Paul Grabein
Die Moosschwaige
Paul Grabein

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14.

Hanna Mertens war nach der unerwarteten Begegnung mit Rennert schweigend an Börners Seite weitergeschritten. Die Unterhaltung, die beide bis dahin geführt hatten, war plötzlich wie abgeschnitten. Börner konnte im zunehmenden Abenddunkel hier im Gehölz Hannas Züge nicht genau erkennen; aber ihm schien es, als ob sich ein tiefes Weh darauf malte, und das gänzliche Verstummen bestätigte ihm, was er vermutete.

Auch der Maler versank nun in Gedanken. Es war ihm schon immer so vorgekommen, als ob das Mädchen ein tieferes Interesse an Rennert nähme; die Wahrnehmungen, die er eben gemacht hatte, behoben den letzten Zweifel daran. Nun begriff er auch ihre plötzlich so verwandelte Stimmung. Was sie da gesehen hatte, mochte sie wohl mit bitterm Schmerz erfüllt haben. Denn die Beziehungen zwischen den beiden, die sie eben überrascht hatten, waren ja ganz klar. Wenn sie nicht schon einig miteinander waren, so standen sie unmittelbar davor. Also –

Arme Hanna!

Voll Teilnahme sah Börner zu ihr hin. Er hatte sie als einen wackeren Kameraden aufrichtig schätzen gelernt, und ihr Leid tat ihm mit weh. Der dumme Kerl, der Rennert! Ließ er sich da mit so einem Gänschen ein und ahnte gar nicht, was für ein Schatz ihm hier im stillen winkte, ein goldenes Herz, wie er so leicht kein zweites finden würde.

Wieder blickte er auf Hanna; war es ihm doch, als ob ein unterdrücktes Seufzen zu ihm klang. Nein, er konnte die Dinge nicht so gehen lassen. Das brave Mädel verdiente es schon, daß er sich mal in eine Sache mischte, die ihn ja eigentlich nichts anging, und er beschloß, gleich morgen Rennert auf die Bude zu rücken und ihm die Augen zu öffnen.

Aber jetzt wollte er versuchen, Hanna wieder ein bißchen aufzurichten, und mit heiterem Ton wandte er sich an sie:

»Ich freu' mich heut' aber mordsmäßig aufs Einhauen! All die Schätze, die wir erstanden haben!« Er hob das Paket mit ihren Einkäufen hoch. »Großartig, das wird ein Schlemmermahl! Gelt, Fräulein Hanna?«

»Sie werden wohl heut' das Abendbrot einmal allein einnehmen müssen,« entgegnete Hanna. Ihre Stimme klang müde, fast gequält.

»Was? Ah, das ist doch nicht Ihr Ernst, Fräulein Hanna!«

»Doch,« beharrte sie. »Mir ist gar nicht wohl. Ich hab' so heftige Kopfschmerzen bekommen. Und ich trag' gar kein Verlangen nach Essen.«

Er wußte, daß das Kopfweh nur eine Ausflucht war, und redete ihr gutmeinend zu:

»Das gibt sich schon wieder, und der Appetit kommt mit dem Essen. Denken Sie doch nur, was für Herrlichkeiten wir in München erstanden haben! Ich spendiere dazu auch eine Flasche Chianti – wir werden noch sehr fidel sein, Fräulein Hanna! Also, Sie sind kein Spielverderber, gelt?«

Er tat ihr leid; er meinte es so herzlich gut. Aber sie fühlte sich nicht imstande, heute abend mit ihm zusammen zu sein.

»Es geht wirklich nicht. Bitte, quälen Sie mich nicht! Sie wissen ja, ich sage nicht ohne Grund nein.«

Da ließ er von weiterem Drängen ab.

»Wenn Sie wirklich nicht können. Fräulein Hanna, dann natürlich nicht. Aber, ich hab's nur gut gemeint,« versicherte er treuherzig.

»Ich weiß.« Sie drückte dem guten Menschen plötzlich die Hand. Dabei fühlte er, wie eiskalt ihre zarten Finger waren.

Dummkopf, vernagelter! schalt er insgeheim Rennert. Daß er sie so quälte mit seiner Gefühlsverirrung. Aber morgen! – nahm er sich noch einmal ganz bestimmt vor.

Wieder versanken sie in Schweigen.

So kamen sie zu Hause an, und Hanna ging nach flüchtigem Gutenachtgruß gleich auf ihr Zimmer.

Da saß sie nun in dem dunklen Gemach, in schweigender Einsamkeit, die Seele zerrissen von brennendem Weh, und doch kamen ihr nicht die erlösenden Tränen.

So schwer und hoffnungslos grau waren all die Tage schon gewesen seit dem entscheidenden Abend in Schliersee draußen; aber nach dem, was sich heute zugetragen, meinte sie, daß es mit ihrer Kraft zu Ende sei.

Er liebte eine andere! Oder, wenn es auch vielleicht nicht Liebe war – sie konnte es ja noch immer nicht denken, gerade bei diesem Mädchen – so war er doch im Begriff, sich in eine Leidenschaft zu stürzen, die ihn verderben mußte.

Mußte, unfehlbar! Das war es, weshalb sie in verzweiflungsvoller Angst und Qual hätte aufschreien mögen.

Nicht, was diese Stunde für sie bedeutete, war es, was sie so marterte. Obwohl es ihr einen Stich ins Herz gegeben hatte, als sie es mit zitternden Augen sehen mußte: Nun ist er dir verloren – für immer. Dein Bild hat er aus seinem Herzen gerissen, in fremden Armen will er Vergessenheit und Trost suchen.

Wie das geschmerzt hatte! Nur Gott wußte es. Und doch, nicht das war das Schlimmste, sondern die quälende Angst um ihn, daß er sich nun doch verlieren würde, daß er sich als Mensch und Künstler zugrunde richten würde durch diese Leidenschaft, in die er sich in seiner seelischen Zerrissenheit gestürzt hatte.

Es konnte ja nicht ausbleiben! Mit angstgeschnürtem Herzen rief sie es sich zu, wieder und immer wieder. Denn das Mädchen, an das er sich verloren hatte, oder zu verlieren im Begriffe stand, war ja kein armseliges Ding, mit dem ein Mann sein Spiel treibt, um es dann überdrüssig beiseite zu werfen. Sie war eine Dame der Gesellschaft – seine Schülerin! Und er ein Mann von Ehre, der wohl wußte, was er ihr schuldig war, der sie heiraten würde, wenn sie es verlangte. Und sie würde es! Das fühlte Hanna deutlich mit dem Instinkt der hellsehenden liebenden Frau. Die Mädchen wollten ihn sich ja einfangen, mit allen Mitteln.

Das unbedachte Spiel seiner Laune würde ihm also die Freiheit kosten, zum zweitenmal – die kaum erst mit so schweren Opfern wiedergewonnene Freiheit. Mein Gott! Sie durfte es gar nicht ausdenken, wie dann alles in ihm allmählich zugrunde gehen würde. Denn an der Seite einer solchen Frau würde seine Seele nimmermehr die Ruhe und Vertiefung zu großen Werken finden.

Verloren, verloren – um ihretwillen!

Entsetzliche Angstvorstellungen schreckten die Gequälte auf. Es war ihr, als hinge Rennert am Rande eines furchtbaren Abgrundes und richtete, verzweiflungsvoll bittend, die Augen auf sie; aber sie streckte die rettende Hand nicht nach ihm aus, und nun ermattete seine Kraft, von Minute zu Minute – nur ein kleines noch, und der zerschmetternde Sturz trat ein.

Hanna sprang von ihrem Sitze auf. Mit fliegenden Händen tastete sie im Dunkel nach Streichhölzern. Nur Licht, Licht! Sie fürchtete, daß Verzweiflung sie in dieser grauenvollen Finsternis packte.

Gott sei Dank, die Lampe brannte! Hanna trocknete sich die feuchte Stirn; dann trug sie die Lampe hinüber auf den Tisch, wo ihr Schreibgerät stand. Es mußte etwas geschehen, das fühlte sie. Aber was, was?

Im Vorübergehen erhellte der Schein des Lichtes ihre Staffelei, und unwillkürlich richtete sich ihr Blick darauf. Schon seit Wochen stand das angefangene Bild an dieser Stelle und kam nicht weiter. Ohne daß sie es wollte, blieb sie einen Augenblick stehen. Sie wollte sich einreden, daß nur die seelischen Erregungen der letzten Zeit ihre Arbeitslust gehemmt hätten. Aber nein – es war etwas ganz anderes, Furchtbares, vor dem sie sich feige verstecken wollte, und dem sie doch nicht entrinnen konnte, dem sie in Kürze in die Augen sehen mußte. Das war die schreckliche Erkenntnis: Du kannst nichts! Deine Kraft ist zu schwach für das Ziel, das du dir gesteckt hast – nun mußt du es aufgeben, auf halbem Wege! Umsonst all dein Ringen die langen Jahre hindurch, umsonst all, all die Opfer, die du dem törichten Wahn gebracht hast! Er hat dich genarrt – nun finde dich damit ab.

Mit einem leisen, dumpfen Laute stöhnte sie auf. Mit Mühe trug sie die Lampe, die in ihrer Hand zitterte, hinüber zu dem Tische und ließ sich selbst auf dem Stuhl davor nieder; sie fühlte sich matt zum Umsinken. Den Kopf in beide Hände gestützt, saß sie und starrte vor sich hin. War es denn wirklich so? Nicht etwa bloß eine Selbsttäuschung, eine Ausgeburt ihrer trübseligen Gemütsstimmung?

Sie sann und sann.

Nein, nein! Diese geheime Furcht hatte sie ja schon lange angefallen, noch ehe das mit Rennert gekommen war, viel früher, bereits in Berlin. Schon dort hatten sie manchmal bange Zweifel beschlichen, ob ihre Kraft denn auch wirklich ausreichen würde für den Weg, den sie sich vorgenommen hatte. Aber ihre Begeisterung für das Ziel, das sie seit Kindesbeinen gelockt hatte, und die Hoffnung, draußen in der Natur die wohl noch schlummernde beste Kraft aufzuwecken, hatten ihr immer wieder über solche Anfälle der Verzagtheit hinweggeholfen.

Nun aber war sie in Dachau. Fast ein halbes Jahr schon lebte und arbeitete sie in der Natur. Und was war der Erfolg? Sie war nicht weitergekommen – trotz allen Fleißes. Wohl hatte sie sich technisch in manchem vervollkommnet; aber gerade hier, angesichts der großzügigen Natur, die sie umgab, und der erhabenen Bilder, die sie mit tiefbewegter Seele erfaßte, zeigte sich ihr Unvermögen, diese künstlerisch festzuhalten. Sie sah das Bild im Geiste fertig bis ins einzelne, in jeder Linie, in jedem Ton; aber sobald sie daranging, es auf die Leinwand zu werfen, dann wurde es etwas ganz anderes, Gekünsteltes, Kaltes, und sie vermochte nicht, ihm den warmen Lebensodem einzuhauchen, den sie doch treibend in ihrem Inneren spürte.

Nein, nein! Sie konnte es nicht länger vor sich selbst leugnen: Sie war wohl imstande, künstlerisch zu sehen, aber nicht zu schaffen. Das war der verhängnisvolle Irrtum gewesen, in dem sie sich befunden hatte, ohne es zu ahnen. Nun aber wußte sie es, und das ganze Fundament, auf dem sich ihr Leben aufgebaut, sank mit einem Schlage in Trümmer.

Und was jetzt?

Hanna fand keine Antwort. Ihr war so elend zumute, so schwach, daß sie nichts mehr denken konnte. Sie hatte nur die Empfindung, als ob alles um sie her zusammenbräche und sie ins Bodenlose stürzte.

Wo ein Halt, an den sie in dieser Not sich klammern konnte?

Da tönten ihr plötzlich, wie von weither, die Worte ins Ohr: »Und wenn du je im Leben nicht mehr aus und ein weißt, vergiß nicht, daß einer da ist, der es treu und ehrlich mit dir meint, der nichts will als dein Bestes.« – Und sie sah das gute, bärtige Gesicht des Mannes vor sich auftauchen, der einst diese Worte bewegten Herzens gesprochen, in der ernsten Stunde, da sie ihre Hand in die seine gelegt hatte.

Veno Huber!

Ein Gefühl heißer Reue und Beschämung überfiel sie plötzlich. Seit Wochen hatte sie nicht mehr an ihn geschrieben, so ganz erfüllt von dem, was ihr Herz bewegte. Was hätte sie ihm auch schreiben sollen? Durfte sie auch seine Seele in Mitleidenschaft ziehen? Nein, es war genug, daß sie allein litt, und sie würde es schon niederkämpfen. Vergessen wollte sie die unseligen Empfindungen für Rennert, wie es ja auch ihre Pflicht war. Trotz ihres Schweigens aber war sie bemüht, recht viel an Huber zu denken, sich im Geist an ihn anzuklammern und seine Hilfe anzurufen wider den anderen, der von ihrem Herzen Besitz ergriffen hatte, so sehr sie auch dagegen sich gewehrt. Doch es war vergebens gewesen; es war ihr bei all ihrem verzweifelten Bemühen, als rücke er immer mehr von ihr ab in weite Fernen, als verschwimme sein Bild in einem grauen leeren Nebel.

Nun aber stand er plötzlich so zum Greifen vor ihrer Seele. War es nicht wie ein Fingerzeig der Vorsehung: Hier ist dein Retter, an den klammere dich in deiner Not! Und ja – das wollte sie, ihn herrufen, ihm ihr Herz ausschütten; er würde schon wissen, was nun das Richtige sei.

Hanna raffte sich auf. Ihre Hände griffen nach Briefbogen und Federhalter, aber mitten in der Bewegung stockte sie wieder.

Ihm ihr Herz ausschütten? Wollte sie das – konnte sie das wirklich? Ihm sagen: Ich liebe den anderen – mehr als mein Leben – ich geh' daran zugrunde! Das wollte sie ihm sagen, ihm, der sie liebte, der sein Lebensglück von ihr erhoffte?

Unmöglich! Die Feder entsank wieder ihrer Hand.

Aber was dann – was dann?

Und wieder ging die verzweifelte Jagd der Gedanken an, immer im Kreis umher ohne Ausweg – immerzu, immerzu, ein Gehetztwerden bis zum Zusammenbrechen.

Da verließen sie endlich die Kräfte. Ihr Kopf sank ihr auf die Arme, und sie weinte, wie sie es seit ihren Kindertagen nicht mehr getan hatte, auch selbst in den schlimmsten Zeiten nicht, wo sie, eine vom Vaterhaus Verbannte, dicht vor dem Verhungern gewesen war. Denn damals hatte sie ja noch eine Stütze gehabt, an der sich ihr Stolz, ihr Trotz aufrechterhalten konnte: Ich leide und sterbe für das, was ich als mein Lebensziel erkannt habe! Aber nun war ihr ja dieser starke, letzte Halt zerbrochen – sie hatte ja kein Ziel mehr, alles war dahin.

So ergoß Hanna ihr bitteres Weh in Tränen; aber in diesem Sturm von Empfindungen klärte sich ihre Seele.

Als sie sich dann wieder aufrichtete, da wußte sie, was sie zu tun hatte: Und doch würde sie Veno Huber rufen! Sie mußte es, sie war es ihm schuldig.

Alles sollte er wissen, und dann sollte die Entscheidung in seiner Hand liegen.

Mit nun wieder fester Hand griff sie zu Feder und Papier, und in großen, klaren Schriftzügen schrieb sie ihm:

»Mein guter Veno!

Du wirst Dich mit Recht gewundert haben über mein so langes Verstummen. Wie Du Dir gewiß schon selbst gesagt haben wirst, Du kennst mich ja so gut, liegt ein ernster Grund dafür vor – ein sehr ernster sogar, lieber Veno! Ich bin in schwere innere Kämpfe geraten, die an die Wurzeln meines Lebens rühren. Ich habe bisher gehofft, allein damit fertig zu werden, Dir das alles ersparen zu können; aber nun sehe ich ein, ich vermag das nicht. Es geht auch nicht bloß mich, sondern auch Dich an. Darum bitte ich Dich, Veno, komm sobald als möglich. Es harrt Deiner und der Entscheidung in schwerem Bangen und doch mit der Gewißheit der Erlösung aus all der Qual

Hanna.«

 


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