Paul Grabein
Die Moosschwaige
Paul Grabein

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20.

Zum letztenmal trat Rennert an sein Bild heran. Nur wenige Pinselstriche noch, allerletzte feinste Änderungen und Vervollkommnungen, dann war das Werk fertig, an dem er die ganze Zeit seit Hannas Abreise, viele Wochen hindurch, gearbeitet hatte, in jeder freien Stunde, mit größtem Fleiß und tiefinnerlicher Versenkung.

Es war schon Ende Oktober geworden, aber der schöne, sonnige Spätherbst hatte Rennert noch mit seiner Schule in Dachau festgehalten. Es war nicht zu der von Hanna befürchteten, allgemeinen Demonstration seiner Schülerinnen gekommen. Nur Fräulein Hagenow mit ihrer Mutter und Fräulein von Bergen waren abgereist. Die anderen hatten die Angelegenheit weniger leidenschaftlich aufgefaßt, und mit Hannas Übersiedlung nach Schliersee war ja ohnedies die ganze Aufregung gegenstandlos geworden.

Fast sechs Wochen hatte Rennert nun die Geliebte nicht mehr gesehen. Die Sehnsucht nach ihr quälte ihn immer stärker. Aber er hatte es sich gelobt, sie nicht zu rufen. Von allein sollte sie kommen, wenn sie das andere überwunden hatte, und ganz, ohne Selbstquälerei, sein eigen sein konnte. Aber wie fehlte sie ihm! Wie hatte es ihn in all der Zeit nach ihr verlangt! Wie gern hätte er sie teilnehmen lassen an seinem Schaffen, sich mit ihr ausgesprochen über dies und das, was ihm dabei die tiefste Seele bewegte, wie gern aber auch nach angestrengter Arbeit an ihrer Seite ruhevolles Rasten gesucht.

Nun war das Bild fertig geworden und würde an einen Berliner Kunstsalon abgehen, ohne daß sie es zuvor gesehen hatte. Gerade dieses erste Werk seiner Wiedergeburt, an dem sie doch so viel bestimmenden Anteil gehabt hatte. Das war ihm ein bitterer Schmerz. Wie gern hätte er es ihr als der ersten gezeigt. Es wäre ihm gewesen, als ob ihr liebender Blick es geweiht und gesegnet hätte zu seiner Fahrt hinaus in die Welt, wo es nun seinen Namen zu neuen, höheren Ehren bringen sollte.

Aber es sollte nun einmal nicht sein. So hatte er sich damit begnügen müssen, ihr vor einigen Tagen mitzuteilen, daß das Werk unmittelbar vor dem Abschluß stehe und nach seiner Meinung gelungen sei. Aber es war noch nicht einmal eine Antwort von ihr gekommen.

Es hätte ihn kränken können, wenn er nicht Hanna gut genug gekannt hätte, um zu wissen, daß nicht Mangel an Interesse dieses Schweigen veranlaßte, sondern sicherlich ein schwerer Kampf mit sich, ob sie nun nicht doch einmal zu ihm hinüber sollte, um an seiner großen Freude über das Gelingen teilzunehmen. Er hatte zwar nichts davon in seinem Briefe angedeutet – seinem Entschluß getreu – aber im stillen hatte er gehofft, daß sie ihn mit einem freiwilligen Besuch überraschen würde. Nun aber hatte er sich doch wohl getäuscht.

Mit einer leisen Traurigkeit in den Mienen stand Rennert vor dem Bilde, während seine Rechte mit dem Pinsel hier und da hintupfte, immer noch die schon so diskreten Töne um ein weniges herabdämpfend, wo es ihm gut schien.

Da störte ihn ein Klopfen an der Tür auf. Er ging hin, um zu öffnen: es war der Postbote mit einem Briefe. Hannas liebe Schriftzüge!

Voll freudiger Ahnung riß er den ziemlich dick sich anfühlenden Umschlag auf, offenbar ein recht langes Schreiben – immer eine Feiertagsstunde für ihn! Doch er hatte sich getäuscht. Es war nur ein kurzer Brief; aber ihm lag ein zweiter bei, mit schweren, steilen, ungefügen Buchstaben, Hubers unverkennbarer Handschrift, bedeckt.

Was war das?

Mit Herzklopfen überflog Rennert zuerst Hannas Zeilen:

»Mein Knut!

Du wirst mir zürnen, daß ich auf Dein liebes, letztes Schreiben so lange mit meiner Antwort warten lasse; aber Du weißt nicht, wie es seitdem in mir ausschaut.

Schon so ertrug ich es kaum noch vor Sehnen nach Dir, nun kam noch Dein Brief. Dein großes Werk fertig, und ich nicht bei Dir! Das konnte ich ja nicht ertragen – ich mußte zu Dir!

Aber immer wieder kamen die Gedanken, die Du ja kennst. War es schon an der Zeit? Ich hatte ja noch gar nichts von Veno gehört, wie es in ihm aussehen mochte. Das lähmte mir immer wieder die Kraft der Schwingen, die mich zu Dir tragen wollten.

Da kommen eben diese seine Zeilen; ich lege sie bei. Ist es nicht wie eine gnadenvolle Entscheidung der Vorsehung: Du darfst! Mit gutem Gewissen eile nun zu dem, dem Du gehörst, und freu' Dich fortan Deines Glückes!

Und nun hält mich nichts mehr, mein Knut. Morgen nachmittag bin ich bei Dir. Ich fürchte, ich halte es jetzt kaum noch aus bis dahin. Meine innigsten Herzensgrüße fliegen mir voraus – im Geiste bin ich jetzt schon bei Dir, in Deinen Armen!

Deine Hanna.«

Rennerts Finger, die den Brief hielten, zitterten vor allzu großem Glück. Nun kam sie, nicht bloß zu flüchtigem Besuch – nein, für immer!

Dann griff er zu dem zweiten Schreiben, Hubers Brief:

»Liebe Hanna!

Wenn Du diese Zeilen erhältst, sitze ich schon auf der Bahn. Es geht diesmal weit fort und lange, nach Kleinasien. Ich habe mich nun doch entschlossen, einem Ruf zu folgen, der schon vor einiger Zeit seitens der Regierung an mich ergangen ist. Ich hatte bisher meine Entscheidung hinausgeschoben; nun aber nahm ich an. Ich soll mitwirken bei den Ausgrabungen, die der Archäolog Professor Dittfurther in Kilissos am Zeusaltar macht, speziell die künstlerische Rekonstruktion der dort gefundenen Statuen vornehmen. Die Arbeit lockte mich von vornherein sehr und wird mich jetzt ganz ausfüllen. Ich freue mich darauf. Ich habe daher meine Abreise beschleunigt und hoffe in acht Tagen schon an Ort und Stelle zu sein. Meine Aufgabe wird mich wohl auf Jahresfrist, vielleicht noch länger in Kilissos festhalten; wenn ich dann heimkomme, hoffe ich Dich und Rennert als glückliches Paar in Berlin vorzufinden. Dann wollen wir gute Freundschaft halten, alle drei.

Laß einmal von Dir hören, Hanna! Meine nähere Adresse gebe ich Dir nach Ankunft in Kilissos.

Einstweilen herzliche Grüße, auch an Rennert und Börner.

Veno Huber.«

Guter, Lieber!

Mit verehrungsvollem, innigem Dankgefühl gegen den Hochherzigen blickte Rennert ernst auf den Brief. Nun hatte er doch wenigstens das Schwerste hinter sich. Die Arbeit hatte ihn wieder, die Zeit würde das übrige tun. Möchte ihm das Schicksal doch nun auch das Glück später einmal bescheren, auf das er jetzt so tapfer Verzicht geleistet hatte!

Aus tiefstem Herzen wünschte es Rennert, während er mit sanften Griffen langsam das Schreiben zusammenfaltete und mit dem Hannas in seiner Brieftasche barg wie ein teures Vermächtnis.

Dann aber kam Leben über ihn, treibendes, glücksfrohes Leben. Er griff nach Hut und Mantel und eilte aus dem Haus, hinaus zur Moosschwaige.

Atemlos vom Dahinstürmen trat Rennert in Börners Zimmer.

»Du – Hanna kommt, heute nachmittag!«

»Was? Nicht möglich!«

»Ja – mit dem Drei-Uhr-Zug! Also fix, daß wir ihre Stube ein bißchen herrichten!«

»Wahrhaftig, die Hanna? Na, Gott sei Dank, es war ja auch gar zu fad hier, seit sie weg ist.«

Und froh machte sich Börner mit dem Freund ans Werk, alles für den Empfang herzurichten. Er war inzwischen von den beiden heimlich Verlobten ins Vertrauen gezogen worden; so verstand er auch Rennerts zarte Fürsorge für ihre Ankunft.

Während die alte Mutter des Schwaiger-Fritz Hannas Stübchen reinigte, das so lange verschlossen gewesen war, machten sich die beiden Freunde daran, aus dem angrenzenden Gehölz Eichenlaub zu Girlanden und Tannengrün herbeizuschaffen. Der Schwaiger-Fritz traf sie, den Stutzen auf dem Rücken, bei diesen sonderbaren Vorbereitungen.

»No – was schaffts denn da?« forschte er neugierig.

»Die Hanna kommt, Räuberhauptmann! Da müssen wir doch deine gottverlassene Spelunke ein bissel menschenwürdig rausputzen,« klärte ihm Börner den Sachverhalt auf.

»Ah – d' Frail'n?« rief erfreut der Schwaiger-Fritz. Er hatte Hanna, wie sie alle hier, gleichfalls in sein Herz geschlossen. »Ja, da muß ma freili scho was tun. Wann kimmt's denn?«

»Schon heute nachmittag – also höchste Eisenbahn! Geh' steh uns nicht noch im Weg mit deinen langen Spazierhölzern, Rinaldo!« schalt Börner, einen mächtigen Arm voll Eichenzweige an ihm vorbeischleppend.

»Schon nachmittag? Dös is fad! I tät sonst gern a was stiften für den Willkomm.«

»Wohl den Festbraten? Den Bock, du Schlankel, dem du schon seit drei Tagen nachspürst, he? Hab's wohl gemerkt, mei Liaba!«

Der Schwaiger-Fritz lachte, halb verlegen, halb pfiffig, und kratzte sich unter dem Filz den Kopf; aber er erwiderte nichts. Der Malersmann war schon an Fuchs! Dem machte keiner nix weiß!

Aber da wandte sich Rennert an ihn:

»Hören Sie, Schwaiger, Sie könnten aber ein anderes gutes Werk tun, das sie noch mehr freuen wird. Wollen Sie?«

»I will schon.«

»Also, dann springen Sie fix nach Dachau hinein, zu mir in die Wohnung, Sie wissen ja, und holen das Bild dort von der Staffelei her, aber recht vorsichtig!«

»Will's schon heil herschaffen,« versicherte der Schwaiger-Fritz. Er ging dann, um seinen Stutzen im Stadl zu verstecken, und machte sich mit langen Schritten auf den Weg nach Dachau.

*

Alles war nach Wunsch gegangen, das Bild gut zur Stelle gebracht und Hannas Stübchen festlich aufgeputzt. Nun fehlte nur noch sie selbst.

Und sie traf pünktlich mit der Bahn ein. Schon von weitem wehte ihr Tuch aus dem Zuge dem Geliebten, der dort mit Börner stand, den ersten Willkommengruß zu. Dann sprang sie aus dem Coupé, so jugendlich strahlend, wie die beiden sie noch nie gesehen hatten.

Nur ein Händedruck grüßte Rennert wie den Freund, aber ihr selig aufglänzender Blick fiel ihm wie ein Sonnenstrahl ins Herz.

In frohem Geplauder gingen sie dann ihrem Heim entgegen. Es war dabei, vor Börner, keine Gelegenheit zu Zärtlichkeiten. Nur einmal, als dieser einen Augenblick zurückblieb, flüsterte Hanna mit einem schelmischen und dabei überglücklichen Blick dem Geliebten zu:

»Du, die Postwirtin in Schliersee läßt dich schön grüßen, und sie hätte doch recht gehabt!«

»Ah so!« rief Rennert und lachte dabei glücklich auf – damals, als sie die beiden für ein Liebespaar gehalten hatte oder doch für Leute, die eins werden wollten.

Er drückte der Geliebten nur die sich sehnsüchtig an ihn schmiegende Hand; dann war Börner wieder bei ihnen.

Endlich aber kam doch der Augenblick des Alleinseins. Auch der Empfang in der Schwaige war vorüber, und Börner hatte sich unter dem Vorwand, nach einem Tropfen zur Herzstärkung Umschau zu halten, davongemacht.

Da flog Hanna in die Arme des Geliebten.

»Du! Wie hab' ich mich gebangt nach dir!«

Ein leidenschaftliches Umschlingen.

»Nun aber lass' ich dich nicht mehr – nie, nie mehr!«

»Nie – nie!«

Er gelobte es und versiegelte ihr den Mund mit seinen Lippen. Sie waren wie versunken ineinander.

Endlich aber machte sie sich frei aus seinen Armen.

»Wie schön habt ihr alles hier gemacht!« Gerührt sah sie sich in dem ihr liebgewordenen, nun festlich geschmückten Stübchen um. »Nochmals tausend, tausend Dank!«

Sie blickte, mit herzlichem Händedruck, innig den Geliebten an. Dann fiel ihr Blick von ungefähr auf ihre Staffelei.

Einen Moment huschte ein Schatten über ihr leuchtendes Gesicht. Erinnerungen an schweres Leid und bittere Enttäuschungen tauchten in ihr auf. Doch der Schatten verschwand alsbald wieder, nur ein leises Staunen blieb auf ihren Zügen zurück.

»Was ist denn das da?«

Sie wies auf das verhüllte Bild. Sie hatte doch vor ihrer Abreise all ihre Malereien, die Zeugen eines vergeblichen Bemühens, dem Feuer überantwortet. Es sollte sie nichts mehr daran erinnern.

Da trat Rennert schweigend zur Staffelei und schlug die Hülle zurück.

»Dein Bild!«

Fast erschrocken und doch wie ein Freudenschrei kam es von Hannas Lippen. Dann aber stand sie regungslos, die Hände verschlungen, ganz versunken in andachtsvolles Schauen.

Da war das Moos, wie sie es einst mit ihm auf dem einsamen Spaziergang gesehen hatte. Schweigend, weltverloren lag es da unter einem schweren, grauen Herbsthimmel, endlos sich streckend in fahlem Graubraun bis hin zum Horizont. Düster aber überschnitt die Luft ein verfallenes Gehöft im Vordergrund, in seiner Dunkelheit mit einer dämmernden Baumgruppe dahinter zu einer großen, schweren Masse zusammenfließend, die drohend, fast gespenstisch mit dem sturmzerfetzten, halb abgedeckten Dache in den Himmel ragte.

Aus dem Gedämmer der einsamen Ruine wuchs bei näherem Zusehen eine menschliche Gestalt: eine Frau, die, ein armseliges Bündel neben sich und auf den Wanderstab gelehnt, mit finsteren, leeren Augen auf den Boden starrte – jene Landstreicherin da draußen im Moos, die Tochter des Scharrnmüllers, wie sie sagten. Sofort erkannte sie Hanna.

Die starren Blicke der unheimlichen Frau hafteten auf dem Boden, der wild durchwühlt und von Unkraut überwuchert war. Aber gerade zu Füßen der Gestalt ragte aus dem Erdreich ein dort vergrabener oder verschütteter Gegenstand heraus: ein verrostetes Beil.

Welchem Zwecke mochte es einst gedient haben, als dieses Haus noch von Menschenstimmen widerhallte? War es das Werkzeug fleißiger Arbeit gewesen oder einer finsteren, blutigen Tat, über die die Zeit Vergessenheit gebreitet hatte, wie hier den Rost über den einst blanken Stahl?

Wer wußte es? Vielleicht nur die Wanderin, die, von einem bösen Fluche unstet durch die Welt gehetzt, hier flüchtig rastete an der Stätte einstigen friedvollen Hausens.

»Die Moosschwaige« – stand nur als Unterschrift auf dem Goldrahmen des Bildes.

Endlich kam Bewegung in Hanna. Ihre Augen suchten in wortloser Begeisterung und Bewunderung Rennert, der selber mit glänzenden Blicken dastand – so riß ihn die heilige Weihe dieser Stunde fort.

»Wie groß, wie wunderbar groß!«

Und nun trat Hanna auf ihn zu und ergriff seine Hände.

»Knut! Mich hat noch nie ein Bild so gepackt!«

Er dankte ihr stumm, mit einem pressenden Händedruck.

Da klopfte es diskret an, und auf den Zuruf Rennerts trat Börner mit Wein und Gläsern ein.

»So, da hätten wir –«

Aber da fiel sein Blick auf das Bild, und alsbald verstummte er. Schnell setzte er alles aus der Hand und trat still vor die Staffelei.

»Von dir?«

Rennert neigte bejahend das Haupt.

Eine geraume Weile stand auch Börner wortlos, dann sandte er einen Blick voller Bewunderung zu dem Freunde hinüber; doch er nickte ihm nur stumm zu. Darauf schritt er zu dem Tisch, füllte Wein ein und reichte jedem ein Glas. Nun hielt er das seine Rennert hin.

»Du – das ist ein Bild – ein Bild – Mann, das macht dich groß. Aber wirklich groß! Dein Wohl, auf alle Zukunft!«

Aber da lehnte Rennert ab. Ein ernster Zug war auf seine Mienen getreten, und nun nahm er Hannas Hand:

»Das erste Glas einem anderen, der es mehr verdient« – in innigem Verstehen traf sich sein Blick mit dem Hannas – »unser Veno!«

»Ja, Veno! Bei Gott, hast recht!«

Warmherzig rief es Börner. Und drei Gläser klangen hell zusammen in dem einsamen Hause im Moos – ein Gruß hinaus in die weite Welt, zu dem fernen Gestade am blauen Meere des Südens.

 


 


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