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Zweites Buch.
Das Gesetz und sein Opfer


Zehntes Kapitel

In der nächsten Zeit warteten wir vergebens auf eine Erklärung Jeffreys betreffs seines Alibis, das ihm an jenem Tage, an dem wir mit ihm sprachen, nicht gelungen war, nachzuweisen. Tallman, von dem wir übrigens mit leichter Mühe festgestellt hatten, daß er wirklich an dem von Jeffrey angegebenen Tage verreist war, hatte immer noch nichts von sich hören lassen, und es blieb somit nichts anderes übrig, als die amtliche Untersuchung einzuleiten.

Kein Verfahren, bei dem ich je beteiligt gewesen war, interessierte mich so stark wie diese Untersuchung. Erstens trug die Zuhörerschaft einen ganz anderen Charakter als sonst. Als ich mich zu den Zeugensitzen hindurchdrängte, kam ich bei Männern aus den höchsten Ständen, neben denen aber auch Leute aus den niedrigsten saßen, vorüber und schlug meine Augen mehr als einmal vor dem prüfenden Blick einer eleganten Dame nieder, die sich, wie ich wetten möchte, niemals zuvor an einem solchen Orte eingefunden hatte. Als ich meinen Platz erreichte, waren alle übrigen schon versammelt, und der Coroner eröffnete die Sitzung.

Ich wurde zuerst aufgerufen. Was ich bekundete, ist ausführlich auf den vorhergehenden Blättern dargestellt. Natürlich beschränkte sich meine Aussage auf Tatsachen, aber diese Tatsachen waren teilweise den meisten der Anwesenden neu. Augenscheinlich brachten sie einen bedeutenden Eindruck hervor, nicht nur auf die Zuhörer, sondern auch auf die übrigen Zeugen. Zum Beispiel hörte man hier zum ersten Male in der Oeffentlichkeit von den Spuren auf dem Kaminsims oder von den Umständen, die darauf hindeuteten, daß Frau Jeffrey in der Stunde ihres Todes sich nicht allein in dem Hause befunden hatte.

Von jenen Fingerabdrücken war eine Photographie hergestellt worden, und nachdem ich diese Photographie als richtig anerkannt hatte, wurde ich entlassen.

Nach mir sagten die anderen Detektivs aus, die bei der Entdeckung der Leiche zugegen gewesen waren und mein Zeugnis inbetreff der äußeren Erscheinung der unglücklichen Frau und der Art und Weise, in der die Pistole an ihren Arm gebunden war, bestätigten. Dann wurde der Arzt, der die amtliche Totenschau vorgenommen hatte, aufgerufen. Nach einer langen und zweifellos sehr gelehrten Beschreibung der Schußwunde, die dem Leben der jungen Frau ein Ende gemacht hatte – einer Wunde, die, wie er mit einem großen Aufgebot von Gelehrsamkeit darlegte, dieses Ende augenblicklich oder mindestens so rasch herbeigeführt haben müsse, daß es ihr unmöglich gewesen sei, nach dem Schusse noch Hand oder Fuß zu bewegen, wurde er gefragt, ob die Leiche auch noch irgend eine andere Spur von Gewalttätigkeit gezeigt habe.

Es war eine kleine Wunde an dem unteren Ende eines Fingers zu bemerken, erwiderte er, des Fingers, den man im gewöhnlichen Leben als den Goldfinger bezeichnet.

Diese Erklärung erfüllte sämtliche anwesenden Frauen mit erneutem Interesse; auch auf die Männer machte sie einen gewissen Eindruck, namentlich als der Arzt fortfuhr:

Die Hände waren gänzlich von Ringen entblößt. Da Frau Jeffrey bei der Hochzeit einen Ring trug, fiel mir das auf.

War die Wunde, die Sie als klein bezeichnen, frisch?

Sie hatte ein wenig geblutet. Es war eine Hautabschürfung, als ob der Ring, den sie in der Regel trug, mit einem plötzlichen Ruck abgerissen worden wäre.

Als nächste Zeugin wurde das Zimmermädchen Loretta aufgerufen. Nachdem der Coroner sie nach ihrem Namen und der Stellung, die sie in Jeffreys Haushalt bekleidete, gefragt hatte, wünschte er zu wissen, ob sie in Frau Jeffreys Zimmer zu tun gehabt habe; auf ihre bejahende Antwort hin fragte er weiter, ob sie Frau Jeffreys Ringe kenne und zu sagen imstande sei, ob sie sämtlich auf dem Toilettentische der Dame zu finden gewesen seien, als die Polizei die Nachricht von ihrem Tode überbrachte. Die Antwort lautete ganz bestimmt. Sie waren alle da, ihre Ringe und alle anderen Schmucksachen, die sie täglich trug, mit Ausnahme ihrer Uhr. Diese fehlte.

Die weitere Frage, ob sie selbst oder jemand anders diese Ringe in die Hand genommen habe, verneinte Loretta und behauptete, dies sei erst von seiten des Beamten geschehen.

Die Aussage des Detektivs, der nun aufgerufen wurde, war ebenfalls kurz. Er hatte die Ringe in die Hand genommen und sie sich ebenfalls betrachtet; an einem, dem Trauringe, hatte er einen kleinen Blutfleck entdeckt. Er hatte Herrn Jeffreys Aufmerksamkeit auf diesen gelenkt, aber dieser Herr hatte nichts dazu gesagt.

Der Coroner warf einen scharfen Blick auf Jeffrey, dann ließ er Durbin abtreten und rief Loretta abermals auf, die auf Befragen erklärte, sie befinde sich seit drei Wochen in Jeffreys Hause und sei zugegen gewesen, als ihre Herrin von der Trauung zurückkehrte. Auf die weitere Frage des Coroners nach dem Aussehen und Benehmen Frau Jeffreys an diesem Tage antwortete das Mädchen:

Ich mußte sie bald für die heiterste junge Frau halten, die ich je in meinem Leben gesehen hatte, bald für die traurigste, sodaß ich nicht wußte, was ich denken sollte. In der einen Minute war sie so lustig und in der nächsten so entsetzt; so gesprächig, wenn sie die Treppe heraufkam, und so schweigsam, sowie sie in den Salon trat, daß ich sie für recht launenhaft hielt, bis mir jemand zuflüsterte, daß ein furchtbarer Schlag sie getroffen habe; ihre Ehe sei unter unglücklichen Vorbedeutungen geschlossen worden; dabei erfuhr ich auch noch mehr von dem, was sich von Zeit zu Zeit im Moorehause ereignet haben soll.

Hielten Sie Ihre Herrin für gesund und glücklich? fragte nun der Coroner weiter.

Lorettas Stimme sank zum Flüstern herab; sie warf einen Blick auf ihren Herrn, der aber nicht aufsah.

Ich hielt sie nicht für glücklich. Sie lachte und sang und flatterte wie ein Schmetterling von Zimmer zu Zimmer, sah aber nicht glücklich aus, ausgenommen dann und wann, wenn sie mit Herrn Jeffrey allein war. Dann habe ich sie in einer Weise erröten sehen, daß mir das Herz weh tat. Es war ein solcher Gegensatz zu anderen Gelegenheiten, Herr Coroner, wenn sie allein oder –

Oder was?

Oder in der Gesellschaft ihrer Schwester war.

Sie meinen Fräulein Tuttle? bemerkte der Coroner.

Frau Jeffreys Schwester? Jawohl, Herr Coroner.

Fräulein Tuttle lebte im Hause bei ihrer Schwester, nicht wahr?

Jawohl, Herr Coroner, bis zum Tode und Begräbnis dieser Schwester; dann verließ sie das Haus.

Der Coroner verfolgte diesen Punkt nicht weiter, sondern kam lieber auf den früheren zurück.

Sie sagten, Frau Jeffrey habe sich schon seit ihrem Hochzeitstage unglücklich gefühlt. Können Sie mir etwas Bestimmtes darüber mitteilen, ich meine, können Sie sich vielleicht auf eine Unterredung, die Sie zufällig gehört haben, entsinnen, aus der wir entnehmen könnten, was Sie meinen?

Ich liebe es nicht das weiterzuerzählen, was ich gehört habe. Wenn Sie jedoch sagen, daß ich es muß, so kann ich mich entsinnen, daß ich einmal an Herrn und Frau Jeffrey in der Halle vorüberging, gerade als er sagte: »Du nimmst es dir zu sehr zu Herzen! Ich hoffte auf glückliche Flitterwochen. In gewisser Hinsicht haben wir ja gefehlt« – das ist alles, was ich gehört habe, Herr Coroner. Was mich aber diese Worte nicht vergessen ließ, war der Umstand, daß sie sich zu einer Gesellschaft angekleidet hatte und so reizend aussah – so, so, als müßte sie glücklich sein.

Nun, wann war dies? Wie lange vor ihrem Tode?

O, ungefähr eine Woche. Es war sehr bald nach ihrer Hochzeit.

Und besserte sich ihr Zustand später? Erschien sie zufriedener oder gefaßter?

Ich glaube, sie bemühte sich, es zu sein. Aber es lastete etwas auf ihr, was sie durch übertriebene Heiterkeit abzuschütteln versuchte, etwas, was Herrn Jeffrey ungeduldig machte und Fräulein Tuttle betrübte, etwas, was eine Wolke in ihre junge Ehe brachte trotz all der Bälle, der Diners und der Besuche, die sie machte und empfing. Es tut mir leid, davon sprechen zu müssen, aber es war so.

Deutete etwas in ihrem Benehmen auf eine Geistesstörung hin?

Beinahe war es so. Das Funkeln ihrer Augen war nicht natürlich und ebensowenig die Art und Weise, in der sie ihre Schwester und mitunter auch ihren Gatten ansah.

Sprach sie viel über den Unglücksfall, der sich bei ihrer Hochzeit ereignet hatte? Schien sich ihr Geist damit zu beschäftigen?

Anfangs unausgesetzt, später aber nicht mehr in dem Maße. Ich glaube, Herr Jeffrey war darüber ungehalten.

War er je unfreundlich zu ihr?

Nein, Herr Coroner, nicht wenn sie allein waren oder niemand außer mir zugegen war. Er schien sie damals sehr zu lieben.

Was meinen Sie damit, Loretta? Daß Herr Jeffrey die Geduld verlor, wenn jemand anders zugegen war – Fräulein Tuttle zum Beispiel?

Ja, Herr Coroner; er pflegte ein ganz verändertes Wesen gegen seine Gattin anzunehmen, wenn – wenn – wenn Fräulein Tuttle ins Zimmer trat.

Inwiefern?

Er wurde kühler, viel kühler, stand eiligst von seinem Stuhle auf, wenn er neben ihr saß, und nahm ein Buch oder eine Zeitung zur Hand. Fräulein Tuttle schien es gar nicht zu bemerken, aber sie betrat nicht mehr allzuoft das Zimmer, nachdem sich dies ein- bis zweimal ereignet hatte; ich meine das Zimmer im ersten Stocke, in dem sich das Ehepaar aufzuhalten pflegte.

Loretta, fuhr der Coroner eindringlich fort, glauben Sie, daß Fräulein Tuttle ein willkommener Gast in Herrn Jeffreys Hause war?

Ich kann nur wiederholen, erklärte das Mädchen nach kurzem Ueberlegen, was ich einmal Herrn Jeffrey selbst sagen hörte. Fräulein Tuttle hatte soeben das Speisezimmer verlassen, und Frau Jeffrey stand in einer ihrer trüben Stimmungen da, die Hand auf die Lehne ihres Stuhles gelehnt und war im Begriff, fortzugehen, vergaß dies aber. Ich befand mich im Zimmer, aber keins von beiden bemerkte mich; Herr Jeffrey blickte unverwandt auf seine Gattin, und Frau Jeffrey schlug die Augen nieder. Beide schienen sich unbehaglich zu fühlen. Mit einem Male ergriff Herr Jeffrey das Wort und fragte: »Weshalb muß Cora bei uns bleiben?« Sie erschrak, und ihre Züge nahmen einen verwirrten, ängstlichen Ausdruck an. »Weil ich ihrer bedarf!« rief sie. »Ich kann ohne Cora nicht leben.«

Diese Worte, die so verschieden von dem waren, was man allgemein erwartet hatte, erregten im ganzen Saale großes Aufsehen und eine allgemeine Bewegung. Der Coroner zögerte ein wenig, ehe er die nächste Frage tat.

Waren die beiden Schwestern oft zusammen? begann er schließlich von neuem.

Sehr selten; so selten, wie es überhaupt nur zwei Menschen sein können, die in demselben Hause leben.

Der Coroner ließ diesen Punkt fallen und fragte brüsken Tones:

Wissen Sie, ob es zwischen Herrn und Frau Jeffrey zum offenen Bruche gekommen ist?

Die Antwort lautete ganz bestimmt.

Jawohl. Am Morgen des Dienstags vor Frau Jeffreys Tode hatten die Eheleute in ihrem gemeinschaftlichen Zimmer eine lange, heftige Auseinandersetzung, nach der sich Frau Jeffrey nicht länger bemühte, ihr Unglück zu verheimlichen. In der Tat kann man sagen, ihr Todeskampf begann seit dieser Stunde.

Lassen Sie uns hören, was Sie über diesen Streit und seine Folgen zu sagen haben.

Loretta errötete und begann nach einigem Zögern eine Geschichte zu erzählen, die ich dem Leser mit möglichst wenigen Worten wiedergeben will.

Am Dienstag hatten die drei das Frühstück schweigend eingenommen. Am Abend vorher war ein Ball in einem vornehmen Hause der Massachusetts-Avenue gewesen, aber niemand sprach darüber. Fräulein Tuttle machte eine Bemerkung über eine Freundin, die sie dort angetroffen hatte; da aber niemand auf sie achtete, schwieg sie bald und verließ nach kurzer Zeit das Zimmer. Herr und Frau Jeffrey blieben bei Tisch sitzen, aber keines sprach ein Wort. Endlich sprang Herr Jeffrey auf, sagte seiner Gattin mit kaum verständlicher Stimme, er habe ihr etwas mitzuteilen, und ging ihr in das Wohnzimmer voran. Frau Jeffrey sah erschrocken aus, als sie ihm folgte, – so erschrocken, daß es augenscheinlich war, es sei etwas sehr Ernstliches zwischen den Eheleuten vorgefallen oder drohe vorzufallen. Da sich bisher nichts Derartiges ereignet hatte, so konnte Loretta nicht umhin, zu warten, bis Herr Jeffrey wieder erschien; sie tat dies, und als sie kein Anzeichen von Beruhigung in seinen Zügen oder in seinem Benehmen bemerkte, beobachtete sie mit dem neugierigen Interesse eines Mädchens, das sonst nichts zu tun hat, ob er in dieser Stimmung und ohne einen Versuch zur Wiederversöhnung mit seiner jungen Frau zu machen, das Haus verlassen würde. Zu ihrer Ueberraschung ging er aber zur gewohnten Stunde nicht aus, sondern begab sich in Fräulein Tuttles Zimmer, in dem er eine volle halbe Stunde mit seiner Schwägerin eingeschlossen blieb und in unnatürlich aufgeregtem Tone sprach. Darauf kehrte er für einige Minuten zu seiner Frau zurück, konnte ihr aber diesmal nicht viel mitzuteilen gehabt haben, denn er kam sofort wieder zurück und stürmte eiligst die Treppe hinunter, wo er beinahe vergessen hätte, sich seinen Hut aufzusetzen.

Da es Marys und nicht Lorettas Aufgabe war, am Morgen Frau Jeffreys Bett zu machen, so konnte die Zeugin keinen Vorwand finden, sich in diesem Augenblick in ihrer Herrin Zimmer zu begeben; aber später, als Briefe anlangten, denen verschiedene Bestellungen und einige Besuche folgten, ging sie mehr als ein Dutzendmal an Frau Jeffreys Tür. Sie wurde nicht eingelassen, und auch ihre Fragen wurden nur durch ein scharfes: »Machen Sie, daß Sie fortkommen« beantwortet.

Auch Fräulein Tuttle wurde nicht besser empfangen, obgleich sie mehr als einmal versuchte, ihre Schwester zu sehen, namentlich als der Abend hereinbrach und die Stunde herannahte, in der Herr Jeffrey zurückkehren sollte. Frau Jeffrey war fest entschlossen, allein zu bleiben, und als die Dinerstunde kam, Herr Jeffrey aber nicht erschien, so konnte sie nur dazu bewogen werden, die Tür soweit zu öffnen, um die Tasse Tee in Empfang zu nehmen, die Loretta ihr auf Fräulein Tuttles Befehl hatte bringen müssen.

Die Zeugin gestand hier, sie sei über diese ungewöhnlichen Vorgänge und über die Wirkung, die sie auf ihre Herrin auszuüben schienen, im höchsten Grade erregt gewesen; außerdem bemerkte sie, daß Frau Jeffreys Hand wie die einer alten, gelähmten Frau zitterte, als sie nach dem Tablett griff.

Loretta hätte gern einen Blick auf ihr Gesicht geworfen, es war jedoch durch die Tür verdeckt; auch antwortete Frau Jeffrey auf keine einzige ihrer Fragen. Sie verriegelte einfach ihre Tür und hielt sie bis Mitternacht geschlossen, zu welcher Zeit Fräulein Tuttle die Haustür zuzuschließen befahl. Dann wurde die Tür, die so lange Zeit verriegelt gewesen war, leise geöffnet, bevor aber jemand hinzukommen konnte, wieder zugemacht und verschlossen.

Auch der nächste Tag brachte keine Lösung der Spannung. Fräulein Tuttle, die sich im Laufe dieses unglückseligen Tages sehr verändert hatte, gelang es ebensowenig wie gestern, von ihrer Schwester Einlaß zu erhalten; auch Loretta konnte nicht das kleinste Wort aus ihrer Herrin herausbringen, bis Frau Jeffrey am späten Nachmittag die Glocke zog und ihr den ersten Befehl gab.

»Das Diner!« rief sie, und als Loretta, der es jetzt bedeutend leichter ums Herz wurde, ihr die verlangten Speisen brachte, war sie erstaunt, die Tür offen zu finden und den Befehl zum Eintritt zu erhalten. Der Anblick, der sich jetzt ihren Augen bot, erschütterte sie auf das tiefste. Im ganzen Zimmer waren von einem Ende bis zum anderen die Spuren großer nervöser Unruhe und furchtbaren Leidens sichtbar. Die Stühle waren in die Ecken geschoben, als sei die unglückliche junge Frau in einem Anfalle von Tobsucht rastlos die ganze Zeit hindurch im Zimmer umhergewandert. Die Vorhänge waren herabgerissen, auf dem Fußboden lagen Porzellanscherben – von Vasen, deren Wert Frau Jeffrey oft erwähnt hatte, während unmittelbar vor dem Kamin eine in einen Knäuel zusammengeballte Decke lag, als habe sich Frau Jeffrey in ihr auf dem Fußboden umhergewälzt oder sie dazu benutzt, um ihr Schmerzens- oder Wutgeschrei zu ersticken.

Dies war der Zustand, in dem die Zeugin das Boudoir fand. In dem anstoßenden Schlafzimmer herrschte beinahe dieselbe Unordnung, obgleich das Bett selbst augenscheinlich unberührt war. Frau Jeffrey hatte also die vorhergehende Nacht nicht geschlafen, oder wenn sie ihr Haupt irgendwo niedergelegt hatte, so war dies auf der schon erwähnten Decke geschehen.

Diese Anzeichen des äußersten seelischen Leidens, eines Leidens, wie es Loretta noch nie in ihrem Leben mit eigenen Augen gesehen hatte, erschreckten sie so, daß das Tablett in ihrer Hand zitterte, als sie es auf den Tisch mitten unter die zahllosen Gegenstände stellte, die hier stets umherlagen. Das Geräusch schien die Dame des Hauses, die nach Oeffnung der Tür an das Fenster getreten war, zu erschrecken, denn sie fuhr hastig herum, sodaß Loretta ihr ins Gesicht sehen konnte. Es war, als sei ein Mehltau darauf gefallen. Früher über jede Beschreibung heiter und belebt, hatte es in den letzten vierundzwanzig Stunden ein geisterhaftes Aussehen angenommen, und in ihren Augen funkelte der Ausdruck eines furchtbaren Entschlusses.

Loretta, die augenscheinlich daran gewöhnt war, ihre Herrin in glänzende Farben gekleidet und reich mit Schmuck behangen zu sehen, legte großes Gewicht auf den Umstand, daß sie, obgleich es gegen Abend war und sie offenbar ausgehen wollte, ein schwarzes Kleid anhatte, dessen strenge Einfachheit weder durch einen Diamanten noch eine Blume unterbrochen wurde. Auch ihr Haar, auf das sie stets sehr stolz war, war nachlässig auf ihrem Kopfe festgesteckt, als ob sie selbst versucht hätte, es zu ordnen, und, als sie zur Hälfte damit fertig war, vergessen hätte, was sie tun wollte. Auf einem Stuhle, neben dem sie stand, lag ein Mantel und sie hielt einen Hut in der Hand; aber Loretta bemerkte keine Handschuhe. Als der Blick des Mädchens dem ihrer Herrin begegnete, begann Frau Jeffrey zu sprechen, und die Anstrengung, die sie dabei machte, erschreckte das Mädchen natürlich nur noch mehr. »Ich will ausgehen,« lauteten ihre Worte. »Es ist möglich, daß ich erst spät nach Hause komme – was sehen Sie mich so an?«

Loretta erklärte, sie habe sich über diese Worte gewundert und nicht gewußt, was sie dazu sagen sollte; sie habe aber ihre Verlegenheit unter dem Anerbieten zu verbergen gesucht, ihrer Herrin das Haar besser zu ordnen, damit sie einen weniger verstörten Eindruck mache.

Bei dieser Aeußerung warf Frau Jeffrey einen Blick in den Spiegel und erklärte heftig: »Das tut nichts.« Aber in der nächsten Minute schien sie ihre Ansicht geändert zu haben; denn sie warf sich in einen Stuhl, befahl dem Mädchen, einen Kamm zu bringen, und saß ziemlich ruhig da, obgleich sie augenscheinlich sehr aufgeregt und ungeduldig war, während Loretta ihr das Haar kämmte und es in der gewohnten Weise aufsteckte.

Aber es wurde Loretta bei dieser Beschäftigung unheimlich zumute, und sie überlegte, ob sie nicht Fräulein Tuttle herbeirufen sollte. Doch mit einem Male sprang Frau Jeffrey auf, setzte sich an den Tisch und begann in so fieberhafter Hast zu essen wie jemand, der sich trotz Eile und Widerwillens mit Gewalt zwingt, Nahrung zu sich zu nehmen.

Jetzt hätte Loretta das Zimmer verlassen müssen, aber sie vermochte es nicht. Sie stand wie angewurzelt da und beobachtete Frau Jeffrey, bis diese, sich plötzlich der Gegenwart des Mädchens bewußt werdend, sich umwandte und mühsam mit einer fortwährend von Stöhnen unterbrochenen Stimme hervorstieß:

»Gehen Sie, Loretta; ich bin krank, bin zwei Tage lang krank gewesen. Ich liebe es nicht, daß man mich so ansieht, wie Sie es tun.« Dann fuhr sie, als das Mädchen zusammenschrak, mit brechender Stimme fort: »Wenn Herr Jeffrey nach Hause kommt –« Dann schwieg sie mehrere Minuten, während derer sie ihren Hals mit beiden Händen umklammert hielt und sich krampfhaft anstrengte, bis sie ihre Stimme wiedererlangte und sich imstande fühlte zu wiederholen: »Wenn Herr Jeffrey kommt – wenn er kommt, so sagen Sie ihm, daß ich in betreff des Schlusses des Romans recht hatte. Vergessen Sie ja nicht, ihm sofort bei seiner Rückkehr zu sagen, daß ich in betreff des Romans recht hatte und daß er sich selber überzeugen möge, ob er nicht so endet, wie ich gesagt habe. Und Loretta« – hier erhob sie sich und näherte sich der Zeugin mit einem sanften, bittenden Blicke, der das weichherzige Mädchen zu Tränen rührte – »klatschen Sie in der Küche nicht über mich. Ich werde nicht lange krank sein. Es wird mir bald, sehr bald besser gehen. Wenn Sie mich wiedersehen, werde ich ganz so sein wie früher. Vergessen Sie, wie – wie« – hier schien sie nach Lorettas Aussage Mühe zu haben, das richtige Wort zu finden – »wie kindisch ich gewesen bin.«

Natürlich gab ihr Loretta dieses Versprechen, wußte aber nicht, ob sie den Mut besessen haben würde, all dies für sich zu behalten, wenn sie nicht gehört hätte, daß Frau Jeffrey, bevor sie das Haus verließ, in Fräulein Tuttles Zimmer trat. Drei Stunden später kam ein Mann von der Polizeiwache mit der Meldung von Frau Jeffreys Selbstmord in dem schrecklichen alten Hause, in dem sie nur vierzehn Tage zuvor getraut worden war. Loretta befand sich gerade im Hausflur, als er kam, und öffnete ihm die Tür. Seinen Auftrag richtete er zunächst an Fräulein Tuttle aus, die unmittelbar vor ihm gekommen war und gerade am Fuße der Treppe stand.

Wie? War Fräulein Tuttle an diesem Abend ausgegangen? fragte der Coroner hier erstaunt.

Ja, erwiderte das Mädchen, sie ging weg, kurz nachdem Frau Jeffrey das Haus verlassen hatte. Bei ihrer Ankunft sagte sie, sie sei um den Straßenblock herumgegangen, sie muß den Weg aber mehr als einmal gemacht haben, denn sie war zwei Stunden fort.

Sagte sie sonst etwas?

Sie fragte, ob Herr Jeffrey nach Hause gekommen und dann, ob Frau Jeffrey zurückgekehrt sei. Beide Fragen verneinte ich.

Nun erzählen Sie uns etwas von dem Beamten.

Er zog die Glocke fast unmittelbar nach Fräulein Tuttle. Da ich glaubte, sie würde unbemerkt die Treppe hinaufschlüpfen wollen, bevor ich jemand einließe, wartete ich eine Minute auf ihre Entfernung. Sie blieb aber, und als der Beamte eintrat, schrie sie laut bei seinem bloßen Anblicke auf, noch ehe er gesprochen hatte. Der Beamte trug sein Abzeichen auf seiner Brust deutlich sichtbar, sodaß ich ihn als Polizeibeamten erkennen konnte.

Er fragte sofort und in sehr brutaler Weise, ob sie Frau Jeffreys Schwester sei, und als sie nickte und Ja flüsterte, polterte er mit der Nachricht heraus, Frau Jeffrey sei tot; er komme direkt von dem alten Hause in der Waverley-Avenue, wo sie soeben gefunden worden sei.

Fräulein Tuttle wußte erst nicht, was sie sagen sollte; sie verbarg ihr Gesicht nur in den Händen und lehnte sich gegen den Treppenpfosten. Ihr Gesicht war von den Falten ihres Mantels verdeckt, und später hörte ich sie wie zu sich selbst flüstern: »Nein, nein! Dieser alte Kamin birgt keinen Magneten in sich. Sie kann nicht dort gefallen sein.« Dann blickte sie wild um sich und rief: »Es liegt noch etwas anderes vor, etwas, was Sie mir noch nicht gesagt haben.« – »Sie hat sich erschossen, wenn es das ist, was Sie meinen.« – Fräulein Tuttle schlug die Hände über ihrem Kopfe zusammen. Es war ein schrecklicher Anblick. »Sie hat sich erschossen?« stammelte sie. »O Veronika, Veronika!« – »Mit einer Pistole,« fuhr er fort, ich glaube, er war im Begriff, zu sagen: die an ihr Handgelenk festgebunden war; er konnte seine Worte aber nicht vollenden, denn bei dem Worte Pistole bedeckte sich Fräulein Tuttle beide Ohren mit ihren Händen und sah einen Augenblick ganz verstört aus, sodaß der Beamte glaubte, sie noch mehr quälen zu müssen, und zu wissen verlangte, ob Herr Jeffrey eine solche Waffe in seinem Besitze habe. – Bei dieser Frage nahm Fräulein Tuttles Gesicht einen sehr seltsamen Ausdruck an. – »Herr Jeffrey! War er dort?« fragte sie. – Der Beamte sah ganz erstaunt aus. »Wir suchen Herrn Jeffrey,« erwiderte er. »Ist er nicht hier?« – »Nein,« kam es gleichzeitig von Fräulein Tuttles und meinen Lippen. – Der Polizist wurde jetzt recht anmaßend. »Sie haben mir noch nicht gesagt, ob hier im Hause eine Pistole vorhanden gewesen ist oder nicht,« sagte er. Fräulein Tuttle suchte sich zu fassen. Ich sah aber ein, daß, wenn jemand sprechen sollte, ich dies sein müsse, und so teilte ich ihm mit, daß Herr Jeffrey eine Pistole besitze und sie in einem seiner Schreibtischschubladen verwahre. Als der Beamte aber wünschte, Fräulein Tuttle möge nach oben gehen und nachsehen, ob die Waffe da sei, schüttelte sie den Kopf und ging auf die Haustür zu mit den Worten, sie wünsche sofort zu ihrer Schwester geführt zu werden.

Der Beamte ging nun mit mir hinauf. Ich deutete auf den Platz, an dem die Waffe gewöhnlich aufbewahrt wurde, und er durchwühlte alles, ohne sie jedoch zu finden.

Der Coroner ging nunmehr auf einen anderen Punkt über.

Wie lange dauerte es noch, bis Herr Jeffrey kam?

Nur wenige Minuten. Ich war furchtbar erschrocken, daß ich allein oben geblieben war, und wollte eben eines der anderen Mädchen bitten, heraufzukommen und bei mir zu bleiben, als ich hörte, wie Herr Jeffrey den Schlüssel ins Schloß steckte. Er war ins Haus getreten und stand an der Tür im Gespräch mit einem Beamten, der ihn augenscheinlich begleitet hatte. Es war ein anderer Beamter als der, der mit Fräulein Tuttle fortgegangen war. Herr Jeffrey sagte: »Was ist das? Meine Frau verwundet?« – »Tot, Herr Jeffrey,« platzte der Mann heraus. Ich hatte erwartet, Herrn Jeffrey heftig erschrecken zu sehen, aber nicht in einer so furchtbaren Weise. Ich fürchtete mich tatsächlich, ihm ins Gesicht zu sehen und wollte weglaufen, war aber dazu nicht imstande, sondern mußte stehen bleiben und ihn beobachten, ich mochte wollen oder nicht. Allein er sprach kein Wort und richtete auch keine weiteren Fragen an den Beamten. Er lag auf seinen Knien und sah leichenblaß aus. Doch blickte er auf, als ihm der Beamte erzählte, wie und wo Frau Jeffrey gefunden worden war, und wandte sich sofort nach mir um, als ich ihm sagte, seine Gattin hätte, als sie das Haus verließ, eine Bestellung für ihn hinterlassen. Diese Bestellung, die ich nach der furchtbaren Kunde von ihrem Tode beinahe Bedenken trug auszurichten, bezog sich auf den Schluß einer Erzählung, wie Sie sich erinnern werden, und es erschien mir herzlos, in einem solchen Augenblicke wie dem gegenwärtigen darüber zu sprechen. Da sie es mir aber so bestimmt befohlen hatte, wollte ich nicht ungehorsam sein. So wiederholte ich ihm denn ihre Worte, während der Beamte mir aufmerksam zuhörte und Herr Jeffrey aussah, als wolle er zu Boden sinken. Wie groß war aber mein Erstaunen, als er plötzlich aufsprang und in fliegender Hast die Treppe hinaufeilte! Aber noch erstaunter war ich, als er auf dem ersten Absatz Halt machte und mich über das Geländer hinweg fragte, wo Fräulein Tuttle sei. Er schien sie selbst in diesem Augenblick mehr zu vermissen als sonst etwas auf der Welt und sah ganz verstört aus, als ich ihm sagte, sie sei schon unterwegs nach der Waverley-Avenue. Aber er faßte sich wieder, ehe der Beamte nahe genug kommen konnte, um sein Gesicht zu sehen, eilte in das Boudoir hinauf und schloß die Tür hinter sich zu; der Beamte und ich blieben unten an der Haustür. Es konnten aber nur wenige Minuten vergangen sein, als Herr Jeffrey mit einem Blatt Papier in der Hand zurückkam, während ein viel ruhigerer Ausdruck auf seinem Gesichte lagerte. »Der Tod war vorhergeplant,« rief er aus. »Meine unglückliche Gattin hat meine Liebe zu ihr mißverstanden.« Und er, der kurz vorher noch ein ganz gebrochener Mann zu sein schien, stand jetzt aufrecht und selbstbewußt da und schickte sich an, ganz ruhig nach dem Moorehause zu gehen. Das ist alles, was ich über die Art und Weise aussagen kann, in der er die Nachricht aufnahm.


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