteinerung dem Medusengesicht einer verneinenden Zukunft gegenüber? Aber nicht nur ihr eigenes Gemüt wurde ihr klarer denn je entschleiert, auch die Zuckungen anderer Herzen durchzogen das ihre. Dieser Aufschrei wildesten Verlangens, diese halb flehenden, halb gebieterischen Blicke, dies ungestüme Umarmen eines Luftbildes – war das nicht die Leidenschaft, welche die Rani zu Edmund zog; und diese gärende Unruhe, dieser Sturm eines phantastischen Wollens, dieser Rausch einer schwärmenden Phantasie, der das ganze Wesen in seinen Wirbel hineinsaugt – so mochte es wohl in Edmunds Innerem aussehen. Aber auch dies kam ihr mit unbarmherziger Deutlichkeit zum Bewußtsein, wie schlicht, gerade und treu dieser junge Hochländer an ihrer Seite sie liebte – und ach! wie grausam unbelohnt, auch diese, mutmaßlich nur im fernen Norden einheimischen Gefühle schienen im Gesang und Tanzspiel der beiden Hindumädchen Leben zu gewinnen – sei es nun, daß wirklich ähnliches ausgedrückt wurde, sei es, daß Amanda, in der einmal erreichten hellseherischen Erweiterung ihres Gemütes, nicht umhin konnte, auch ihn zu umfassen, dessen Blick um so öfter auf ihr ruhte, als er von diesem langdauernden und etwas einförmigen Ballett herzlich wenig hatte.

Solchermaßen im Innersten aufgewühlt, von eigenen und fremden Leidenschaften zerrissen, sah Amanda nur halbbewußt, wie die beiden Nautschnis unter endlosem Beifall in den Armen ihrer herbeieilenden Wärterinnen erschöpft zusammenbrachen, und, in große Tücher gehüllt, als schwankende Gestalten hinausgeleitet wurden, während ihre Musikanten, die sich nicht weniger ausgegeben und schließlich wie in Trunkenheit ihre Instrumente behandelt hatten, in einem Häufchen keuchend dalagen.

Da lief eine Welle der Erregung durch die Reihen. Ein Namen tanzte von Mund zu Mund: – Punna – Punna!

Punna – eine der berühmtesten Nautschnis Indiens, die präsumptive Erbin Alfinas, »der Catalani des Ostens«, und schon von vielen dieser vorgezogen, wegen ihrer jugendlichen Frische. Sie trat ein – und was ihre beiden Vorgängerinnen an Pracht entfaltet hatten, schien einer schlechten Theatergarderobe angehören zu müssen. In der Tat schätzte man den Schmuck, den sie trug, auf viertausend Pfund Sterling, wovon ein nicht geringer Teil auf ihren Nasenring fiel, ein gebogener Strahl von Diamanten- und Smaragdglanz. Aber man vergaß gar bald ihren Schmuck über ihrer Schönheit, die nicht, wie die ihrer meisten Kunstschwestern, dem üppigen jüdischen Typus angehörte, sondern schlank und zart war, Arme und Hände, Knöchel und Füße von der vollendetsten Symmetrie, ihr kleines, liebliches Gesicht durch eine rührende Sanftmut verklärt, die aus ihren großen, kindlichen Augen herausstrahlte. Sanft und weich war auch ihre Stimme, und so waren die Lieder, die sie vortrug – sehr verschieden von denen ihrer Vorgängerinnen, auch in ihrer edleren und dem europäischen Ohre faßlicheren Melodie, Punnas Silbertöne fielen wie Balsamtropfen in das aufgeregte, zerwühlte Gemüt Amandas. Besonders ein Lied, das letzte, ergriff sie tief. Kala Rama flüsterte ihr zu, es sei eine einheimische Volksweise, die wohl aus ganz alter Zeit herstammen mochte. Sie kam Amanda merkwürdig bekannt vor, aber lange bestrebte sie sich vergebens, sie mit irgendeiner Erinnerung zu verknüpfen. Sie suchte zu weit zurück, denn es wollte sie bedünken, als müsse sie diese Töne in ihrer frühesten Kindheit gehört haben: und mit einem Male wurde sie inne, daß ihre Bekanntschaft mit ihnen aus allerneustem Datum war. Jenes Nachsummen zur Juggurt-Ballade, das sie gestern, als die Rani ihr vorsang, so stark bewegt hatte, war die Materie, aus der sich diese einfache Weise gebildet hatte: was aber dort in seiner Formlosigkeit unsagbar wild und öde klang, das hatte hier, unter Beibehaltung der Melancholie, eine milde, ja fast trostverheißende Gestaltung gewonnen, die für Punnas Stimmklang und Vortragsweise ebenso gut paßte, wie jener Wüstencharakter für die der Rani.

Wovon das Lied selbst handelte, konnte sie nicht wissen. Es mochte von Zweien singen und sagen, die sich nach langer, langer Trennung wiederfanden, sich nach langer, langer Verkennung wiedererkannten. So wenigstens wurde ihr bei den Tönen zumute. Und als sie nach Edmund hinüberblickte, sah sie zu ihrer größten Verwunderung, daß er ebenso ergriffen lauschte, wie sie selber, daß er ähnliches, wo nicht gar dasselbe fühlte. In seinen großen, dunklen Augen blinkte es feucht. Ihm gelang es, die verräterische Träne zurückzudrängen; die ihre trat über den Rand des Augenlides und rollte die Wange hinunter, und zwar gerade in dem Moment, wo ihre Blicke sich begegneten.

– Es hat uns nicht wenig gekostet, die Punna von Delhi hierher zu locken, sagte Kala Rama leise, aber sie ist nicht vergebens gekommen, und wird es auch nicht bereuen. Ich werde diese Träne für sie eine Perle werden lassen. –

Arthur sah verwundert vom einen zum andern: Was sie nur alle an dem erzlangweiligen Geheule fanden! Ihm war es ja genug Amanda anzusehen, die fast noch lieblicher war, wenn sie weinte, als wenn sie lachte – nur daß es zum Verzweifeln war, sie nicht trösten zu dürfen. Sollte aber überhaupt von diesen Aufführungen Notiz genommen werden, so setzte er seine Hoffnung auf die Akrobaten.


 << zurück weiter >>