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Zweites Kapitel

Trotz seiner siebzig Jahre war Onkel David ein rüstiger Fußgänger, und namentlich an diesem Abend schritt er so tüchtig aus, daß er schon die halbe H.-Straße hinunter war, als ich erst um die Ecke der New Hampshire-Avenue bog.

Seine riesige, aber nicht ungeschickte Figur, die mit der des dicht hinter ihm einhertrottenden Hundes in eins zu verschmelzen schien, war das einzig lebende Wesen in diesem Viertel, dem ödesten von Washington. Als ich mich dem Gebäude näherte, machte die Stille ringsumher einen so beklemmenden Eindruck auf mich, daß ich hätte schwören mögen, die Schatten seien hier tiefer als anderwärts, und die wenigen Gaslaternen, die in weiten Zwischenräumen längs der Häuserreihen aufflackerten, leuchteten schwächer als in den andern Straßen Washingtons.

Inzwischen war Onkel David verschwunden. Er hatte vor einem Gartenzaune Halt gemacht, der, mit wildem Wein bewachsen, das kleine Landhaus, das er, abgesehen von dem großen Familiensitze der Moore, als das einzige Gebäude in der ganzen Gegend bezeichnet hatte, umgab und fast vor den Blicken der Vorübergehenden verbarg, mit anderen Worten, er war zu Hause.

Als ich ihn eingeholt hatte, hörte ich ihn brummen, nicht zu dem Hunde, wie dies seine sonstige Gewohnheit war, sondern zu sich selbst. In der Tat war der Hund nirgends zu erblicken, und dieses Verschwinden seines beständigen Gefährten schien seine Unruhe noch zu erhöhen und ihn weit über jedes vernünftige Maß hinaus zu erregen. Von den Worten, die er an das unsichtbare Tier richtete, konnte ich folgendes verstehen:

Du bist klug, o vielleicht zu klug! Du siehst den losen Fensterladen dort genau so gut wie ich; du bist aber eine feige Kreatur, daß du dich bei ihm so feig vorbei schleichst. Ich tue es nicht. Ich fasse das Ding ins Auge und werde dir obendrein zeigen, was ich von einem Hunde halte, der seinen Posten nicht behauptet und seinem alten Herrn nicht beisteht. Er knarrt, nicht wahr? Laß ihn immer knarren! Ich kümmere mich um sein Knarren nicht, wenn ich auch gern wissen möchte, wessen Hand – holla! Sind Sie es? Die letzten Worte waren an mich gerichtet. Ich war soeben an ihn herangetreten. Ja, ich bin es. Was ist denn nun mit dem Moorehause los?

Er mußte diese Frage erwartet haben, aber es dauerte lange, ehe er antwortete. Auch strengte er seine Stimme zu sehr an, als daß sie natürlich geklungen hätte. Aber er schien gar nicht daran zu denken, daß mir seine Art und Weise auffallen könne.

Sehen Sie sich dieses Fenster dort oben an! rief er endlich. Das mit dem ein wenig offenstehenden Laden! Passen Sie auf, und Sie werden sehen, daß sich der Laden bewegt. Da! jetzt knarrt er; haben Sie es gehört?

Ein Geheul – es klang mehr wie ein Winseln – ertönte aus dem Torweg hinter uns. Sofort drehte sich der alte Herr um und rief mit einer Gebärde, die ebenso streng wie unwillkürlich war:

Sei still dort! Wenn du nicht soviel Mut hast, dir einen offenen Fensterladen anzusehen, dann halte dein Maul und zeige nicht jedem Vorübergehenden, wie dumm du bist. Ich finde, murmelte er halb zu sich, halb zu mir, der Hund wird alt. Es ist kein Verlaß mehr auf ihn. Er läßt seinen Herrn im Stiche, gerade wenn – der Schluß seiner Rede ging in einem Brummen unter, das noch von mehr Zeugnis ablegte, als von Aerger und Ungeduld.

Währenddessen hatte ich das Haus, auf das meine Aufmerksamkeit so energisch gelenkt worden war, genau beobachtet. Ich hatte es schon früher oft gesehen, aber, wie dies so kommt, nie Gelegenheit gehabt, es zu betrachten, wenn die es umgebenden hohen Bäume in Dunkelheit gehüllt waren. Die schwarze Oeffnung seines unbenutzten Portals gähnte aus den Schatten herüber, die einen Teil ihrer Düsterheit den mit seiner Oede im Zusammenhang stehenden schaurigen Erinnerungen zu verdanken schienen.

Der Anblick des Hauses war wenig vertrauenerweckend. Nicht weil der Aberglaube dem einsamen Orte seine Schrecken lieh, sondern weil ich durch die blanken Fensterscheiben, die, je nachdem der von Onkel David erwähnte Fensterladen im Winde auf- und zuschlug, sichtbar wurden und wieder verschwanden, einen Lichtschimmer erblickte oder zu erblicken glaubte, der die Anwesenheit eines Unbekannten in jenen Räumen verriet, die sich vor so kurzer Zeit als ungeeignet zu einem Aufenthalte von Menschen erwiesen hatten.

Sie haben recht, bemerkte ich jetzt zu dem mürrischen Mann neben mir. Es befindet sich jemand in dem Hause drüben. Kann es vielleicht Frau Jeffrey oder ihr Gatte sein?

Zur Nachtzeit, und ohne Gas im Hause? Schwerlich.

Die Worte klangen natürlich, nicht aber die Stimme. Auch das sonstige Verhalten Onkel Davids war nicht ganz der Gelegenheit angepaßt. Ich warf ihm einen mißtrauischen Blick zu und rief, als ich bemerkte, wie scheu er sich vor mir in die Dunkelheit zurückzog, lauter, als er vielleicht erwartet haben mochte:

Ich will noch einen anderen Beamten herbeirufen, und dann wollen wir drei uns sofort in das Haus schleichen und es durchsuchen.

Ich gehe nicht mit, entgegnete er heftig, während er die von wildem Wein überwachsene Gartentür hinter sich aufstieß. Jeffrey und seine Frau würden mir mein Eindringen verübeln, wenn sie je davon hören sollten.

Wirklich! Ich lachte, während ich meinen Pfiff ertönen ließ; dann aber fuhr ich ernster fort, denn die Seltsamkeit seines Benehmens hatte mich auf das äußerste befremdet, und ich glaubte, er müßte doch auch ein Interesse an der Durchforschung des Hauses haben: Sie sollten diese Gelegenheit nicht versäumen. Kommen Sie mit und sehen Sie, was in dem Hause vorgeht, das Sie soeben als das Ihrige bezeichnet haben.

Aber er zog sich nur tiefer in seinen dunklen Garten zurück.

Ich habe dort drüben nichts zu tun, erwiderte er. Veronika und ich haben uns nie gut zusammen vertragen. Ich bin nicht einmal zu ihrer Hochzeit eingeladen gewesen, obgleich ich nur einen Steinwurf von ihrer Tür entfernt wohne. Nein, ich habe meine Pflicht getan, indem ich Sie auf jenes Licht aufmerksam machte, und ob es nun die Blendlaterne eines Einbrechers ist – Sie wissen vielleicht nicht, daß auf den Bücherbrettern der großen Bibliothek seltene Schätze aufgespeichert sind – oder eine phantastische Illumination, vor der sich dumme Leute und dumme Hunde fürchten, ich bin fertig damit, und ebenso heut abend mit Ihnen.

Nach diesen Worten ging er auf die Haustür zu und verschwand unter den Weinranken, die an der Vorderseite der kleinen Villa herunterhingen. Im nächsten Augenblick erklangen von innen die vollen Töne einer Orgel, begleitet von Rudges langgezogenem Geheul, der, sei es infolge zu großer Rührung über das Spiel seines Herrn oder zu großen Mißfallens an ihm – niemand, glaube ich, ist je imstande gewesen, dies zu entscheiden – gewohnt war, diese unerwünschte Begleitung zu jedem von der Hand des alten Mannes hervorgebrachten Tone zu liefern. Das Spiel hörte trotz dieser schauderhaften Mißklänge nicht auf. Im Gegenteil, es nahm an Stärke und Umfang zu und veranlaßte Rudge ebenfalls zu verstärkten Aeußerungen des Schmerzes oder der Freude. Die Wirkung kann man sich denken. Als ich das unerträgliche Geheul des Hundes hörte, das fortwährend das wirklich meisterhafte Spiel seines Herrn unterbrach, fragte ich mich im stillen, ob die von dem düsteren Bau des großen Familienhauses geworfenen Schatten wirklich allein für Onkel Davids Mangel an Nachbarschaft verantwortlich zu machen seien.

Mittlerweile kam Hibbard, der zuerst mein Signal gehört hatte, eiligen Laufes die Straße entlang. Als er mich erreichte, erschien das Licht oder das, was wir ein Licht nennen wollen, wieder in dem Fenster, auf das meine Aufmerksamkeit gerichtet war.

Es befindet sich jemand in dem Moorehause, erklärte ich so festen Tones, als ob ich zu kommandieren hätte.

Hibbard ist ein Riese an Wuchs und an Kraft, und soweit meine eigene Erfahrung reicht, furchtlos und unerschrocken wie der Beste von uns. Nach einem raschen Blicke auf die festungsähnlichen Mauern des einsamen Gebäudes jedoch zeigte er Spuren unverkennbarer Verwirrung und schien keine Eile zu haben, mir auf die andere Seite der Straße zu folgen.

Kommen Sie, rief ich, indem ich vom Trottoir herunterstieg, wir wollen hinübergehen und nachsehen. Es sind kostbare Sachen in dem Hause, schöne Möbel und eine Unmenge wertvoller Bücher in der Bibliothek. Sie haben doch Streichhölzer und einen Revolver?

Er nickte und zeigte mir in größter Seelenruhe erst das eine, dann das andere; dann sagte er mit verlegener Miene, die er unter einem Lachen zu verbergen suchte:

Haben Sie Verwendung für sie? Dann bin ich gern bereit, sie Ihnen für eine halbe Stunde zu überlassen.

Ich war mehr als erstaunt über diesen Beweis von Schwäche bei jemand, den ich bisher für so fest und unerschütterlich gehalten hatte wie Granit. Ich stieß seine Hand zurück, mit der er mir die Waffe halb entgegenhielt, setzte meine ernsteste Miene auf und ging quer über die Straße. Dabei rief ich ihm kurz die Worte zu:

Wir können auf eine ganze Bande stoßen. Sie werden nicht wollen, daß ich es allein mit einem halben Dutzend aufnehme?

Sie werden kein halbes Dutzend Leute drüben finden, brummte er als Antwort. Aber er folgte mir trotzdem, obgleich mit weniger Bereitwilligkeit, als mir lieb war, besonders da ich nicht halb so mutig war, wie ich mich stellte, und eine gewisse Sympathie – nun, sagen wir es gerade heraus – mit dem Hunde empfand, der auch das Orgelspiel seines Herrn lieber mit seinem disharmonischen Geheul begleitete, als daß er vor der Tür geblieben wäre und in einem Garten Wache gehalten hätte, zu dem das unheimliche Gebäude, das ich jetzt zu betreten im Begriffe stand, drohend herüberblickte.

Das Haus ist zu gut bekannt, als daß ich mich versucht fühlen sollte, eine eingehende Beschreibung davon zu geben. Die Abbildungen, die von ihm in allen Zeitungen erschienen sind, haben das große Publikum bereits mit seiner einfachen Fassade und seinen endlosen Reihen von mit Läden verschlossenen Fenstern bekannt gemacht. Selbst von der mächtigen viereckigen Vorhalle mit der für die Negerdiener bestimmten Bank sind Millionen von Photographien verbreitet worden. Wer das Bild, die Flucht der Hochzeitsgäste aus dem offenstehenden Tor darstellend, gesehen hat, wird kein besonderes Interesse für den stillen, beinahe feierlichen Anblick übrig haben, der sich mir darbot, als ich die niedrigen Stufen emporstieg und meine Hand auf die Klinke der altmodischen Haustür legte.

Ich tat dies nicht in der Erwartung, hierdurch Eintritt zu gewinnen, sondern weil es meinem Wesen entspricht, an jedes Ding in der einfachsten Weise heranzutreten. Der Leser wird daher mein Erstaunen begreifen, als die Tür beim ersten Drucke nachgab. Sie war nicht einmal eingeklinkt.

So, so, dachte ich. Das ist gar nicht so dumm; es ist jemand im Hause.

Ich hatte mich mit einer gewöhnlichen Taschenlaterne versehen, und als ich Hibbard überzeugt hatte, daß ich fest entschlossen sei, das Haus zu betreten und zu untersuchen, wer das im Volke herrschende Vorurteil benutzt hätte, um in den alten, verfallenen Zimmern mit Gleichgesinnten Zusammenkünfte abzuhalten oder einen geheimen Zufluchtsort zu suchen, zog ich diese Laterne hervor und machte sie bereit.

Wir stechen möglicherweise in ein Wespennest, erklärte ich Hibbard, dessen Füße selbst für einen Mann seiner Größe auffallend schwer zu sein schienen. Aber ich gehe hinein, und Sie werden mir folgen. Nur möchte ich den Vorschlag machen, zuvor unsere Schuhe auszuziehen. Wir können sie in dem Gebüsch hier verstecken.

Ich erkälte mich stets, wenn ich barfuß gehe, murmelte mein tapferer Gefährte; als er aber keine Antwort erhielt, zog er seine Schuhe aus und legte sie neben den meinigen in den dichten Büschen nieder, die so deutlich auf den erwähnten Photographien zu sehen sind. Dann zog er seinen Revolver aus der Tasche, spannte ihn und blieb erwartungsvoll stehen, während ich der Tür einen vorsichtigen Stoß versetzte.

Finsternis! Stille!

Lieber hätte ich mich einem Lichte gegenüber gesehen und ein Geräusch gehört, selbst wenn es von einer Einbrecherbande hergerührt hätte, denn mit solchen Leuten wußten wir umzugehen. Hibbard schien meine Empfindungen zu teilen, obgleich aus einem ganz anderen Grunde.

Pistolen und Laternen haben hier keinen Zweck, brummte er. Was wir in dieser gesegneten Minute brauchen, ist ein Priester mit einem Weihwasserwedel, und ich möchte einen –

Er wollte sich tatsächlich fortschleichen.

Mit einem unterdrückten Fluch hielt ich ihn zurück.

Sie sind doch kein Wickelkind? rief ich. Kommen Sie weiter, oder – Nun, was gibt es denn schon wieder?

Er hatte mich am Arme gepackt und deutete auf die Tür, die leise hinter uns hin- und herschwang.

Sehen Sie? flüsterte er. Kein Schlüssel im Schloß! Menschen brauchen Schlüssel, aber –

Mir riß die Geduld. Mit einem Ruck befreite ich mich von seiner Umklammerung und sagte leise zu ihm:

Gut, gehen Sie! Ich will mit einem solchen Hansnarren nichts zu schaffen haben. Ich werde allein weitergehen. Und zum Beweise meiner Entschlossenheit drehte ich an dem Schieber meiner Laterne und ließ das Licht durch das Haus blitzen.

Die Wirkung war gespenstisch; während aber der große, starke Mann neben mir schwer atmete, machte er doch von meiner Erlaubnis keinen Gebrauch, wie ich ihm halb und halb zugetraut hatte. Vielleicht war er gleich mir durch den unheimlichen Anblick langer, düsterer Wände und einer ebenso düsteren Treppe gebannt, die aus der noch eine Minute vorher undurchdringlich erscheinenden Finsternis auftauchten. Vielleicht auch war er einfach beschämt. Auf alle Fälle blieb er auf seinem Posten und betrachtete mit rollenden Augen den Teil der Halle, in dem zwei Säulen mit vergoldeten korinthischen Kapitälen die Tür zu dem Raum kennzeichneten, den niemand ohne bestimmten Zweck betrat oder ohne Zagen durchschritt. Ohne Zweifel dachte er an das, was so häufig zwischen diesen beiden Säulen hindurchgetragen worden war. Ich wußte, daß ich es tat, und als in dem plötzlichen, von der offenen Tür herkommenden Zugwinde einige in der Nähe dieser Säulen hängende Draperien sich mit einem Male aufblähten und hin- und herschwankten, war ich nicht allzusehr überrascht, zu sehen, daß er noch das bißchen Mut verlor, das in ihm zurückgeblieben war. Die Wahrheit ist, daß ich selbst stutzte; ich war jedoch imstande, diese Schwäche zu verbergen, und ich herrschte Hibbard leisen Tones an:

Seien Sie kein Narr! Hinter dieser Portiere verbirgt sich nichts Schlimmeres, als ein paar lichtscheue politische Flüchtlinge oder eine Falschmünzerbande.

Das ist möglich; ich würde mir jetzt gerade ein Vergnügen daraus machen, Upson am Genick zu packen und –

Pst!

Ich hatte soeben etwas gehört.

Einen Augenblick blieben wir atemlos stehen, als sich aber das Geräusch nicht wiederholte, schloß ich daraus, es müsse das Knarren jenes offenstehenden Ladens gewesen sein. Augenscheinlich regte sich in unserer Nähe nichts.

Sollen wir die Treppe hinaufgehen? flüsterte Hibbard.

Nicht, ehe wir uns vergewissert haben, daß hier unten alles in Ordnung ist.

Links von uns stand die Tür etwas offen.

Hier war es, wo die Trauung stattfand, bemerkte Hibbard, der mir über die Schulter sah.

Noch überall zeigten sich Spuren von dieser Feier. Wände und Decken waren mit Girlanden geschmückt gewesen, und Girlanden hingen noch am Kamin und über den verschiedenen Türen. Abgerissene Zweige und Reste vertrockneter Blumensträuße, die die davonstürzenden Gäste fortgeworfen hatten, bedeckten den Teppich und verstärkten noch den Eindruck der Verwirrung, den die umgestürzten Tische und Stühle hervorriefen. Ueberall waren Anzeichen sowohl von der Hast sichtbar, mit der das Haus verlassen worden war, wie von der abergläubischen Furcht, die selbst die Dienerschaft abgehalten hatte, es zum Zwecke der Reinigung wieder zu betreten. Nicht einmal das Piano war geschlossen worden, und unter ihm lagen noch einige zerstreute Notenhefte, die dorthin gefallen und liegen geblieben waren, wahrscheinlich zum Schaden irgend eines armen Musikers. Nur die Uhr, die die Mitte des Kaminsimses einnahm, gab Kunde, daß nicht alles ausgestorben war. Sie war zur Hochzeit aufgezogen worden und noch nicht abgelaufen. Ihr Ticktack klang jedoch äußerst schwach durch die Finsternis an unser Ohr, als ob auch sie den Lebensmut verloren hätte und bald in die Grabesruhe, die in ihrer gespenstischen Umgebung herrschte, versinken wollte.

Es sieht wie nach einem Leichenbegängnis aus, sagte Hibbard leise.

Er hatte recht; es war mir, als schlösse ich den Deckel eines Sarges, sobald ich die Tür zumachte.

Unsere nächsten Schritte führten uns in den Hintergrund des Hausflurs, wo wir jedoch wenig fanden, was unsere Aufmerksamkeit hätte fesseln können, und dann machten wir mit einem durch die Umstände vollauf gerechtfertigten Grauen vor der Tür zwischen den beiden korinthischen Säulen Halt.

Sie stand offen wie alle übrigen, und – nenne man mich einen Feigling oder einen Narren – der Leser wird sich erinnern, daß ich Hibbard beide Titel gegeben hatte – ich fand, daß es mich eine gewaltsame Anstrengung kostete, die Hand nach ihr auszustrecken. Wenn irgend eine Gefahr vorhanden war, so drohte sie hier, und während ich mir noch nie bewußt gewesen war, vor einem bekannten Gegner zurückzuschrecken, so hatte ich doch wie andere Leute meines Berufes keine sonderliche Vorliebe für unsichtbare und geheimnisvolle Gefahren.

Hibbard, der mir bis dahin beinahe zu hart auf den Fersen geblieben war, ließ mir jetzt soviel Platz, wie ich nur wünschen mochte. Mit einer Empfindung, als wäre ich völlig allein, stieß ich endlich die Tür auf und überschritt die Schwelle dieses fürchterlichen Raumes, in dem erst vor vierzehn Tagen ein neues Opfer der Liste derer hinzugefügt worden war, die hier auf irgend eine unbekannte, unbegreifliche Weise den Tod gefunden hatten.

Mein erster Blick ließ mich wenig mehr erkennen als die schweren Umrisse eines alten Sessels, der an der einen Ecke des Kamins stand und zur Hälfte schräg in das Zimmer vorsprang. Da es augenscheinlich dieser Stuhl war, auf dem die Menschen, die man hier von Zeit zu Zeit tot aufgefunden hatte, von ihrem Schicksal ereilt worden waren, so fühlte ich, wie mich ein eisiger Schauer durchrieselte, als ich seine massige Form und den tiefen Schatten gewahrte, den er auf den Fußboden warf. Um den gespenstischen Erinnerungen, die er hervorrief, zu entgehen und auch um mich zu überzeugen, daß das Zimmer völlig leer sei, wie es den Anschein hatte, tat ich einen Schritt vorwärts. Die Folge davon war, daß das Licht der Laterne, die ich trug, über den Punkt hinausdrang, auf dem es sich bis dahin in so effektvoller Weise konzentriert hatte, aber eben dadurch uns die trostlose Oede des weiten Raumes noch fühlbarer zum Bewußtsein brachte. Der Stuhl war an den Fußboden angeschraubt, wie ich später feststellte, und beinahe das einzige Möbel in der ganzen Ausdehnung des Zimmers, auf dessen Fußboden kein Teppich lag. Am anderen Ende standen tief im Schatten ein oder zwei Tische und möglicherweise auch ein paar Stühle; aber der allgemeine Eindruck, den ich erhielt, war der eines vollständig verwahrlosten, den Motten und dem Roste zur Beute überlassenen Raumes.

Die Wände muß ich allerdings ausschließen. Sie waren nicht kahl wie der Fußboden, sondern von unten bis hinauf zur Decke mit Büchern bedeckt. Es waren keine modernen Bücher, sie hatten so lange an ihrem Platze gestanden, daß sie die Farbe und den Geruch des Schimmels angenommen hatten – nun, ich brauche hier dem Gemälde keinen weiteren Zug hinzuzufügen. Jedermann kennt den Geist gesundheitsschädlicher Verödung, der in Räumen herrscht, die seit undenkbaren Zeiten von Licht und Luft abgeschlossen gewesen sind.

Die Schönheit der mit schweren Stuckornamenten verzierten Decke, von der man zugeben mußte, daß sie zu den prächtigsten ihrer Art in Washington gehörte, sowie die reichen Skulpturen, die den aus weißem Marmor gehauenen Kamin schmückten, dienten nur dazu, die äußerste Verwahrlosung, der die übrigen Teile des Zimmers anheimgefallen waren, noch greifbarer zu machen. Da ich nichts weniger als Lust hatte, den beklemmenden Eindruck, den das Ganze auf mich gemacht hatte, noch weiter auf mich wirken zu lassen, und außerdem überzeugt war, daß der Raum in der Tat so leer war, wie es den Anschein hatte, wandte ich mich zum Gehen, als meine Augen mit einem Male auf etwas so Unerwartetes und Ungewöhnliches fielen, daß ich noch unter dem Eindrucke der früheren Tragödien stehend, von denen mein Geist naturgemäß noch erfüllt war, stutzte und zurückfuhr, ungewiß, ob ich einen wirklichen Gegenstand vor mir habe oder ob mich ein Spiel meiner wild aufgeregten Phantasie äffe.

Vor mir lag eine Gestalt auf dem Fußboden, und zwar in einer Ecke, die meinen Augen bisher durch die halb offene Tür entzogen gewesen war – eine weibliche Gestalt, die, wie ich sofort beim ersten Blick erkannte, von ätherischer Zartheit und ausnehmender Feinheit war, und diese Gestalt lag so da, wie sonst nur Tote daliegen – Tote! Und ich hatte soeben erwartet, auf dem Lehnsessel genau demselben Anblick zu begegnen! Nein, es war nicht genau derselbe Anblick, denn diese Frau lag am Boden, das Gesicht nach oben gekehrt, und auf der Diele neben ihr zeigten sich Blutspuren –

Eine Hand hatte meinen Arm gepackt. Es war die Hibbards. Befremdet von meiner Unbeweglichkeit und Schweigsamkeit war er mit schlotternden Gliedern eingetreten, kaum wissend, was er sich denken sollte. Sobald aber seine Augen auf die ausgestreckte Gestalt fielen, die meine Blicke mit magischer Gewalt gefesselt hielt, vollzog sich in ihm eine unerwartete Veränderung. Was mir alle Kraft und Fassung geraubt hatte, gab ihm seine volle Selbstbeherrschung zurück. Der Tod in dieser Gestalt war ihm vertraut. Vor Blut fürchtete er sich nicht. Er zeigte auch keine Ueberraschung bei der Entdeckung der Blutspuren, wohl aber, als er die Wirkung bemerkte, die diese auf mich auszuüben schienen.

Erschossen! lautete seine lakonische Erklärung, als er sich über die Leiche beugte. Durch das Herz geschossen! Sie muß tot gewesen sein, ehe sie zu Boden stürzte.

Erschossen!

Dies war eine für dies Zimmer ganz neue Erfahrung! Bisher hatte noch keine Wunde die Opfer, die hier gefallen waren, entstellt, auch war keiner von den Toten in einer anderen Stellung gefunden worden als in den Armsessel zurückgelehnt. Während diese Gedanken durch meinen Kopf schossen, blickte ich unwillkürlich nach jenem Sessel hin, denn ich wollte es beinahe nicht glauben, daß die Leiche diesmal hier ausgestreckt zu meinen Füßen lag. Als ich aber dort nichts bemerkte als den leeren Sessel unseligen Andenkens, überlief mich abermals ein Schauer, der mich einigermaßen auf den Ruf vorbereitete, den Hibbard jetzt ausstieß.

Sehen Sie her! Wie erklären Sie sich dies?

Er deutete auf etwas, was sich bei näherer Besichtigung als ein Stück weißen Seidenbandes herausstellte, das von einem der zarten Handknöchel der Frau vor uns bis zu dem Griff einer Pistole lief, die nicht allzuweit von ihr entfernt auf dem Fußboden lag. Es sieht aus, als sei die Pistole an ihr festgebunden worden. Etwas Derartiges ist mir in meiner Praxis noch nicht vorgekommen. Was, meinen Sie, bedeutet dies?

Ach, es konnte nur eine Bedeutung haben. Der Schuß, der ihrem Leben ein Ziel gesetzt hatte, war von ihrer eigenen Hand abgefeuert worden. Dieses feine, zarte Geschöpf war eine Selbstmörderin!

Aber ein Selbstmord in diesem Raume! Welche Erklärung konnten wir dafür finden? Hatten die Erzählungen, die über dieses berüchtigte Zimmer im Umlauf waren, hypnotisch auf sie eingewirkt, oder war sie zufällig auf die offene Haustür gestoßen und froh gewesen, einen Zufluchtsort zu finden, an dem sie ihrem Elend ungestört ein Ende machen konnte? Ich blickte ihr scharf in das emporgerichtete Antlitz, um eine Antwort auf diese Frage zu finden, und während ich dies tat, durchzuckte mich eine neue schreckensvolle Vermutung, die ich nicht zauderte, meinem jetzt nicht mehr allzu schwachnervigen Gefährten mitzuteilen.

Sehen Sie sich diese Züge an, rief ich. Ich glaube sie zu kennen, Sie auch?

Er murmelte etwas, was wie eine Weigerung klang, beugte sich aber schließlich doch auf meine Bitte über die Leiche und richtete einen langen, forschenden Blick auf das junge Antlitz der bedauernswerten Frau. Als er wieder aufsah, hatte er die Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen.

Ich habe sie sicher schon irgendwo gesehen, gab er zögernd zu, indem er sich langsam der Tür näherte. Vielleicht in den Zeitungen. Gleicht sie nicht –?

Ja, unterbrach ich ihn, es ist Veronika Moore selbst, die Besitzerin dieses Hauses, die vor vierzehn Tagen hier mit Herrn Jeffrey getraut wurde. Augenscheinlich hat ihr Geist unter dem schrecklichen Vorfall gelitten, der einen so düsteren Schatten über ihre Hochzeit warf.


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