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Viertes Kapitel

Wie Jakobli aus der Krankheit kömmt und die Eltern zu Trost

Anne Bäbi besorgte nun mit Fleiß und Weinen den lieben Sohn, und lange wußte man nicht, woaus es wollte; aber noch gar manchmal hatte es zu tun mit Mädi, das sein alt Gestürm immer von neuem anfing und wie die Katz auf die Maus auf Augenblicke paßte, wo es zu Jakobli konnte, um sein altes Salben wieder anzufangen. Wenn man ihns hätte machen lassen, es wäre längst alles gut, sagte es nicht nur, sondern es war auch davon überzeugt.

Lange ging es, bis man wußte, wie es mit Jakoblis Augen stünde, und mehr als einmal schwankte Anne Bäbi zwischen Mädi und dem Doktor; und wer weiß, wenn nicht das weibliche Kraut, die Eifersucht, gewesen wäre, ob sie nicht Mädi vorgezogen hätte. Aber Anne Bäbi empfand etwas von dem, wie ihm wäre, wenn es sein Lebtag hören müßte: «Jä gäll, wenn ich nicht gewesen, kein Mensch wüßte, wie es gegangen wäre, und wenn Mädi nicht ds Wüsteste alles ta hätt, so hättet ihr lang können machen und plären und ech vom Doktor la für e Narre ha!» Darum zog der Doktor vor, und der brachte es so weit, daß er endlich sagen konnte, ein Auge sei gerettet, wenn man noch alle Sorge trage, das andere aber für immer dahin.

Wenn Hansli und Anne Bäbi auch «Gott Lob und Dank!»sagen mußten, so war doch ihr Herzenleid groß, und Mädi sparte weder Winke noch Worte, daß es anders hätte gehen können, und daß es nicht schuld sein wolle; aber wenn man keinen Glauben habe, so gehe es einem so.

Lange mußte Jakobli noch in verfinsterter Stube sich aufhalten; das Licht der Sonne war ihm wie eine Nadel im Auge, und grausam Langeweile hatte er da, wenn auch bald der Hansli, bald der Sami ihm eine Taube oder ein Lämmchen brachten, damit er sehen könne, was es Neues gegeben in seiner Krankheit. In stillem Sinnen verbrachte er meist seine Tage; aber was er sann, sagte er nicht. Geduldig war er dabei, und wenn Andere um ihn jammerten, so wußte man nicht, hörte er, worüber man jammerte. Er klagte über nichts als über Langeweile und wünschte nichts, als bald hinaus zu dürfen vors Haus an die freie Luft.

Schon weit hinaus im Sommer war es, als der Doktor ihm erlaubte, mit einem grünen Schirm vor den Augen an Licht und Luft zu gehen. Anfangs mochte er es kaum ertragen, und dabei ward er so schwach und matt, daß er immer froh war, wenn er wieder in sein Stübchen kam. Allmählig aber erstarkete er wieder, daß er vor dem Hause sitzen konnte, und Anne Bäbi stellte ein Körbchen mit Erdäpfeln, ein Kacheli mit Haber neben ihn, und da vertrieb er sich die Zeit, daß er Hühner und Tauben lockte und fütterte. Diese kannten ihn noch von alten Zeiten her und flogen neben ihn und pickten ihm aus der Hand, was er drinnen hatte. Und wenn er einen Gang in den Stall wagte und da seine Schafe rief, so hatten auch diese seine Stimme nicht vergessen, und sie sprangen an ihn hin, und die Widder rieben ihre Köpfe an seinen schwachen Beinchen, daß er sich halten mußte, und blökten ihm nach, wenn er wieder ging. Aber wenn er vor dem Hause saß und Menschen kamen – die kannten ihn nicht und erschraken ab ihm. Viele gingen am Hause vorbei auf das Feld; wenn sie ihn vor demselben sitzen sahen, so kamen sie herbei, stellten sich vor ihn und sagten: «Herr Jemer, wie siehst du doch aus! Keinem Mensch käme der Sinn daran, daß du der alte Jakobli wärest; man fürchtet sich fast ab dir. Und ists wahr, du seiest halb blind und sehest an einem Auge nichts mehr und am andern nicht viel? Zeig doch! Eh Herr Jemer, Herr Jemer, ich wollte nicht, daß ich ein solches Kind hätte! E Leide bleibst du dein Leben lang; es wäre dir fast nützer, du wärest gestorben.» Solches hörte Jakobli des Tages manchmal, und er hörte es mit stiller Ruhe, man sah ihm nicht an, daß solche Reden ihm wehtäten; nur schien es ihn manchmal zu beißen im Gesichte, aber man meinte, das sei noch ein alter Rest, und frug ihn: «Beißt es dich denn noch immer?» Dann sagte Jakobli: «Nein, aparti just nit.»

Desto tiefer gingen solche Reden dem Anne Bäbi; Zorn und Leid rissen gewaltig an seinem Herzen. Es war nicht Zorn über Jakobli, daß er nicht mehr so schön sei. Man hat Beispiele von Müttern, welche ihre Töchter haßten, weil sie nicht hübsch waren, Beispiele von Müttern, welche jahrelang ihren Töchtern kein gutes Wort gaben, weil dieselben nicht so hübsch aus dem Welschland kamen, als sie es sich vorgestellt hatten. Es war bei Anne Bäbi Zorn über die Leute, welche solches sagten; es schien ihm, als ob sie noch ihre Freude daran hätten; es war ihm, als sei Jakobli nicht halb so wüst, als hätten auch Viele Kinder daheim, die noch zehnmal wüster als Jakobli wären, wo es dann noch lange nicht tauschete mit ihnen. Wenn auch Jakobli nicht so wüst war wie manch ander Kind, so war er doch nicht mehr der alte Jakobli; man kannte ihn allerdings fast nicht mehr, und wer war schuld daran? Wenn Anne Bäbi dieses dachte, so kam ihm ein Leid, welches ihm fast das Herz zerreißen wollte. Warum hatten sie ihn nicht impfen lassen; warum hatte es ihm seine letzte Freude genommen, es erzwängt, daß er mit ihm dem Kabis und Flachs nachging; warum nicht auf seine Klagen gehört, es erzwängt, daß er noch zu den Bäumen mußte; warum den Doktor nicht zur rechten Zeit geholt, ihm nicht geglaubt; warum Mädi machen lassen; warum nur gejammert und nicht selbst Hand angelegt?

Wenn so diese Warum eins nach dem andern vor Anne Bäbi aufstiegen, so hintersinnete es sich fast und wußte nirgends Trost; es gab ein Gehaspel in seinem Kopf, daß es ihns dünkte, seine Gedanken seien wie eine verhürschete Strange und hätten keinen Anfang und kein Ende. Bald dünkte es ihns, die andern seien noch mehr schuld daran als es selbst, und es müßte es ihnen vorhalten, und es könnte keine Stunde mehr mit ihnen im Frieden sein. Dann kam es ihm wieder vor, als sei es der einzige Sünder, und als müßte Jakobli ihns hassen und verfluchen als die böse Mutter, welche ihn gequält und um alle Lebensfreude gebracht. Dann wurde ihm so grusam angst, daß es nirgends ein Bleiben hatte, bis es bei Jakobli war, und manchmal stund es mitten in der Nacht auf und ging zu ihm und bat ihn, er solle es doch dr tusig Gottswillen nicht hassen, es nicht verfluchen, sondern es noch liebhaben, nur es klys Brösmeli. Es wolle alles für ihn tun, was es ihm an den Augen absehe; werchen solle er keinen Streich mehr; und wenn ihn etwas gelüste, so müsse er es haben, und sollte es tausend Pfund kosten.

Hansli war nicht so angegriffen; die Hauptsache war ihm das Leben, und das hatte Gott ja erhalten. Schön oder wüst sei ein Tun, sagte er; sterben müsse man beid Weg, und selig werden könne man auch beid Weg. Jakobli sehe doch an einem Auge, und er wisse manchen Halbbling, der so glücklich sei als die Angern. Die Hauptsache sei, daß man gesund sein könne und werchen möge; und wenn Jakobli nicht gesund sein könnte, so wäre es schier besser für ihn, er hätte sterben können. Es hätte wohl Längizyti gegeben, aber man müsse es nehmen, wie es komme, und zuletzt gewöhne man sich an alles. Und wenn Anne Bäbi so jammerte über ihre Versäumnis und werweisete, woran allem es schuld sei, so sagte Hansli: «He, ich wollte die Sache nicht so schwer nehmen, öppe viel an der Sach machen wir nicht; wir können es da Weg oder diese Weg machen, es kömmt öppe aufs Gleiche heraus; es ist ein Anderer, und der befiehlt; und wenn der nicht will, so kann man lang.»

So saß Jakobli auch einmal auf einer Bank, es war an einem schönen Sonntagabend. Der Wind wiegte sanft die Pappelbäume hinterem Hause; Feierabend läutete es im Dorfe; in der Küche sprätzelte das Feuer; Tauben und Hühner spazierten vor der Küchentüre; unterm Küchenfenster saß die große schwarze Katze und putzte sich. Zwischen den Vorbergen und den weißen Häuptern blitzte es aus einem schwarzen Wolkenstreifen; aber majestätisch stieg die Sonne nieder am wolkenlosen, goldenen Abendhimmel. Unter die Küchentüre trat Anne Bäbi und sagte: «Es will nicht Regen kommen, und Regen wäre doch so gut für den Lewat und andere Sachen mehr.»

Und wie Anne Bäbi das sagte, kam der Pfarrer auf die Bsetzi vor dem Hause, fast wie vom Himmel herab, denn kein Brösmeli hatte man von ihm gemerkt. Anne Bäbi erschrak gar gewaltig, doch fliehen konnte es nicht mehr. Es wischte geschwind die Hände am Fürtuch ab und sagte: «Herr Jemer, jetzt kömmt noch gar der Pfarrer!» reichte ihm die Hand und hieß ihn hereinkommen. Derselbe aber wollte nicht, sondern setzte sich auf die Bank neben Jakobli und sagte, es hätte ihn schon lange wunder genommen, wie es gehe dem armen Knaben. Da er jetzt vorbei spaziert sei und ihn vor dem Hause gesehen, so hätte er gedacht, er wolle ihn grüßen und sehen, was er mache; er sei ihm immer ein lieber Bub gewesen und gar herzlich leid, als er vernommen, daß Jakobli so übel krank sei. Früher sei er nicht gekommen; er wisse wohl, die Leute hätten es ungern manchmal, wenn der Pfarrer plötzlich und ungerufen zu einem Kranken käme, weil die Leute gleich ein Gerede davon machen und der Kranke leicht erschrecke und meine, jetzt müsse er sterben, es fehle nicht.

«Ja, ja, Ihr habt recht, Herr Pfarrer, es ist so», sagte Anne Bäbi, «aber es hätte uns doch gefreut, wenn Ihr gekommen wäret; man hätte dem Jakobli nichts davon zu sagen gebraucht, damit er nicht erschrocken wäre von wegen dem Sterben. Aber gället, Herr Pfarrer, wie er doch auch aussieht, man darf ihn kaum mehr ansehen, und kein Mensch, wer ihn früher nicht gekannt hat, würde glauben, wie schön er gewesen wäre. Und luegit, gschauit, Herr Pfarrer, nur ein Auge hat er noch, nur ein Auge! Gället, Ihr hättet ihn nicht wiedergekannt, wenn er Euch so ungefähr begegnet wäre auf dem Wege?» «Ja, freilich, Frau, er hat geändert; aber so, wie die Leute geredet, habe ich mir die Sache viel ärger vorgestellt», antwortete der Pfarrer. «Das Auge, welches noch da ist, scheint gesund, und das Gesicht ändert noch gar viel; wer weiß, ob er nicht das Meiste noch auswächst, so daß man ihm in ein paar Jahren wenig oder gar nichts mehr ansieht.» «O Herr Jemer, wie wär das gut, Herr Pfarrer! Wir brauchten uns dann nicht mehr so ein Gewissen zu machen. Ich muß sagen, ich weiß manchmal nicht, wo ich sein will, und es ist mir schon manchmal angst geworden, ich mache noch etwas Lätzes» (ein Ausdruck, mit welchem der Selbstmord bezeichnet wird).

«Eh Frau, Ihr müßt nicht so reden, mit solchen Reden läßt sich nicht spaßen; und wenn man schon etwas auf dem Gewissen hat, mit solchen Reden kömmt man ihm nicht ab», antwortete der Pfarrer. «Guten Abend, Herr Pfarrer!» kams vom Ecken her, und Hansli steckte sein Pfeifchen in die Busentasche und setzte noch hinzu: «Ihr seid seltsam, Herr Pfarrer, bei uns.» «Ich bin afange alt», sagte der Pfarrer, «komme nicht viel mehr vom Hause weg; ich lasse den Vikari machen. Aber der Jakobli ist mir immer lieb gewesen, und als ich ihn da sitzen sah, wollte ich sehen, wie es ihm gehe; wie es mir scheint, Gottlob, recht ordentlich.» «He, nit bös, es könnte böser gehen; man muß es annehmen, wie es unser Herrgott schickt, und sich drein schicken. Wenn man sich schon wehren wollte, es würde, denk ich, nicht viel helfen. Es macht frein Wetter.» Nun antwortete der Pfarrer darauf, ein Wort gab das andere, und sie verweilten sich eine Zeitlang.

Als der Pfarrer eben gehen wollte, noch gegen die Küche ging, um Anne Bäbi gute Nacht zu sagen, kam dasselbe heraus und sagte: «Herr Pfarrer, jetzt geht mir nicht, Ihr müßt noch mit uns ein Kaffee trinken, wenn Ihr uns nicht scheuet. Aber die Sache ist sauber, und es freute uns alle grausam wohl, bsonderbar Jakobli.» Er hätte es nicht nötig, sagte der Pfarrer, und er sollte eigentlich heim; seine Frau werde nicht wissen, wo er sei, und was es ihm gegeben; aber wenn es doch zweg sei, so wolle er sich nicht eigelich machen.

Als sie endlich in der Stube saßen und Anne Bäbi allen eingeschenkt hatte, siebenmal hinaus gelaufen war und zuletzt auch saß und trank, so ging ob dem Kaffee das Herz ihm noch weiter auf, und es sagte: «Ja, Herr Pfarrer, es weiß kein Mensch, was es ihm geben kann, und ich hätte keinem Menschen es geglaubt, wenn er mir gesagt hätte, daß ich mir einst vorkommen sollte nicht viel besser als ein Mörder und längs Stück nicht wüßte, was besser, Feierabend mache, eine schöne Glungge oder ein batziger Hälsig.

«Eh Anne Bäbi», sagte Hansli, «denk auch, was du redest, und daß der Pfarrer da ist und meinen könnte, es wäre dir Ernst!» «Schon vorhin», sagte der Pfarrer, «habt Ihr mir so etwas gesagt, ich wußte nicht, was ich daraus machen sollte; aber es muß doch etwas in Euerm Herzen sein, das nicht recht ist.» «Herr Jemer, Herr Pfarrer! Die Leute werden Euch schon davon geredet haben; Ihr werdet wohl wissen, was mich drückt.» «O nein, Frau! Was die Leute reden, weiß ich nicht, und wenn mir schon etwas zugetragen wird, so lasse ich es liegen, wo man es ablegt. So geschieht es mir oft, daß ich Dinge, welche die Kinder auf der Gasse verhandeln, entweder gar nicht vernehme oder oft jahrelang nachher.»

«Herr Pfarrer, ich kann es Euch fast nicht sagen; aber allemal wenn ich unsern Bub ansehe, so kommt es mir neu über das Herz, und ich muß immer denken, wenn wir ihm hätten die Blattern geben lassen, so war es nicht so gegangen, und er wäre noch wie die Andern und hätte noch beide Augen und es Gsicht wie ne Mönsch.»

«Aber warum habt ihr ihn eigentlich nicht impfen lassen, es ist doch jetzt fast allgemeiner Brauch?» Da seufzte Anne Bäbi tief auf, und Hansli sagte: «Apart haben wir nicht viel darüber geredet. Ds Anne Bäbi hat gesagt, es grus ihm schier, so dem armen, unschuldigen Kind expreß Schmerzen zu machen, und wüßte man doch nicht, ob es eigentlich nötig wäre oder nicht; und ich habe bei mir selbst gedacht, das sei so eine neue Mode, und wenn der liebe Gott nicht gewollt hätte, daß die Kinder die Blattern bekommen sollten, so hätte er sie nicht kommen lassen, und dem lieben Gott so seinen Willen z'hingerha, das het mir sich neue nit welle schicke.»

«Aber Hansli», sagte der Pfarrer, «wenn Ihr die Sache so nehmt, so hättet Ihr auch denken können, der liebe Gott hätte das Impfen nicht erfinden lassen, wenn er nicht gewollt hätte, daß man damit gegen die Blattern sich wehren könne.» «Ja, Herr Pfarrer, Ihr habt recht! Aber von dem Impfen, oder wie man ihm sagt, weiß man, von wem es kömmt, man kann ihm den Namen geben; aber von den rechten Blattern, da weiß man nicht, woher die kommen; drum kommen die gerade von Gott wie die andern Krankheiten auch; und was von Gott kömmt, soll man in Geduld annehmen.»

«Alles mit Unterschied, Hansli!» sagte der Pfarrer. «Wenn das Haus über Eurem Kopf angeht, in volle Flammen kommt, sagt Ihr auch, daß es des Herrn Wille sei, daß Ihr darin bleibet? Braucht Ihr nicht Eure Beine, um aus den Flammen Euch zu flüchten?» «Ja, Herr Pfarrer, es ist so; aber die Beine hat mir Gott selbst gegeben, ich habe sie nur gebraucht.» «Aber so hat der liebe Gott auch den Impfstoff gegeben, das ist eine Krankheit am Kuheuter; und wenn der liebe Gott nicht gewollt hätte, daß man ihn brauche, so hätte er ihn nicht geschaffen.» «Ja wäger, Herr Pfarrer; aber wenn der liebe Gott das mit ihm gewollt hat, so duecht mich, er hätte ihn schon zu Ättis und Großättis Zeiten sollen brauchen lassen. Jetzt kömmt mir das Impfen doch so vor wie eine neue Mode.» «Ja, Hansli, heißt es nicht: ‹Die Ratschläge Gottes sind unerforschlich, und das Früher und Später steht in Gottes Hand›? Oder warum ist der Heiland nicht zu Mosis Zeiten gekommen statt dem Gesetz, und ist auch er nicht zu seiner Zeit eine neue Mode gewesen? Ja, kann man nicht auch sagen, was brauchen wir überhaupt einen Heiland? Wenn Gott uns will selig machen, so braucht es nichts der Gattig. Oder die Erdäpfel, zwar nicht mit dem Heiland zusammengezählt, sind die nicht auch eine neue Mode? Und unser Herrgott hat viel tausend Jahr gewartet, ehe er uns damit aufwartete, und braucht Ihr die nicht auch und je länger je lieber, und je länger je dankbarer?» «Ja, Herr Pfarrer, jetzt habt Ihr mich beschlagen, und ich muß Euch glauben.»

«Seht», sagte der Pfarrer, «es hat alles auf Erden sein Maß, auch die Geduld und die Ergebung in Gottes Willen. Wenn der Bauer sagen würde, wenn es Gottes Wille ist, daß Korn wächst auf meinem Acker, so wird es wachsen, ich mag säen oder nicht, ich will daher Müh und Same sparen, so wird männiglich diesen Bauer auslachen und sagen, er sei verrückt. Oder wenn ein Roß einen Nagel in den Fuß getreten hat und der Fuhrmann sagt: ‹Es war des Herrn Wille, daß der Nagel in den Fuß kam, und wenn es des Herrn Wille ist, so wird er wieder hinaus kommen, darum wäre es Sünde, wenn ich ihn anrühren täte›, so wird man solchen Fuhrmann vogten. Und wenn ein Mensch einen Fehler in seiner Natur hat und er sagt: ‹Den Fehler lege ich nicht ab, den hat mir Gott geordnet, und er wird wissen, wofür; wenn ich ihn nicht hätte haben sollen, so hätte er ihn mir nicht gegeben.› Wenn er mit diesem Fehler sündiget und er sagt: ‹Ich vermag mich dessen nicht, und wenn einem ein Dreck auf die Nase fallen soll, so fällt er einem nicht auf die Schuhe›, würdet Ihr den nicht für einen schlechten Christen halten und ihm sagen: ‹Es stehet geschrieben, das Auge, das dich ärgert, reiße aus›, und je nachdem einer gehandelt hat bei Leibesleben, wird er Lohn empfangen: das ewige Leben die Einen, das Gericht die Andern?

So ist es mit aller Krankheit, leiblicher und geistiger; da hat uns Gott Heilmittel zur Hand gestellt, leibliche und geistliche, und die sollen wir brauchen, dabei aber nicht vergessen, Gott um Segen und Gnade anzuflehen; denn das Gedeihen steht im Leiblichen und Geistlichen in seiner Hand.» «Ja, ja, Herr Pfarrer», sagte Hansli, «jetzt begreife ich es, der liebe Gott hat so immer dWähli, zu machen, was er will, und die Sache la z'graten dä Weg oder diese Weg, und mi gryft ihm nit vor; selb wär mir zwider gewesen. Und wenn wir mehr das Unglück haben sollten, daß jemand krank würde, so muß gmacht werden, was z'machen ist; ghörst, Anne Bäbi!»

Aber Anne Bäbi hörte schon lange nicht mehr, sondern weinte und brach in Jammer aus: «O Herr Pfarrer, Herr Pfarrer! Erst jetzt habe ich keine Ruhe mehr, so wie Ihr die Sache ausgelegt habt; erst jetzt weiß ich es für gewiß, daß wir dem Jakobli hätten vor seinem Unglück sein sollen, und taten es nicht und müssen ihn jetzt unser Lebtag so sehen und immer dabei denken, es könnte anders sein, und er müsse uns hassen und verfluchen deretwegen.» «Aber Müetti, wie redst!» sagte Jakobli, «wie manchmal habe ich dir gesagt, du sollst doch nicht so denken, und ich wüßte ja, daß ihr es gut gemeint hättet und nicht bös.» «Meine gute Frau», sagte der Pfarrer, «es ist mir leid, wenn ich Euch wehe getan habe; aber ich konnte nicht helfen, ich mußte die Wahrheit sagen, und es ist eine Ordnung Gottes, daß wir allen Irrtum mehr oder weniger büßen müssen, und daß es allemal, wenn wir so einen Irrtum in uns entdecken, Herzenleid verursachet. Das ist so, und dieser Ordnung sollen wir nicht wehren und nicht sagen, das macht nichts, und das ist schon manchmal geschehen, ich wollte nicht mehr daran denken, die Sache mir aus dem Kopf schlagen; das sind alles falsche Trostgründe. Wir müssen den Fehler aufrichtig erkennen, und wenn es gut kommen soll, auch aufrichtig sagen: ‹Vater, ich habe gefehlt.› Und gefehlt habt Ihr; aber jetzt fehlt nicht wieder und vergeßt im Jammer nie Gott und seine Liebe! Seht, Ihr habt schon viel gewonnen, daß Jakobli Euch die Sache nicht nachträgt, daß er es erkennt, wie Ihr es gut gemeint.» «Ja, eben das macht mich immer z'pläre, daß er ein so Guter ist, wo wir uns doch so an ihm versündigt haben», schluchzte Anne Bäbi.

«Das ist leider so», sagte der Pfarrer, «daß, wenn das Gemüt verstimmt ist, es alles unrecht auslegt und jede Berührung falsche Töne gibt. Was meint Ihr, Frau, wenn Jakobli das Gegenteil tun und Euch seinen Zustand alle Tage vorhalten würde, wie wäre Euch?» «Oh, da hätte ich mich schon lange hintersinnet und wäre kaum mehr da», antwortete Anne Bäbi. «Also seht Ihr, liebe Frau, wie Ihr Ursache habt, Gott zu danken, daß Jakobli die Sache von der rechten Seite fasset und sich darein zu schicken weiß. Darum danket Gott auch, damit Ihr Jakoblis Beispiel nachfolget und Euch in das Unabänderliche schicket. Denket, es ist Jakobli gewiß auch viel wohler dabei, wenn Ihr nicht so jammert und klaget; damit ändert Ihr nichts und gmühet ihn nur; und vergesset es nie, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zur Seligkeit dienen müssen! Denket daran, ob die Krankheit Euch nicht vielleicht in ein besseres Verhältnis zu Jakobli gebracht hat, ob Ihr ihn jetzt vielleicht nicht viel besser liebet, und ob sie Euch nicht ein Fingerzeig ist, ihn nicht zu plagen; denn man plagt die Leute vielleicht ebenso oft aus Liebe als aus Haß, und wenn man aus einem Irrtum heraus ist, so ist es dann nicht, daß man gar keinen mehr habe.

Nein, meine liebe Frau, wenn ihr einander recht liebhabt und mit der Liebe euch nicht plaget, so könnt Ihr jetzt viel glücklicher werden, als Ihr geworden wäret, und Ihr und Jakobli seid vielleicht später imstande, Gott zu danken, daß er es so gefüget hat und nicht anders; und wenn Ihr schon mehr oder weniger schuld an der ganzen Krankheit wäret, so zeigt Euch doch Gott seine Vergebung darin, daß er sie Euch zum Heile werden läßt; und das ist die friedsame Frucht der Gerechtigkeit, welche aus der Zucht des Vaters in den Herzen seiner Kinder emporwachsen soll.»

Draußen an der Türe hatte Mädi gehorcht und sagte halblaut für sich: «Dr Predikant kann lang vom lieben Gott reden, und wenn Mädi nicht gewesen wäre, so lebte Jakobli lange nicht mehr; und denn nehmte mich wunder, wie das zu unserer Seligkeit beitragen sollte. Predigen kann er schön, sonst aber versteht er e Tüfel viel.»

Er hätte sich viel zu lange gesäumt, seine Leute werden sich kümmern um ihn, sagte endlich der Pfarrer und stund auf oben am Tische und nahm Abschied; und alle dankten ihm, daß er gekommen, besonders Jakobli, hießen ihn wiederkommen, und Jakobli sagte, es dueche ihn, es wohle ihm, wenn er ihn nur von weitem sehe. Es hätte ihm viel geleichtet, sagte Anne Bäbi, und es duechs, es könnte jetzt anfangen, sich darein zu schicken; aber ihrer Gattig Lüt seien gar dumm, und ds Rechte komme ihnen immer zuletzt in Sinn oder gar nicht. Hansli sagte nicht viel; aber als der Pfarrer fort war, sagte er: «Ja, ja, ds Rede ist e chummliche Sach, und man kann immer daraus nehmen, was einem am anständigsten ist.»

Der Pfarrer war ein älterer Mann, und zeitweise Unpäßlichkeit machte ihm zuzeiten einen Vikari nötig; und wenn er einen nötig hatte, so gab man ihm einen, wie man ihn hatte, und die hat man auch auf all Weg.

Langsam ging der Pfarrer den Fußweg hinunter. In den Weiden am Bach rauschte der Wind, und unter den Weiden rauschte der Bach, und der Pfarrer sann über die Torheit der Menschen, wieviel Plagen die Menschen sich selbsten machten, und über die gütige Weisheit Gottes, welche in jede Plage ein Heilmittel für die Torheit lege; und wie das eine seltene Kunst sei, diese Heilmittel zu erkennen, und wie man sie am schwersten in den Plagen erkenne, welche, durch eigene Torheit herbeigezogen, über dem eigenen Haupte schwebten. Der Pfarrer könne wohl mit dem Finger zeigen und deuten, dachte er, aber die Gemüter bereiten, daß das Gezeigte fruchtbar werde und die rechte Wirkung tue, das sei eine Kunst, die noch seltener gegeben sei.

So kam er den Bach herunter und sann, bis er von weitem sein Häuschen sah. Dort sah er sein Weibchen, welche unter die Klasse der freundlichen Muesle gehörte, und seine Tochter, ein herzhaft Meitschi von neunzehn Jahren, nach allen Windgegenden ausschauen; denn daß er die Suppe auf dem Tische warten ließ, war schon seit Jahren nicht geschehen und darum ein Ereignis, welches Mutter und Tochter bang bewegte.

«Wo bleibst auch so lange, Mannli?» rief die Frau ihm entgegen, als er am Arm der Tochter, die ihm entgegen gelaufen war, daherkam und den Schweiß sich von der Stirne wischte. «Der Blumköhli versodert ganz, und wenn die Suppe bränntet, so wird die Köchin nicht schuld sein wollen.» Da wollte der Pfarrer stillestehen und Bericht geben, aber die Frau Pfarrerin sagte: «Komm du jetzt, du kannst uns es drinnen sagen. Sophie, läute doch dem Vikari, aber scharf, hörst du, sonst tut er aber drglyche, er hätte nichts gehört.»

Nun erzählte der Pfarrer seine Begebnisse, seine Reden und Gedanken, und wie so viel Unglück sei in der Welt, an das man gar nicht denke, und die Heilung wiederum so nahe, und man sehe sie wieder nicht; und wenn man sie sehe, so scheine sie so leicht und sei doch unmöglich dem betreffenden Gemüte, und die Welt so schön und Gott so gut und der Menschen Gemüt so seltsam und so verkehrt.

Noch lange redeten sie zusammen freundlich und erbaulich, aber längst war der Vikari gegangen und schrieb droben ungefähr folgenden Brief:

«Lieber Freund!

Sie haben mich aber vom Tische getrieben mit ihrem weltlichen, frivolen Geschwätz; es ist schrecklich, daß man solche Geistliche hat. In der ganzen Familie ist keine Ahnung von der seligmachenden Gnade und der Freude in Jesu. Da ist lauter Selbstgerechtigkeit und Weltsinn, und es gehen Tage vorüber, daß man den Namen Jesus nicht hört. Wäre die Gnade nicht so mächtig in mir, meine Seele schwebte in der größten Gefahr, besonders da die Leute etwas Freundliches, Anziehendes haben, was umso gefährlicher ist. Der Alte gehört unter die Klasse der Geistlichen, welche dem Reiche Gottes am meisten Abbruch getan haben. Er predigt von der Liebe Gottes, trägt ein mild, versöhnlich Wesen zur Schau und eine gewisse Dienstfertigkeit; das gefällt den Leuten, darum meinen sie, es sei das rechte Wesen und wollen von Buße und Zerknirschung nichts wissen. Vom rechten Fundament der Christen hat dieser Pfarrer keinen Begriff; es ist schrecklich, und ich danke Gott alle Tage, daß diese Rasse immer seltener wird, andere Männer das Ruder ergriffen, eine andere Generation aufwächst. Heute hätte er die herrlichste Gelegenheit gehabt, eine Seele zu zerknirschen und sie Jesu zu gewinnen. Und was macht er? Er geht und tröstet sie. Dem Reiche Gottes widerfährt aber Gnade; andere Arbeiter rufet der Herr in seinen Weinberg. Lebe wohl, teurer Bruder in Christo!

P. S. In meiner Bewerbung um ... ist die Gnade Gottes auch bei mir. Ihr Vater soll noch viel reicher sein, als ich anfänglich glaubte.»


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