Paul Grabein
Die Moosschwaige
Paul Grabein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9.

Es ist zu lieb von Ihnen, daß Sie mitgekommen sind, Fräulein Hanna. Ich freue mich ja so auf die Berge – meine lieben, alten Berge! Denken Sie: An die zehn Jahre bald bin ich nicht mehr im Gebirge gewesen. Immer bloß Nordsee, Riviera oder Paris. Nun soll ich endlich die alten Freunde wiedersehen – und mit Ihnen, Fräulein Hanna! Das ist ja das Allerschönste.«

Rennert sah seine Reisegefährtin in jugendlicher Fröhlichkeit an, wie sie ihm im Eisenbahncoupé auf der Fahrt nach Schliersee gegenübersaß, wo sie den heutigen Abend und den morgigen Sonntag verleben wollten.

Auch sie lächelte froh.

»Ich freu' mich ja auch so! Es ist das erstemal, daß ich arme Stadtmaus überhaupt in richtige Berge komme. Habe als Maximum sonst bloß immer – in meiner Kinderzeit, als wir mit den Eltern reisten – Thüringer und Harzer Gipfel gestürmt. Nicht gerade hochalpinistische Leistungen, nicht wahr? Und nun wollen Sie mir die Schneehäupter zeigen!«

»Ja das heißt doch nur zeigen – diesmal!« schränkte er ein. »Ich will Sie auf einen Berg führen und von dort aus, wie weiland Moses, das gelobte Land der wirklichen Hochalpen schauen lassen. Sie sollen sie aber auch richtig kennen lernen! Doch für den Anfang tun's auch die Voralpen. Sie sollen mal sehen, wie herrlich sich's da wandert.«

»Ich glaub's, ich glaub's. – Erzählen Sie mir doch schon immer davon,« bat sie eifrig wie ein Kind mit freudig geröteten Wangen, die sie ganz jugendlich machten. Und er tat nach ihrem Wunsch.

An seinem Munde hängend und an seinen erinnerungsfroh aufleuchtenden Blicken, lauschte sie seinen Berichten von Bergfahrten aus der alten schönen Münchner Studienzeit. Und in dem schlichten Bahncoupé dritter Klasse, in dem sie beide ganz allein saßen, tauchten vor ihrem schönheitsdurstig aufgehenden Auge erhaben großartige Szenerien aus der Welt des ewigen Schnees auf. Über Firn und Felszinnen sah sie ihn mit ihrem geistigen Auge jugendlich festen Schrittes klimmen, ihn, der hier vor ihr saß und sich selber wieder verjüngte, der neu auflebte in den begeisternden Erinnerungen und in der steigenden Vorfreude auf die bevorstehende Wanderung.

So verging die Fahrzeit wie im Fluge, und plötzlich hieß es: »Schliers – alles aussteigen!«

Es war schon dunkel, als sie am Ziel ihrer Reise anlangten, zu spät für den ersten Begrüßungsblick aufs Gebirge, auf den sie noch für heute gehofft hatten. Aber sie trösteten sich: Dafür haben wir ihn morgen, bei Sonnenaufgang, um so herrlicher. So suchten sie frohgelaunt die alte »Post« auf, wo Rennert früher so manchmal geweilt hatte, um dort zu übernachten.

Noch stand das alte, gemütliche Haus am alten Fleck, und die freundlich-gesprächige Wirtin ging mit dem jungen, vergnügten Paar – sie hielt die beiden natürlich für Jungverheiratete – selber hinüber ins Logierhaus, um ihnen das beste Zimmer aufzuschließen.

»So, bitt schön, meine Herrschaften!« Mit diesen Worten wies sie einladend auf das geräumige, saubere Gemach, in dem ehrbarlich zwei Ehebetten dicht nebeneinander standen.

Einen Augenblick sahen sich Rennert und Hanna Mertens verdutzt an; dann lachten beide herzhaft auf, so daß die Wirtin sie verwundert anschaute.

Aber Rennert klärte ihr dann sofort die Situation auf. »Nein, Frau Wirtin. Bitte, zwei einzelne Zimmer. Wir sind kein Ehepaar – leider nicht,« fügte er noch scherzend mit einem übermütigen Blick auf Hanna hinzu. Aber sie wandte sich ein wenig schnell ab und folgte der Wirtin, die sie zu einem anderen Raum führte.

»So – Sie sa'n koan Eheleut net? Da bitt i fei schön um Entschuldigung, Frail'n. Na, nix für ungut. Aber was net is, kann ja no wer'n.«

Schmunzelnd brachte sie diese Worte hervor und warf dabei einen verschmitzten Blick auf Rennert. Denn, wenn die zwei auch kein Ehepaar waren, so waren sie doch sicher Liebesleute. Das sah sie auf den ersten Blick.

Das Fräulein aber erklärte nun:

»Schön, Frau Wirtin. Das Zimmer nehme ich. Ich möcht' mich gleich ein bißchen zurechtmachen.« Und zu Rennert gewandt, verabschiedete sie sich mit einem »Also, auf Wiedersehen, drüben im Wirtshaus!«

Eine Viertelstunde später erschien Hanna Mertens im Gastzimmer, wo Rennert bereits seit einigen Minuten wartete.

»O – hab' ich doch warten lassen?« rief sie ihm entschuldigend entgegen, indem sie eilig an seinen Tisch kam. »Ich hab' mich doch so gesputet.«

Rennert war, als er sie kommen sah, sofort aufgesprungen und der Eintretenden entgegengegangen.

»Aber bitte! Ich bin ja eben selbst erst gekommen.« Dabei half er ihr das Jäckchen ihres einfachen, graugrünen Lodenkostüms ausziehen. Sie sah nun wieder so hübsch aus wie neulich, in der weißen Hemdbluse, mit dem einfachen, aber schick geschnittenen gelben Ledergürtel und dem Jägerhütchen auf dem Haar, das sie fast ein bißchen keck aussehen ließ.

»Was schauen Sie mich denn so an?« lachte sie unbefangen und ließ sich an seinem Tische nieder.

»Sie sehen zu nett so aus,« erwiderte Rennert. »Sie sollten sich immer nur so anziehen.«

»Mein Gott! Jetzt fängt der Mann auch noch an, Komplimente zu machen. Rennertle, Rennertle!« Sie schlug in drolligem Entsetzen die Hände zusammen. Aber dann griff sie rasch nach der Speisekarte. »Was gibt's denn Gutes hier? Sorgen Sie lieber für meinen inneren Menschen.«

»Ich habe mich schon orientiert. Wie wär' es mit einem echt bayrischen Nationalgericht? Gespicktes Rinderherz oder Kalbshaxen?«

»Lassen S' mi aus! Brrr!« wehrte sie lachend ab. »So weit hab' ich mich doch noch nicht akklimatisiert. Nein« – sie sah wieder auf die Karte – »dann doch lieber ein solides Schnitzel.«

»Wie üblich!« sagte Rennert neckend. »Wozu da erst die Karte, wenn das doch stets Ihrer Weisheit letzter Schluß ist? – Also, Kathi!«

Er winkte die Kellnerin heran, während Hanna, in seinen Ton einstimmend, ihm seine Neckerei zurückgab.

»Sie wissen natürlich schon wieder, wie alle schönen Mädchen in Schliersee heißen!«

Aber Rennert ließ sich nicht irremachen, sondern scherzte weiter. »Alle schönen – ja! Kathi und Hanna!«

Dabei blickte er sie übermütig an.

Sie aber drohte ihm lachend.

»Rennertle, Rennertle!« Er hörte sie, wenn sie in guter, vertrauter Stimmung war, gern so zu ihm sagen. »Sie sind mehr als üppig.«

Aber sein Blick, mit dem er sie wohlgefällig umfing, freute sie im stillen doch. Sie mußte dabei unwillkürlich an das denken, was er vorhin über ihren Anzug gesagt hatte.

So flogen ihnen die Abendstunden unter heiteren Scherzen nur allzu rasch dahin. Das lustige Schlierseer Völklein um sie herum hatte mit lautem Singsang, Mundharmonikakonzert und schnell improvisiertem Tanz das Seine reichlich dazu beigetragen. Ohne daß sie es gemerkt hatten, ging es schon auf elf. Also nun schnell zu Bett, daß sie morgen frisch zur Bergfahrt waren. Wenn nur das Wetter recht schön sein wollte.

Aber sie hatten Glück. Als Rennert am anderen Morgen in der Frühe die Fensterladen aufstieß, flutete goldenes Sonnenlicht herein. Herrlich klar lagen See und Waldberge vor ihm. Das versprach einen wundervollen Tag.

Und es wurde einer, voller Wunder – draußen und drinnen bei ihnen selber.

Wie die stetig wechselnden Bilder einer bald anmutig lachenden, bald großartig wilden und einsamen Gebirgsnatur beim Aufstieg auf den Jägerkopf an ihnen vorbeigezogen, während sie rüstig zuschritten.

Erst kamen sie in das traulich am See gelagerte Dörflein, hierauf durch ein grünes, idyllisches Wiesental mit Mühlen und lauschigen Einzelhöfen und dann allmählich hinauf in den einsamen Bergwald. Nun wand sich der Pfad steiler aufwärts, oft steinig, von Wassergerinnseln zerrissen, durch dichten, ernsten Tannenwald hindurch.

Auf einmal war die Sonne fort. Rauhe, dicke Nebel strichen talabwärts, daß sie kaum noch ein paar Schritte weit sehen konnten. Phantastisch, wie Spukwesen, tauchten aus dem unheimlichen Grau die dunkeln, verschwommenen Gestalten wetterzerzauster Tannen oder Zirbeln auf; es streckte sich wie mit hundert langen Armen nach ihnen – die Geister des entlegenen Bannwaldes, in den sie eindrangen.

Ein leises Frösteln durchlief Hanna Mertens.

»Wenn wir uns nun verirren!«

Aber nur einen Augenblick hielt diese ängstliche Stimmung bei Hanna an. Dann glitt gleich wieder ein heiteres Lächeln über ihre Züge, als sie ihren Begleiter neben sich sah, wie er mit starkem Schritt aufwärts stieg und kraftvoll den Bergstock in den feuchtglatten Geröllpfad stieß.

»Das heißt, eigentlich wär' es famos, so ein kleines Abenteuer! Nicht?«

»Ob's das wär'!« Hell leuchteten seine Augen auf. »Wenn da jetzt zum Beispiel plötzlich Böcklins Einhorn aus dem Schweigen des Waldes bräche und Sie attackierte, Fräulein Hanna, und ich ginge das Untier mit meiner Saufeder an, so – Hoiho!«

Er machte einen wuchtigen Ausfall und rannte die Eisenspitze des Bergstocks tief in einen Baumstamm neben dem Weg, so daß er nun einen Augenblick vergebens zerrte, um sie wieder herauszubekommen.

»Großartig!« lachte sie auf. »Das arme Einhorn – durch und durch haben Sie's gespießt. Das steht keinem Böcklin mehr Modell.«

Aber da hatte er mit einem mächtigen Ruck den Stock wieder frei.

»Was Sie stark sind!« sagte Hanna, ihn bewundernd. »Das sieht man Ihnen gar nicht an.«

Ihr Lob machte ihn stolz, daß er sich aufreckte, und ein überquellendes Kraftgefühl durchflutete ihn.

»Das war doch nichts! Aber ich könnte Ihnen schon zeigen – Wissen Sie, was ich möchte?«

Seine Blicke umfingen ihre schlanke Gestalt.

»Na?« Hanna lachte ihm neugierig ins Gesicht.

»Sie nehmen und mit Ihnen den Berg raufrennen.«

»Renommist!« neckte sie. »Mich mit meinen hundertunddreißig Pfund!«

»Sie glauben's nicht?«

Da kam es über ihn – irgendwie mußte er jetzt seine gärende Kraft austoben. Und plötzlich hatte er sie aufgehoben, und ohne auf ihren leisen Aufschrei zu achten, stürmte er nun wirklich mit ihr den Berg hinan.

Hanna war einen Moment wie gelähmt. Aber als sie wie eine Beute in seinen Armen lag, ganz machtlos, ganz sein, da flutete es über sie, eine atemraubende Woge, halb Angst, halb einer berauschenden, nie gekannten Wonne. Mit geschlossenen Augen ruhte so eine Sekunde lang ihr Kopf an seiner Schulter.

Rennert sah das süße Sichhingeben an ihren Mienen. Da brannte es plötzlich heiß in ihm auf. Ein Glück, daß sie, wie aus einer Ohnmacht zur Besinnung kommend, die Augen aufschlug; im nächsten Augenblick hätte er die halbgeöffneten Lippen wild geküßt. Er hätte gemußt!

Aber da riß sie sich mit einer heftigen Bewegung von ihm los und stand wieder auf den Füßen.

»Sie toller Mensch!«

Halb in wirklichem Zorn, schalt sie ihn, und doch kehrte ihr schon das Lachen wieder. Denn er stand mit einem so unschuldigen und doch verschmitzten, richtigen Jungensgesicht vor ihr.

»Warum zweifelten Sie, Fräulein Hanna! Nun mußt' ich's Ihnen doch beweisen. Trauen Sie mir nun mehr zu?«

»Um Gottes willen, ja! Alles! Sogar, daß Sie mich huckepack im Galopp auf den Jägerkopf schleppen. Aber ich verzichte lieber darauf.«

Nun lachte sie wirklich wieder. Es war ja doch eben nur eine Kinderei, Bergfahrtübermut bei ihm gewesen. Aber eine Kraft hatte er – wahrhaftig, ganz unglaublich!

So dachte sie bewundernd, während sie dem schlanken, hochgewachsenen Manne nachschaute, wie er nun rasch zurücksprang, den Bergstock wiederzuholen, den er vorhin, als er sie aufhob, weggeworfen hatte.

Bald war er zurück und schritt wieder neben ihr weiter bergan; aber sie hörte nun, wie sein Atem nach der tollen Anstrengung schwer ging. Sie blieb stehen und fragte ihn besorgt:

»Sie werden sich am Ende noch einen Schaden getan haben?«

Aber Rennert ließ das nicht gelten.

»I wo!« rief er lachend, »bloß – ein bißchen außer Atem!«

Er wollte weitergehen; doch Hanna hielt ihn energisch zurück:

»Nein! Nicht weitergegangen!« entschied sie. »Erst erholen Sie sich wieder. Wollen Sie wohl mal hübsch gehorchen!«

Sie faßte ihn fest am Arm.

»O, o! So energisch? Sie kleine Kommandeuse!« lachte er. »Sie springen ja mit mir um wie mit einem Schulbuben!«

»Sind Sie auch!« schalt sie. »Ein ganz unvernünftiger, toller Bub!«

Er hörte sie gar zu gern in solch mütterlicher Weise mit ihm schmälen.

»Bubi will auch wieder artig sein, ganz artig,« ahmte er seinerseits scherzend den Kinderton nach.

»Nun gut, Bubi!« Doch sie erhob mit neckendem Drohen den Finger. »Aber auch wirklich – sonst!«

»Ganz wahrhaftig!« gelobte er lachend. »Ich habe ja so schreckliche Angst vor Ihnen, allergestrengste Kommandeuse.«

Nun war er wieder mit seinem Atem ganz in Ruhe, und sie stiegen weiter.

Auf der Alm droben fanden sie in der Hütte die Sennin mit ihrem kleinen Bruder; es war die Tochter von dem Bauern, dem die Bergweide gehörte. Auch ein Gast war schon da, ein Forstgehilfe, der hier rastend mit seinem Hund bei dem offenen Herdfeuer saß, an dem ihm die Sennin einen Schmarren bereitete.

Die beiden neuen Ankömmlinge wurden in das Stübchen nebenan geleitet, das in der linken Hälfte Gastzimmer, in der rechten Schlafstätte des Mädchens war. Ihre groben Wollstrümpfe hingen zum Trocknen an der Ofenstange, gerade über der Bank, auf der Hanna Platz genommen hatte.

Mit lustigem Lächeln blickte sie zu dem eigenartigen Zimmerschmuck über dem Eßtisch auf, dann zu Rennert hinüber:

»Ein Idyll! – Unverfälschte Almenpoesie!«

Rennert nickte nur, denn die Sennin kam gerade herein und trug ihnen Milch herzu sowie die nötigen Teller und ein paar mächtige Stück Käse, Butter und Brot.

Als sie wieder hinausging, zwinkerte Rennert schelmisch zu den derben Manneshosen hin, die das Mädchen nach der hier oben herrschenden Sitte trug.

»Haben Sie auch diese ledergewordene Almenpoesie bewundert?«

»Pst! Bubi, Sie sind wieder ungezogen – ganz ungezogen,« verwies sie ihn. Aber sie lachte dabei doch in sich hinein.

»Und Sie sind ein Prachtmädel, Fräulein Hanna. Ein wundervoller Wanderkamerad. Prosit! Wenn auch der Stoff nicht ganz kommentmäßig ist« – er hielt ihr das Glas mit Milch hin – »kommt's doch vom Herzen. Es ist zu famos mit Ihnen! Auf recht, recht viele frohe Bergfahrten so wie heute!«

Nach der kurzen Rast kam dann ein langes Wandern in der Almenregion, vom Jägerkopf hinüber über den Bergrücken zur Rotenwand – ein herrliches Wandern über grüne Hochweiden, Geröllfelder, ab und zu ein bißchen Klettern am Berggrat oder über aufgesetzte Felskuppen. Immer den lachenden blauen Himmel über sich – die Wolken lagen ja jetzt tief unter ihnen im Tal – und weit hinten am Horizont, wie lang hinwehende, silberduftige Schleier, die Ketten des Hochgebirges, der Tiroler Alpen. Die Herzen gingen ihnen beiden auf – es sang und jauchzte da drinnen.

Einmal riß dieser innere Jubel Rennert mit fort. Es war am Taubenstein, nach einer kleinen Kletterei, und Hannas Rechte stützte sich noch beim letzten Schritt auf seine Hand. Da kam es plötzlich über ihn, wie er sie so nahe bei sich sah, in ihrer schlanken Schönheit, so sommerlich duftig und jugendfroh, daß er sich schnell über die weiche, warme Hand neigte – es schoß ihm dabei durch den Kopf, wie sie sich damals das erstemal im Dunkeln beim Huber unvermutet auf seine Finger gelegt hatte – und seine Lippen darauf drückte.

»Fräulein Hanna, ich bin ja so glücklich heute!«

Aber erschreckt riß sie die Hand zurück; sie war ganz blaß geworden und sehr ernst. Sogar eine nie gesehene Falte stand auf ihrer reinen, schönen Stirn. Und ohne ihn anzusehen, sagte sie leise:

»Das dürfen Sie nie tun – nie wieder! Sonst ist es aus mit unserer Kameradschaft.«

Bestürzt sah er sie an. Die halblauten Worte klangen so ernst. Aber warum plötzlich so, wo sie doch heute morgen seinen viel größeren Übermut lachend ausgenommen hatte?

Aber freilich – wenn dieser Ausbruch seines inneren Glücksgefühls auch ganz harmlos gemeint war – es konnte doch anders aufgefaßt werden! Und war es nicht auch schließlich, vielleicht ihm noch unbewußt, so gemeint?

Er versank in ein Sinnen über sich selbst. Es kamen Empfindungen über ihn, die in den langen Wintermonaten und jetzt in den herrlichen Sommerwochen im Verkehr mit Hanna in ihm groß geworden waren. Er hatte sie aufwachsen lassen, sich ihrer gefreut, ohne sich klar über sie zu werden; aber nun begann er sie zu prüfen. War das wieder das wonnige, hoffnungsselige Keimen und Aufblühen, das er schon einmal kennen gelernt hatte – in langentschwundenen Jugendtagen?

Und während Rennert so sann und immer stärker ein freudeseliges Bewußtwerden in ihm durchbrach, ging das Mädchen an seiner Seite, gleich ihm schweigend, in Gedanken verloren dahin. Aber Rennert, der ganz mit sich selbst beschäftigt war, bemerkte es nicht, sah nicht, daß ihre Mienen immer stiller und ernster wurden, ja, daß ein leis schmerzlicher Zug sich allmählich um ihre Lippen eingrub und die so frisch ausgeblühten Rosen der Jugend auf ihren Wangen wieder zu verblassen begannen.

Doch die neuen Eindrücke der Gebirgsnatur droben auf der rotleuchtenden Porphyrzinne der Rotenwand mit ihrem herrlichen Rundblick und dann das Mahl mit anderen frohen Wanderern drunten im Berghaus auf der Alp drängten bei beiden die Beschäftigung mit sich selber wieder zurück. Der harmlos-lustige Kameradenton herrschte wieder zwischen ihnen. Und er hielt auch nachher an, als sie nun durch den wildverwachsenen, lauschigen Bergwald abstiegen, in grüner Einsamkeit immer zwischen alten, bemoosten Ahornriesen und Tannen dahin, im Goldflimmer der Abendsonne, bis die Lichter auf dem Waldboden mit seinem Farngewirr und Blaubeergerank erloschen und das Dämmern sacht hereinschlich, seine weichen, dunkeln Schleier um Baum und Firmament zu hängen.

Eilig wanderten sie zu Tal, oft im halben Laufschritt auf dem stark abfallenden Wege; aber es war ihnen eine Lust so. Ein unsagbar frohes Gefühl treibender Jugend, geheimen Glückahnens trieb Rennert immer ungestümer vorwärts, daß er ein paarmal, am Bergstock sich schwingend, mit gewaltigen Turnersprüngen bergab fuhr.

»Sie werden sich noch Hals und Beine brechen,« schalt sie.

»Ich? Nie! Der Wald und ich gehören zusammen, wir tun uns nichts zuleide. Gelt, mein Alter?«

Und sein froher Juchzer hallte hell von der Bergwand drüben zurück.

Es war schon ganz dunkel, als sie endlich drunten auf der Fahrstraße ankamen, und das silberne Mondlicht leuchtete ihnen, als sie die letzte Wegstunde bis Schliersee vor sich hatten.

Eine Zaubernacht! So hell, daß man die Straße endlos verfolgen konnte; wie glitzerndes Silber zeichneten sich der See und dahinter am jenseitigen Ufer die dunkeln Berghänge deutlich vom klaren, durchleuchteten Nachthimmel ab. Es war eine so linde Nacht, voll träumerischer, süßer Weichheit.

»Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir in Liebe entbrennte,
Da hab' ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht.«

»Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang;
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschten so sacht.
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in Waldesnacht.«

»Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
Zu dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wenn der Lauten Klang erwacht
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht.«

Unwillkürlich hatte sich das alte Eichendorffsche Lied Rennert vom träumenden Herzen auf die Lippen gedrängt. Erst leise gesummt, war der Klang allmählich zum lauten Singen geworden. Mit voller Seele lauschend, war Hanna neben ihm gegangen.

»Was Sie für eine hübsche Stimme haben.« Ihre Brust hob sich wie in einem geheimen Sehnen. »Singen Sie doch noch mehr.«

Und Rennert tat nach ihrem Wunsche. Er sang, was ihm die Stimmung eingab. Ernstes und Heiteres, alte Volksweisen und Studentenlieder, wie sie ihm aus fernen Jugendtagen her in der Erinnerung austauchten. Aber je mehr er sang, zuletzt immer frohere Sänge, Scheffel-Lieder vom Perkeo, vom Rodensteiner – es schwellte ihm ja ein so frohes Glücksgefühl die Brust – desto stiller ward das Mädchen an seiner Seite.

»Aber Fräulein Hanna! Leben Sie eigentlich noch? Oder wandelt da bloß noch Ihr bleicher Schatten neben mir?« ries er sie schließlich scherzend an. »Sie sagen ja überhaupt nichts mehr!«

Da raffte sie sich aus der schwermutsvollen Stimmung auf, die über sie gekommen war, und zwang sich mit Gewalt, wieder heiter zu sein.

»Ich bin eben eine echte Deutsche. Wenn's am lustigsten ist, singen wir ja bekanntlich immer: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin«. Aber, um Gottes willen, stimmen Sie jetzt nicht etwa auch noch dieses schöne Lied an! Im übrigen heißt's wohl überhaupt jetzt: Cantus ex! Wir sind ja schon dicht am Ort.«

Sie waren in der Tat wieder in Schliersee angelangt, freilich, wie sich nun herausstellte, zu spät, um heute noch nach Haus zu kommen. Bis München wäre es wohl gegangen, aber nicht weiter, nach Dachau hinaus.

»Ein schöner Reisemarschall,« neckte Hanna Mertens ihren Führer, der mit kläglicher, schuldbeladener Miene dieses Resultat seiner Fahrplanforschung auf dem Bahnhof in Schliersee feststellte. »Na, Ihnen werde ich mich ja noch einmal anvertrauen. – Also haben wir das Vergnügen, uns heute nacht in München in irgendeinem Hotel herumzudrücken.«

Aber da sah er sie plötzlich an.

»Nein, Fräulein Hanna, ich hab' eine Idee!«

»Schon wieder eine? Ich bin jetzt mißtrauisch,« scherzte sie, »vor Ihren Überraschungen habe ich nachgerade eine gelinde Furcht.«

»Nein wirklich – eine famose Idee! Seh'n Sie doch nur diese Mondnacht da draußen auf dem See!« Sie folgte mit dem Blick seiner Hand. »Und da sollen wir nach München hinein, in einen dumpfen Hotelkasten? Kann doch niemand von uns verlangen. Nein, wir bleiben über die Nacht hier und fahren morgen in aller Frühe fort, dann kommen wir auch noch immer zur rechten Zeit nach Dachau. – Nun, was sagen Sie dazu?«

Sie blickte unschlüssig in die lockende Mondnacht hinaus.

»Ich möchte schon, aber –«

»Da gibt's gar kein Aber!« entschied er. »Also abgemacht: Kehrt, marsch! Wieder zurück zur »Post«, in das alte Quartier. Dort ist eine Terrasse mit Seeaussicht, da verschwärmen wir den Abend beim Glase Wein.«

Und er schob seinen Arm unter den ihren, indem er sie eifrig vorwärts drängle. Da gab sie nach. Es lockte sie ja selbst mit einer geheimen, dunkeln Gewalt.

Die Wirtin in der »Post« hieß ihre alten Gäste herzlich erfreut willkommen. Gern schloß sie ihnen den Eingang zum Balkon des ersten Stocks auf und deckte ihnen hier den Tisch. Bald stand der alte Rüdesheimer im Kühler vor ihnen, und Rennert füllte die Römer, während Hanna verträumt auf den silberflüssigen See hinaussah.

Was für ein Zauber wehte in dieser Mondnacht! Wie legte sich die linde Luft schmeichelnd um ihre Sinne, wie zog ein großes, tiefes Sehnen von droben, von den duftigen, glanzübergossenen Bergfirnen her, hinein in das Herz und schwellte es weit, weit in einem heimlich-süßen Verlangen. Wonach? Sie wußte es nicht; aber ihr war so eigen zumute, so bang und doch so vor Erwartung bebend. Was war das nur?

Sie stützte den Kopf auf den an die Balustrade gelehnten Arm, und ein hörbarer, tiefer Seufzer hob ihr die Brust, die sie in der lichten, zarten Bluse dem Nachthauch freigab.

»Fräulein Hanna!«

Rennerts Stimme tönte ihr da plötzlich im Ohr, so daß sie zusammenfuhr.

Er lachte.

»Ich glaube, ich habe Sie wahrhaftig erschreckt! – Sie träumten? War's was Schönes?«

»Ich weiß nicht,« entgegnete sie fast beklommen. »Ich hab' überhaupt kein bestimmtes Empfinden gehabt.«

»Aber ich!« Er reichte ihr den Römer hin, und als sie dankend danach griff, legte er einen Moment seine Hand auf die ihre. »Ich weiß, daß ich noch nie in meinem Leben einen so herrlichen Wandertag verlebt habe, und daß ich Ihnen dafür dankbar bin – so dankbar, Fräulein Hanna!«

Sie fühlte, daß seine warme, lebensvolle Hand sich um ihr Gelenk preßte. Da überrieselte es sie plötzlich wieder so wie heute morgen, als sie einen Moment in seinem Arm geruht hatte.

»Und darum: Dieses erste Glas Ihnen, liebes Fräulein Hanna! Auf gute, treue Kameradschaft – immer so wie heute!«

Sein Glas klang gegen das ihre, dann leerte er es in einem Zuge. Hanna nippte nur.

»Sie meinen es nicht ehrlich,« schalt er, seinen Römer, zum Zeichen daß er leer war, ihr verkehrt hinhaltend.

»Ich kann es Ihnen doch unmöglich nachtun.«

»Warum nicht? In so einem Ausnahmefall! – Sie dürfen es mir glauben, Fräulein Hanna: Ich erhebe so leicht das Glas nicht mehr auf eine Frau.« Seine Stimme wurde plötzlich ernst. »Sie sind die erste, für die ich's wieder tue, und die einzige.«

Da führte sie ihren Römer schweigend zum Mund und trank, ohne abzusetzen, seinen goldfunkelnden Inhalt.

»War's recht so?«

Sie sah ihn an, das Glas langsam niedersetzend, und ein Leuchten brach plötzlich aus ihren Blicken. Machte das nur der Wein, der eine heimliche Glut darin entzündet hatte?

»Lieb war's – so lieb!«

Im Flüsterlaut stieß er es hervor, und abermals wollte seine Hand nach der ihren haschen; aber rasch legte sie ihre Hände in den Schoß. Dann nahm sie seinen Gedanken von vorhin auf, als er der bitteren Erfahrungen gedachte, die er einst mit seiner Frau gemacht hatte.

»Ich danke es Ihnen, daß Sie nicht von uns allen gering denken um der einen willen, die Sie enttäuscht hat.«

Er füllte die Gläser wieder nach.

»Dazu aber würde es unfehlbar gekommen sein, wenn ich noch weiter in den Banden geblieben wäre, die mich der Verzweiflung immer näher brachten. Daß ich mich aber auf mich selbst besann, grad' noch, ehe es zu spät war – wem dank' ich's, Fräulein Hanna?«

Sich vorneigend, suchte er im Mondflimmer ihren Blick. Aber sie sah vor sich hin in ihren Schoß, regungslos; nur ihr Busen, so schien es ihm, hob sich in heimlicher Bewegung.

»Ja, Ihnen dank' ich's, Ihnen allein, Fräulein Hanna.« Rennert beugte sich noch näher zu ihr hin. »Alles, dessen ich mich jetzt erfreue: meine Freiheit, neues Schaffen und den wiedergewonnenen Glauben an das Weib.«

Sie schwieg weiter.

»Sehen Sie, Fräulein Hanna, ich kann nicht leben ohne die Frau. Ich meine, ohne eine Frau, die mich versteht, zu der ich aufsehen kann als etwas Hohem, Reinem.« Seine halblaute Stimme nahm einen leise bebenden, leidenschaftlichen Klang an. »Ich muß einen Altar haben, an dem ich meine heißesten, besten Empfindungen niederlegen kann, zu dem ich alles trage, was ich innerlich habe, von dem mir die heilige, wonnige Glut entgegenloht, die mir das Blut selig und schaffensfroh durch die Adern treibt.«

Und nun griffen plötzlich seine Hände nach den ihren, die sich krampfhaft ineinander preßten.

»Hanna, liebe, liebe Hanna – wollen Sie mir dieses Heiligtum, wonach mein Herz sich schon lange sehnt, von neuem schaffen?«

Sie antwortete nicht. Ihr Antlitz hatte sich so tief auf die Brust gesenkt, daß es seine Züge im Schatten versteckte. Aber er fühlte, wie ihre schlanken, feinen Hände in den seinen zitterten. Da wähnte er, ihre stumme Antwort zu haben, und, Jubel im Herzen, neigte er sich schnell ganz zu ihr hin, daß seine Lippen auf ihrer Wange brannten.

Doch in demselben Augenblick zuckte es wie ein Blitz durch ihre ganze Gestalt. Sie sprang auf, und, einen Schritt zurückweichend, rief sie ihm mit bebenden Lippen in herzerschütterndem Weh zu:

»Ich kann nicht – ich darf nicht! Ich gehöre einem anderen!«

»Einem anderen?«

Schwer entrangen sich ihm nur die zwei Worte. Auch er war aufgesprungen.

»Ja – Sie kennen ihn: Veno Huber.«

Tonlos kam ihre Antwort.

Er schrak zusammen.

»Huber!«

Dann ward es still.

Lautlos standen sie einander gegenüber, beide schwer atmend, nach Fassung ringend.

Endlich machte Rennert eine müde Bewegung mit der Rechten.

»Wenn es so steht –« Er ließ sich schwer wieder auf seinen Stuhl nieder.

Sie stand noch immer vor ihm, mit zerrissenem Herzen, mit zitternden Knien. Ach, daß sie doch hinsinken könnte, ihm zu Füßen, und schluchzend bekennen: Ich liebe ja dich – dich, nicht ihn! Aber ich darf nicht. Mich bindet Wort und Pflicht! – Doch die Worte schrien nur, von niemand gehört, in ihrer verzweifelten Seele.

Dann klang seine dumpfe Frage, voll geheimen Vorwurfs:

»Und warum ließen Sie mich darüber im ungewissen? Hätte ich nicht so viel Vertrauen verdient?«

Sie fühlte es in dieser Stunde, wie recht er hatte. Wenn es auch so Hubers Wille war, sie hatte doch die Schuld. Sie hatte das Empfinden in Rennert groß werden lassen, das sie nun mit einem grausamen Schlage zertrümmern mußte – die zweite große Enttäuschung seines Lebens, wieder durch eine Frau! Durch sie, der er eben noch einen Altar hatte errichten wollen in seinem kaum genesenen Herzen.

Wenn er sich nun nicht mehr erholte von diesem zweiten Vernichtungsstreich – wenn der Mensch, der Künstler in ihm mit all dem Großen, das eben in seiner Seele aufblühen wollte, nun zugrunde ging – um ihretwillen?

Sie stöhnte leise auf wie eine Gemarterte.

Da schaute er auf die Schmerzzerrissene, und Mitleid mit ihr erfaßte ihn.

»Kommen Sie, Hanna, setzen Sie sich.« Seine Hand schob ihr den Stuhl zu, und mechanisch gehorchte sie ihm. »Und nun erzählen Sie mir alles.«

Hanna Mertens saß wie innerlich zerbrochen, den Kopf matt zurückgelehnt, und ihre Hände lagen ihr schlaff im Schoß. So erzählte sie ihm mit klangloser, müder Stimme, wie sie Veno Hubers Verlobte geworden war.

»Damit Sie alles verstehen, muß ich von meiner Jugend sprechen. Ich entstamme einem streng christlich denkenden Hause. Mein Vater war Konsistorialrat, ein ausnehmend ernst, fast asketisch-freudlos denkender Mann, der unserem ganzen Hause den Stempel seines Wesens aufdrückte. Meine Geschwister fanden sich wohl oder übel damit ab; sie heuchelten eben Frömmigkeit und christlichen Wohlanstand, so gut es ihnen gelingen wollte, und hielten sich heimlich schadlos. Ich aber war ganz aus der Art geschlagen, von jeher ein Schmerzenskind für meine Eltern, und das ward immer schlimmer, je älter ich wurde. In meine Adern muß, Gott weiß wie, ein Tropfen Zigeunerblut geraten sein, sonst wär's wohl nicht zu verstehen, daß schon von Kindesbeinen an in mir ein dunkles Sehnen nach dem Freien und Weiten, nach einer inneren und äußeren Ungebundenheit spukte, wie sie in unserem eng zugeschnittenen Gesichtskreis einfach undenkbar, eine Ungeheuerlichkeit war.

So setzte es denn, solange ich denken kann, harte Kämpfe zwischen den Eltern und mir. Ich war von Haus aus eigentlich ganz gutmütig, ja sogar weichherzig; aber wenn es an einen meiner Tollpunkte ging, dann konnte ich störrisch und hartnäckig sein, von keiner Gewalt zu brechen. Und diese Tollpunkte konzentrierten sich allmählich immer mehr zu einer einzigen, aber dafür um so »verrückteren, hirnverbrannten Idee«, wie sie es bei mir zu Hause nannten. Ich bildete mir nämlich ein, ich hätte Talent zum Zeichnen und Malen und müsse Künstlerin werden.

Das kam aber in den Augen meines Vaters gleich nach dem Reifenspringen im Zirkus, und so wurde ich denn von ihm und den Meinen behandelt etwa wie eine Besessene im Mittelalter, der man den bösen Geist mit Kettenzwang und Geißelhieben austreiben zu müssen glaubte – alles natürlich nur um meines eigenen Besten willen.

Das ging eben so lange, wie es ging. Eines Tags aber war ich am Rande mit meiner Kraft. Ich konnte so nicht mehr weiter. Zugrunde gehen im Schoße der Familie oder mich allein durch die Welt schlagen, mein Lebensziel erreichen oder vielleicht auch draußen zugrunde gehen, das war meine Wahl. Da wählte ich die Freiheit. Und wenn's schon zum letzten gehen sollte, dann lieber nach meiner Fasson. Das sagte ich mir in einer schrecklichen Nacht. Am andern Morgen saß ich mit meinen paar Habseligkeiten auf der Bahn und fuhr nach Berlin, um mein Glück zu versuchen.«

Sie atmete schwer.

»Es war nicht leicht, das werden Sie mir glauben. Ich aus meiner fast klösterlich strengen Zurückgezogenheit plötzlich mitten in die Wogen der Großstadt geworfen, wildfremd, mutterseelenallein, ohne jede Ahnung vom Leben. Und ich werde ihn nie vergessen, jenen Augenblick, da ich meinen Fuß zum erstenmal auf den Boden der Weltstadt setzte, ratlos, planlos, wie mich da eine Angst packte, als ob ich in dem Strudel des plötzlich um mich brandenden Lebens rettungslos untergehen müßte. Aber merkwürdig, da kam mit einem Male auch über mich die klare, ruhige Erkenntnis: Zugrunde gehen kannst du vielleicht, nicht aber dich verlieren! Ich fühlte es in jener Minute. Es war etwas in mir, das mir einen festen Halt gab, die Achtung vor mir selbst.

Und nun suchte ich meinen Weg. Aber er war schwerer, als ich es je geahnt. Doch was soll ich Ihnen das alles haarklein erzählen? Genug, wenn ich Ihnen sage, daß ich die bitterste Not kennen gelernt habe, daß ich frierend und hungernd, von allem entblößt, außer was ich an meinem Leibe trug, in meinem jämmerlichen Loch von Zimmer saß, jeden Tag gewärtig, wegen Mangels an Existenzmitteln auch aus diesem letzten Asyl noch vertrieben zu werden. Alle meine Versuche, zunächst nur einmal Stellung und Brot zu erlangen, waren fehlgeschlagen; ich hatte ja nichts gelernt. Meine paar Habseligkeiten waren längst aufs Leihhaus gewandert. Und dazu im Innern eine quälende Stimme: Der Fluch des Vaters, der auf dir lastet – der dich vollends ins Verderben treiben wird! Und weiter rief es mahnend: Kehr' um, kriech zu Kreuze, sie werden dich ja dann wohl wieder in Gnaden aufnehmen. Aber da bäumte sich die letzte Kraft in mir auf: Nein, lieber sterben im Elend als das!

Und das Furchtbarste von allem, das fast Unerträgliche, das mir schließlich die Kraft lähmte, noch weiterzuringen, das war die Art, wie man mich aufnahm, wo ich, Brot suchend, anklopfte, in Geschäften, in Bureaus. Man sah wohl, man spürte es, trotz aller Beherrschung – denn ich hatte den krankhaften Ehrgeiz, meine Not keinen Menschen ahnen zu lassen – wie es um mich stand, und da wagte man mir einen Ausweg zu bieten, ah, Abscheu und Haß schütteln mich noch heute über die Elenden, Vertierten, die das niedergehetzte Wild in mir witterten – die Beute, die ja doch bald einem zufallen mußte! Aber lieber wäre ich zehn Tode gestorben.«

Eine furchtbare Erschütterung durchzuckte bei dieser Erinnerung Hanna Mertens. Da griff Rennert leise nach ihrer Hand, die er väterlich tröstend streichelte:

»Armes Kind – armes Kind!«

Wieder gefaßt, fuhr sie nun fort:

»Sehen Sie, in dieser Verfassung, kurz vor dem Zusammenbrechen, lernte mich Veno Huber kennen – durch einen Zufall,« setzte sie leiser, stockend hinzu. Doch dann sprach sie weiter mit steigender Wärme:

»Ein Wildfremder trat er in meinen Lebensweg, aber mit so einer Herzensgüte und Uneigennützigkeit vom ersten Augenblick an, da er mich sah, daß er mir wie ein Gottesbote erschien. Und er wurde mein Retter; ihm allein danke ich, daß ich heute noch bin und was ich bin. Er half mir wie ein Bruder über die erste Not, und gab mir im Augenblick eine Beschäftigung, um mir die Demütigung zu ersparen, so Geld von ihm anzunehmen. Er wies mich dann auf den einzig gangbaren Weg, mein Klavierspiel zur Existenzquelle zu machen.

Es war ja nicht viel, was ich konnte, aber das einzige, wodurch sich meiner Not abhelfen ließ. Ich vervollkommnete mich noch etwas darin, von ihm unterstützt Tag und Nacht mit Fiebereifer übend, und endlich gelang's, wieder mit seiner Hilfe. Ich bekam Schülerinnen, zuerst in den Häusern, wo er bekannt war, nachher, als ich einmal eingeführt war, auch andere. So kam ich allmählich zu einer Existenz, die es mir ermöglichte, endlich an das heiß ersehnte Ziel meines Lebens zu gelangen. Ich nahm in meiner freien Zeit Unterricht im Zeichnen und Malen. Zwar nur langsam auf Seitenwegen ging es so vorwärts, aber es geschah doch. In mir war die Genugtuung: Du hast erzwungen, was du wolltest. All die furchtbaren Opfer, sie waren doch wenigstens nicht umsonst.«

Sie schwieg eine Weile, wie um Kraft zu sammeln zu dem letzten und schwersten Bekenntnis. Nun machte sie es ihm mit leiser, bebender Stimme:

»Sie werden verstehen, daß ich Veno Huber für all das, was er mir getan, mit unauslöschlicher Dankbarkeit verehrte, liebte, wie man eben seinen Lebensretter verehrt und liebt. Ich hatte aber nie daran gedacht, daß er mir auch eine andere Empfindung als die brüderlicher Zuneigung entgegentrüge. Doch da kam eines Tags die Stunde, wo er mich mit dem Bekenntnis erschreckte, daß er mich anders liebe, daß er mich zur Frau begehre. – Erschreckte, bei Gott! Denn ich fühlte es nur zu deutlich: Das Glück, das ich mir bisweilen in törichten Stunden erträumte, das konnte er mir nicht geben, so lieb er mir auch war.

Als er aber vor mir stand, in all seiner Güte, und aus seinen Augen so viel Glückserwarten leuchtete, da rief es in mir: Er hat dir so viel, so unendlich viel gegeben, und du zögerst, ihm das einzige zu gewähren, womit du je im Leben es ihm vergelten kannst? – Da gab ich ihm mein Ja.«

Ein schweres Atmen drang durch die Stille, von Rennerts Munde her. Hanna Mertens aber sprach weiter:

»Ich sagte ihm, daß ich die Seine werden wollte; aber ich bat ihn, mir noch einige Zeit meine äußere Freiheit zu gönnen. Ich konnte ja nicht sogleich das Ziel aufgeben, um das ich so große Opfer gebracht und so viel gelitten hatte. Zunächst wollte ich meine Ausbildung beenden und in meiner Kunst etwas erreichen und dann erst sein Weib werden. Und er, in seiner Herzensgüte, ließ mich gewähren; wenn es ihm auch schwer fiel, wollte er doch so lange geduldig warten. Nur war es sein eigener Wunsch, bis dahin vor der Welt unser Verlöbnis geheimzuhalten. Er wollte nicht durch eine förmliche Brautschaft meinem ungezwungenen kameradschaftlichen Verkehr mit ihm Schranken ziehen. – Nun wissen Sie, warum ich schwieg, schweigen mußte, und nun sagen Sie mir wenigstens das eine nur, daß Sie mir nicht zürnen. Ich habe ja nun schon schwer genug zu tragen.«

In leisem Flehen drang ihre Stimme an sein Ohr. Aber er antwortete nicht. Da erhob sie sich. Ein Ton wie von unterdrücktem Schluchzen entrang sich ihr, und sie wollte sich zum Gehen wenden.

»Hanna!«

Der bebende Laut hielt sie zurück. Er war aufgesprungen, und seine Hand streckte sich zu ihr hin.

»Wie sollte ich Ihnen zürnen! Aber verstehen Sie doch, was es für mich heißt, das zu überwinden! Jetzt, wo ich Sie hingeben muß für immer, fühle ich ja erst, was Sie mir gewesen sind – was Sie mir hätten sein können. Mit Ihnen versinkt mein guter Stern, all mein Hoffen und Planen geht dahin.«

Dumpf und hoffnungslos klangen die Worte. Da rief sie verzweifelt:

»Nein – nein!« Und sie war plötzlich bei ihm, ihre Hände packten ihn an, in Todesangst, wie um ihn aufzurütteln. »Nicht das, Knut! Ihre Kunst dürfen Sie nie wieder verlieren – nicht um mich! Das ertrüg' ich nicht! Hören Sie, Knut?«

Überwältigt von ihrer Erschütterung, schluchzte sie auf.

Da riß er sie an sich.

»Hanna! Sag' mir nur das eine: Wenn du ihm nicht gehörtest, dann würdest du mein – ganz mein?«

»Mit jedem Herzschlag dein!«

Und plötzlich schlang sie die Arme um ihn. Ihre zuckenden Lippen preßten sich einen Augenblick lang leidenschaftlich auf seinen Mund.

»Hanna – Hanna!«

Schmerzzerrissen und doch in seligem Taumel blickten seine Augen auf sie nieder.

Da löste sie sich langsam wieder von ihm.

»Gott verzeih' mir die Sünde – aber ich konnte nicht anders. Und nun leb' wohl, Knut. Von jetzt an nur noch dein treuer Kamerad.«

Verzweifelt die Zähne aufeinanderbeißend, preßte er wortlos ihre Hand, bis sie ihm diese entzog.

»Leb' wohl!«

Noch einmal klang ihm der leise, zitternde Gruß ihres Herzens, dann ging sie von ihm.

Er blieb allein zurück. Stundenlang saß er noch in der schweigenden Nacht und starrte vor sich hin. Der Wein vor ihm blieb unberührt, und der Mondenzauber draußen lockte vergebens.

»So ging der Tag zu Ende,
Auf den ich mich gefreut!«

Diese Schlußworte aus irgendeinem alten Liede hallten ihm immer wieder im Ohr – der letzte Akkord von all den frohen Weisen, die heute in seiner Seele und aus seinem Munde geklungen hatten.

 


 << zurück weiter >>