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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Wäre Herr Gryce zugegen gewesen, so hätte ich augenblicklich meine Enttäuschung niedergerungen und wäre wieder ich selbst gewesen, ehe er Zeit gehabt hätte, sich zu fragen: Was ist denn mit Miß Butterworth los?

Aber Herr Gryce war nicht zugegen, und wenn ich auch nicht die ganze Tiefe meiner Enttäuschung offenbarte, so verriet ich doch genug davon, um Fräulein Spicer zu der Frage zu veranlassen:

Sie scheinen über meine Worte erstaunt zu sein. Hat Ihnen jemand gesagt, daß die zwei Frauen sich ähnlich sehen?

Wie ich mich jetzt zu einer Antwort gezwungen sah, nickte ich heftig mit dem Kopfe und sagte:

Ja, es war jemand töricht genug, es zu behaupten.

Fräulein Spicer schien nachzudenken. Sie interessierte sich zwar für den Gegenstand, aber doch nicht genug, um ihre eigenen Sorgen darüber zu vergessen. Nach einer Weile sagte sie:

Luise Van Burnam hatte ein spitzes Kinn und kalte, blaue Augen. Und doch war ihr Gesicht für viele sehr reizvoll und anziehend.

Nun ja, das Ganze ist eine schreckliche Tragödie, bemerkte ich. Und nun versuchte ich, Fräulein Spicer von dem Gegenstand abzulenken, was sie mir übrigens leicht machte.

Ich hob auch den umgestoßenen Arbeitskorb auf und sah nun, wie die Lippen der Kranken sich leise bewegten. Ich eilte zu ihr hin und beugte mich über sie, konnte aber nicht verstehen, was sie sagte. Nach einer Weile erhob sich Fräulein Spicer, um mir Gute Nacht zu wünschen und sich zu entfernen. Sie bat mich noch, mich nicht zu übermüden und nicht zu vergessen, daß sie draußen auf einem Tischchen Kuchen und Wein bereitgestellt habe, die mir als Stärkung dienen sollten. Ich begleitete sie zur Tür und eilte dann auf den Zehenspitzen wieder zu der Kranken.

Jetzt hörte ich sie deutlich die Worte flüstern: »Van Burnam! Van Burnam!« und dann noch: »Howard! Franklin!«

Ah! dachte ich, von neuer Hoffnung beseelt. Wenn es nicht Luise Van Burnam ist, so ist es doch die Frau, die ich suche. Und ohne mich diesmal um ihr Sträuben zu kümmern, warf ich die Decke zurück und zog Schuhe und Strümpfe von ihren Füßen.

An den Knöcheln war keine Narbe zu finden. Rasch breitete ich die Decke wieder über ihre Füße und begann nun die Schuhe zu untersuchen. Ich begriff sogleich die Furcht, die sie gezeigt hatte, als ich ihr die Schuhe ausziehen wollte. Im Futter der Schuhe waren Banknoten eingenäht, die einen hohen Wert darstellten. Sie hatte also gefürchtet, man könnte entdecken, daß sie ein kleines Vermögen bei sich trug.

Ich nähte das Futter der Schuhe wieder zu, stellte sie unter das Bett und begann über die veränderte Situation nachzusinnen.

Mein Irrtum bestand also darin, daß ich angenommen hatte, die Flüchtige müßte, weil sie die Kleider der Frau Van Burnam trug, diese selbst sein. Nun sah ich aber ein, daß die Ermordete wirklich Howards Frau war, und die Kranke vor mir ihre Rivalin.

Aber diese eine Tatsache stürzte ja alle meine Schlüsse um. Welche der beiden Frauen war also mit Howard in das Haus gekommen? Er hatte gesagt, er wäre mit seiner Frau gekommen, und ich hatte mich überzeugt, daß es die andere, die Rivalin gewesen sein mußte. Wer von uns beiden hatte recht?

Da ich diese Frage nicht entscheiden konnte, wandte ich mich einem anderen Punkte zu. Wann tauschten die beiden Frauen ihre Kleider, oder vielmehr wann verschaffte sich die jetzt Kranke die reiche Wäsche und die Kleider der Frau Van Burnam? Noch bevor sie in das Haus trat, oder erst nach der Begegnung?

Ich überdachte einzelne kleine Tatsachen, deren Erklärung ich bis jetzt nicht gesucht hatte. Aus diesen hoffte ich etwas Neues zu erfahren.

Diese Tatsachen waren:

Erstens: ein Wäschestück der Toten war am Rücken eingerissen. Die Wäsche war aber ganz neu, folglich mußte an diesem Stück heftig gezerrt worden sein. Bei einem bloßen Kampf wäre es aber schwerlich so weit eingerissen.

Zweitens: die Schuhe der Toten waren die einzigen Artikel, die nicht von der Firma Altman kamen. Als Frau James Pope ihre ganze Bekleidung wechselte, waren gerade nur die Schuhe nicht umgetauscht worden. Konnte man diese Tatsache nicht damit erklären, daß die Banknoten bereits in den Schuhen eingenäht waren?

Drittens: die Flüchtige, die alle Ursache hatte, nicht aufzufallen, lief ohne Hut und Handschuhe fort, obgleich ein zweiter Hut und ein zweites Paar Handschuhe im Hause waren. Zuerst hatte ich es mir so erklärt, daß sie befürchtete, mit dem bunten Hut noch mehr aufzufallen als ohne Hut. Aber diese Erklärung hatte mir gleich nicht genügt, und jetzt befriedigte sie mich noch weniger.

Viertens: hatte nicht das Mädchen die Worte gesprochen: »O! wie kann ich sie anrühren! Sie ist ja tot! Ich habe noch nie eine Leiche berührt!«

Ging daraus nicht klar hervor, daß dieses junge, anscheinend so empfindliche schwache Mädchen die Kleider nach dem Tode der Frau umgetauscht hatte?

Dieser Gedanke, und was sich weiter daraus ergab, war ja schrecklich! Hatte sie es über sich bringen können, die Tote umzukleiden, so mußte ihr Wunsch, sich zu verbergen, übermächtig gewesen sein. Und das konnte nur der Fall sein, wenn sie das schreckliche Verbrechen selbst begangen hatte. Aber Howard? – Seine Handlungsweise blieb noch immer gleich unerklärlich. Doch ich konnte auch jetzt nicht an seine Schuld glauben. Im Gegenteil, seine Unschuld schien mir jetzt noch deutlicher erwiesen zu sein als vorher. Denn wäre er mit oder ohne Absicht am Mord seiner Frau schuld gewesen, hätte er dann seinen Helfer so plötzlich verlassen, ohne dafür zu sorgen, alle Spuren, die einen Verdacht hätten aufkommen lassen, zu beseitigen? Hätte er diese Sorge allein der Frau überlassen? Nein, die Annahme schien wahrscheinlicher, daß das Verbrechen nach seinem Fortgang geschah, und daß er die Identität seiner Frau leugnete, weil er nichts von ihrer Anwesenheit im Hause wußte. Da die Kleider erst später umgewechselt wurden, glaubte er, das Opfer an den Kleidern erkannt zu haben. Er war vielleicht wirklich in gutem Glauben gewesen, als er sie nicht erkennen wollte. Diese Annahme war durchaus nicht unwahrscheinlich und erklärte vieles in Howards Benehmen, was sonst rätselhaft blieb.

Aber die Ringe? Weshalb konnte ich die Ringe nicht finden? Waren meine Vermutungen richtig, so mußte die Frau diesen Beweis ihrer Schuld bei sich haben. Und doch hatte ich jedes Plätzchen im Zimmer erfolglos abgesucht! Dieser eine Mißerfolg ärgerte mich sehr. Um meine Gedanken etwas von dieser Angelegenheit abzulenken, nahm ich das Strickzeug, das in Ruth Olivers Arbeitskörbchen lag, und begann zu stricken.

Ich hatte kaum zu arbeiten begonnen, als eine unruhige Bewegung der Kranken mich wieder zu ihrem Bett treten ließ; Ruth Oliver hatte sich aufgerichtet und schaute mich nicht mehr mit leidendem, sondern mit angsterfülltem Blick an.

Tun Sie das nicht! stöhnte sie und wies mit zitternder Hand auf meine Arbeit. Das Klappern der Nadeln kann ich nicht vertragen. Bitte, legen Sie die Arbeit weg! Bitte, legen Sie sie rasch weg!

Sie war so erregt, ihre Nervosität schien so groß zu sein, daß ich ihrem Wunsche augenblicklich willfahrte. Wenn mich auch ihr Verbrechen mit Abscheu erfüllte, so wollte ich doch nichts tun, was sie unnötig gequält hätte. Als ich das Strickzeug beiseite legte, sank sie wieder zurück, und ein Seufzer der Erleichterung kam von ihren Lippen. Bald war sie wieder ganz ruhig, und meine Gedanken kehrten zu dem alten Thema zurück. Die Ringe! Wo waren die Ringe? Würde es mir gelingen, sie zu finden?

*


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