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Am nächsten Morgen befand sich die Stadt in fieberhafter Aufregung. Die brennenden Tagesfragen – die ganz unerwartet kommende Mobilisierung des Heeres und die Aussicht auf rasche Fortschritte auf Cuba – waren alle über der einen furchtbaren Nachricht von dem Tode der jungen Frau Jeffrey und den beklagenswerten Umständen, unter denen er erfolgt war, vergessen. Niemand sprach von etwas anderem, und nur wenige vermochten an etwas anderes zu denken. Ihre Jugend, ihre Vornehmheit, ihre Vereinigung mit einem so ausgezeichneten Manne wie Herrn Jeffrey, der schreckliche Vorfall bei ihrer Trauung, der jetzt durch das noch ergreifendere Unglück, das ihrem eigenen Leben so plötzlich ein Ziel gesetzt hatte, in Schatten gestellt worden war, verliehen der Angelegenheit ein Interesse, das während der ersten vierundzwanzig Stunden keiner weiteren Steigerung durch eine übereilte Hindeutung auf einen vorliegenden Mord fähig war.
Ich hütete mich denn auch wohl, eine Bemerkung darüber zu machen, daß ich an etwas anderes als einen Selbstmord glaubte, nahm mir aber im stillen vor, alle die Familie Jeffrey betreffenden Tatsachen zu sammeln. Eine meiner ersten Beschäftigungen bestand darin, daß ich die Spalten des »Star« durchblätterte und noch einmal den Artikel über das schreckliche Ende der Jeffrey-Mooreschen Hochzeit las, der am Abend seines Erscheinens ganz Washington mit Entsetzen erfüllt hatte. Die Festlichkeit, die infolge des verspäteten Erscheinens der Braut über eine halbe Stunde später als festgesetzt stattgefunden hatte, war dadurch jäh unterbrochen worden, daß ein den übrigen Gästen vollständig unbekannter Mann, der durch bei ihm aufgefundene Briefe als ein Herr W. Pfeiffer aus Denver rekognosziert wurde, tot auf dem Lehnstuhle in der Bibliothek gefunden wurde. Die unheimliche Entdeckung hatte zwar keine Unterbrechung der Zeremonie bewirkt, aber die Gäste waren nach Schließung der Ehe nach allen Richtungen geflohen.
Eine weitere Depesche aus Denver besagte, man könne sich dort die Anwesenheit Wallace Pfeiffers, eines der angesehensten Bürger der Stadt, in Fräulein Moores Hause nur so erklären, daß er, obgleich Kaufmann und vor kurzem Goldgräber in Klondike, sich doch sehr für die Geheimwissenschaften interessierte und fast an alle Arten übernatürlicher Kundgebungen glaubte. Er hatte wohl von dem unheilvollen Gerüchte gehört, das sich an das Moorehaus heftete, und hatte die Gelegenheit benutzt, das interessante alte Gebäude zu betreten und die verhängnisvolle Bibliothek persönlich zu durchforschen. Dabei sei seine Phantasie wohl so erregt worden, daß der Tod infolge der außerordentlichen Feinfühligkeit seiner Natur eintrat.
Der nächste Artikel war kurz. Neuere Ereignisse hatten den Vorfall, der vor drei Tagen das Stadtgespräch gebildet hatte, in den Hintergrund gedrängt.
»Verdikt in Sachen des auf dem Lehnstuhle in der Bibliothek des alten Moorehauses tot aufgefundenen Wallace Pfeiffer.
Todesursache: Herzlähmung.
Die Leiche wurde heute nach Denver übergeführt.«
Und darunter, nur durch einen Zwischenraum getrennt, standen die Worte:
»Herr und Frau Francis Jeffrey haben sich entschlossen, ihre Hochzeitsreise aufzugeben und ihre Flitterwochen in Washington zuzubringen. Sie werden ein Haus in der K.-Straße beziehen.«
Die letztgenannte Notiz brachte mir die mich unaufhörlich beschäftigende Frage in mein Gedächtnis zurück. Konnte man in dem Haushalt des neuvermählten Paares und in den bei seiner Verbindung möglicherweise obwaltenden geheimen Leidenschaften die Veranlassung zu dem blutigen Verbrechen erblicken, das sich meiner Meinung nach hinter diesem anscheinenden Selbstmorde verbarg? Oder waren diese in Betracht kommenden Personen unschuldig und der alte David Moore die einzige treibende Kraft bei der Herbeiführung einer Tragödie, die ihn bereichern und jene berauben sollte? Was diese selbst betrifft, so schienen die wenigen, eine Erklärung versuchenden Zeilen, die Veronika ihrem Gatten hinterlassen hatte, auf niemand Eindruck zu machen. Für die näheren Bekannten des jungen Paares bildeten sie einen untrüglichen Beweis für ihre Geistesstörung; in den Augen derer, die das Paar oberflächlich kannten, und für das Publikum im großen und ganzen waren sie das Geständnis einer Frau, die sich von ihrem Manne enttäuscht sieht.
Um herauszubekommen, welche von diesen beiden Auffassungen die richtige war, benutzte ich einen freien Nachmittag zu einem Ausfluge nach Alexandria, wo, wie mir mitgeteilt worden war, Herr Jeffrey die Bekanntschaft seiner Frau gemacht hatte. Man sieht, ich wünschte etwas Lokalklatsch zu erfahren, und mein Wunsch ging in Erfüllung. Die Luft war vollgeladen damit, und da ich die Vorsicht gebrauchte, mich nicht als Detektiv einzuführen, um kein Mißtrauen rege zu machen, so brachte ich mit leichter Mühe verschiedene dem Anschein nach unbedeutende Tatsachen zusammen. Geordnet und in Form einer Erzählung gebracht, lautet das Ergebnis folgendermaßen.
John Judson Moore, Veronikas Vater, besaß weniger Seltsamkeiten als die übrigen Mitglieder dieser exzentrischen Familie. Man glaubte jedoch, er hätte den seiner Familie eigentümlichen Selbständigkeitstrieb dadurch gezeigt, daß er bei der Wahl einer Lebensgefährtin eine Witwe bevorzugte, die ihm nicht nur ein Kind mit in die Ehe brachte, sondern die auch allgemein als die einfachste Frau in Virginia galt, während er die größte Schönheit des Südens habe bekommen können. Aber als im Laufe der Zeit diese verachtete Frau jene Tugenden und gesellschaftlichen Vorzüge entwickelte, die sie im hohen Grade zur Leitung des großen Haushaltes befähigten, dessen Herrin sie geworden war, wurde ihm sein Mangel an Geschmack verziehen. Es wurde seitdem wenig von seinen Eigenheiten gesprochen, bis er nach dem Tode seiner Frau und bei der Schwächlichkeit seines Kindes ein Testament zugunsten seines Bruders errichtete, das diesen Herrn später mit so tiefer Genugtuung erfüllen sollte.
Weshalb diese Handlungsweise bei den Freunden der Familie so großen Unwillen erregte, darüber erhielt ich keine Auskunft; daß dem aber so war, geht daraus hervor, daß allseitig große Befriedigung Platz griff, als sich Veronika plötzlich zu einem gesunden, kräftigen Kinde entwickelte und die Wahrscheinlichkeit, daß David Moore das große Vermögen erben würde, ganz minimal wurde. Die Freude dauerte jedoch nicht lange, denn John Judson folgte seiner Gattin in die Gruft, ehe Veronika ihr zehntes Jahr erreicht hatte, und hinterließ sie und ihre Halbschwester, Cora, der Vormundschaft eines sonderlichen alten Rechtsgelehrten, der schon seines Vaters Sachwalter gewesen war. Dieser Anwalt war grämlich und eigensinnig, aber niemals direkt unfreundlich. Zwei Jähre lang schienen die Schwestern ziemlich zufrieden zu sein, als man sie plötzlich und in etwas gebieterischer Weise trennte, indem Veronika in eine Schule nach dem Westen geschickt wurde, wo sie, anscheinend ohne einen einzigen Besuch im Osten zu machen, bis zu ihrem siebzehnten Jahre blieb. Während dieser langen Abwesenheit der Schwester lebte Fräulein Tuttle in Washington und entwickelte sich unter der Leitung ihrer Lehrer zu einer vollendeten Dame. Veronikas Vormund, der die jugendliche Besitzerin des großen Vermögens, dessen alleiniger Verwalter er geworden war, sehr streng behandelte, zeigte sich gegen die Schwester, die keinen Pfennig besaß, auffallend freigebig, vielleicht mit der Hoffnung in seinem verschlossenen, eigenwilligen alten Herzen, daß die Reize und die Anmut Coras ihr einen Gatten aus der bevorzugten Gesellschaftsklasse verschaffen würden, zu der sie von der Natur bestimmt schien. Aber Fräulein Tuttle war nicht leicht zu befriedigen, und die ersten Männer Washingtons kamen und gingen, ohne in ihr ein wärmeres Interesse zu erregen, bis sie Francis Jeffrey begegnete, der ihr Herz sogleich beim ersten Blicke gewann.
Diejenigen, die sich ihrer von jenem Winter her erinnern, behaupten, sie habe sich unter seinem Einflusse aus einem schönen Mädchen in ein liebliches verwandelt. Aber es fand keine Verlobung statt, und man wunderte sich, warum Francis Jeffrey seine Hand nicht nach einem so hohen Preise ausstreckte, als Veronika Moore nach Hause kam und die Frage endgültig entschieden wurde.
Veronika war nunmehr fast achtzehn Jahre alt und war in ihrer Abwesenheit zur Jungfrau herangeblüht. Sie war nicht so schön wie ihre Schwester, aber sie besaß ein anmutiges und gefälliges Aeußere und dabei doch soviel Uebermut in ihrem Temperament, um ihre mädchenhaften Züge nicht leer und ihre Unterhaltung witzig, wenn nicht geradezu glänzend erscheinen zu lassen. Als aber Francis Jeffrey sich mit seinen Huldigungen von Fräulein Tuttle abwandte und sie ganz offen und ohne jede Scheu diesem hübschen Schmetterling darbrachte, so ließ sich nur ein Ausdruck zur Charakterisierung dieser Handlungsweise finden, und der lautete: Glücksjäger. Im Besitze eines kleinen, aber sicheren Einkommens, hatte er bisher eine gewisse Zufriedenheit mit seiner Lage gezeigt, die darauf berechnet war, Achtung einzuflößen und den Anschein zu erwecken, als seien seine Huldigungen für Fräulein Tuttle aufrichtig und ernst gemeint. Aber kaum erblickte er Veronikas strahlende Augen, als er sein Herz der jungen Erbin zu Füßen legte und seine Werbung so angelegentlich und rasch betrieb, daß sie nach zwei Monaten verlobt und nach Verlauf eines halben Jahres verheiratet waren – die traurigen Folgen hatten sich allerdings sehr bald gezeigt.
Den Kopf voll von diesen Eindrücken, kehrte ich nach Washington zurück. Ich hatte mich mit den offen zutage liegenden Tatsachen aus der Geschichte der Familie bekannt gemacht; was wußte ich aber von dem Innenleben der in Betracht kommenden Personen? Wer wußte überhaupt etwas davon?