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Ja, durchaus, erwiderte ich, jetzt mit einer solchen Ironie in meiner Stimme, daß ich mit vollem Recht sagen konnte, ich hatte nicht gelogen. Aber fahren Sie fort. Ich bin noch nicht befriedigt. Nachdem Sie einmal das Motiv des Verbrechens entdeckt hatten, sind Sie sicher nicht dabei stehengeblieben.
Er stellte lächelnd das silberne Körbchen auf seinen Platz zurück.
Sie haben recht, sagte er. Ich blieb nicht dabei stehen. Das nächste, was ich zu tun hatte, war, Beweise für die Schuld Franklins aufzubringen.
Und das ist Ihnen gelungen?
Gewiß. Die Anzeichen, die gegen ihn sprechen, sind jetzt viel größer als die Verdachtsmomente gegen seinen Bruder. Schalten wir doch einmal den letzten Teil der Aussage Howards aus: welche Anzeichen sprechen dann noch gegen ihn? Nur drei: die Weigerung, seine Frau erkennen zu wollen; die an seinen Bruder gerichtete Bitte, ihm den Hausschlüssel für einen Tag zu überlassen, und die Tatsache, daß er zu ungewöhnlicher Stunde auf der Freitreppe vor dem Haus seines Vaters gesehen worden war. Und was spricht gegen Franklin? Gar viele Anzeichen!
Erstens: er kann ebensowenig wie sein Bruder den Nachweis erbringen, wo er die Zeit von halb zwölf am Dienstag Morgen bis um fünf Uhr früh des nächsten Tages verbracht hat. Einmal erklärt er, daß er sich in seiner Wohnung eingeschlossen hatte, ein anderes Mal, daß er auf der Suche nach seinem Bruder war; und beides kann er natürlich nicht beweisen.
Zweitens: er und nicht Howard ist der Mann im hellen Staubmantel, er und nicht Howard war in der Mordnacht im Besitz des Hausschlüssels. Ich will Ihnen meine Gründe für diese beiden überaus wichtigen Behauptungen auseinandersetzen. Sie sind ganz unabhängig von der Behauptung des Kassierers des Hotel D.; sie werden nur durch diese Behauptung bekräftigt. Der Hausmeister, der die Geschäftsräume der Firma Van Burnam in Ordnung zu halten hat, stand am Vormittag des 17. September ungefähr zwanzig Schritte vom Hause entfernt auf der Straße und sah zu, wie ein großer Kessel abgeladen und in eine Fabrik transportiert wurde. Wie er so stand, sah er Howard eilig daherkommen – es war nach dessen Unterredung mit seinem Bruder, und nachdem ihm dieser den Hausschlüssel eingehändigt hatte: Howard mußte stehenbleiben und warten, bis man den Kessel über das Trottoir transportiert hatte. Es war sehr heiß. Howard zog sein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich die Stirn ab. Gleich darauf war das Hindernis fortgeschafft, und er setzte seinen Weg fort. Knapp hinter ihm war ein in einen langen Staubmantel gehüllter Herr dahergekommen. An der Stelle, wo Howard einen Augenblick stehengeblieben war, bückte sich dieser Herr und schien etwas aufzuheben, was dem andern vorher aus der Tasche gefallen sein mußte. Die Gestalt in dem langen Staubmantel schien dem Hausmeister bekannt. Auch den Staubmantel hatte er irgendwo gesehen. Später erst erinnerte er sich, daß es der Mantel sein mußte, der schon lange in einem kleinen Wandschrank neben der zu den Magazinen führenden Treppe des Geschäftshauses hing und nie gebraucht wurde.
Der Mann in dem Staubmantel war kein anderer als Franklin Van Burnam. Ich habe mich versichert, daß er kurz nach dem Weggange seines Bruders diesem gefolgt war. Der Gegenstand, den er aufgehoben hat, war zweifellos der Schlüssel, den er erst kurz vorher seinem Bruder eingehändigt hatte. Howard konnte wohl glauben, daß er ihn erst später verloren hatte, weil er den Verlust des Schlüssels erst dann bemerkte.
Der im Wagen des Kutschers gefundene Staubmantel wurde als der Mantel erkannt, der stets unbenutzt in dem erwähnten Wandschrank hing.
Drittens: am nächsten Mittag wurde der Schlüssel zur Eingangstür des Van Burnamschen Hauses an seinem gewöhnlichen Platz, über Franklins Schreibtisch hängend, vorgefunden. Howard konnte ihn nicht hingebracht haben, denn er war nicht wieder im Bureau gesehen worden. Wer anders als Franklin konnte also den Schlüssel hingehängt haben?
Viertens: der Brief, der meiner Ansicht nach das Motiv des Verbrechens bildet, wurde in einem Geheimfach von Franklins Schreibtisch gefunden. Er war ganz zerknüllt; man sah ihm an, daß er nicht gutwillig aus der Hand gegeben worden war.
Das schwerste Verdachtsmoment aber, das auch sicher den Geschworenen als ausschlaggebend erscheinen wird, ist die Auffindung der Ringe, die ebenfalls neben Franklins Schreibtisch verborgen waren. Wie Sie aber erfahren konnten, daß die Ringe dort aufbewahrt wurden, wie Sie sogar genau die Stelle angeben konnten, das weiß ich nun wirklich nicht. Aber ich will ja jetzt nur Tatsachen konstatieren, die ich weiß. Als nun Ihr Stubenmädchen in Herrn Van Burnams Bureau kam, mit rührender Unschuld behauptete, Herr Van Burnam sei von ihrem Kommen verständigt und bat, man möge sie auf ihn warten lassen, fühlte der junge Angestellte, der sie empfing, und der mir ganz ergeben ist, einen Verdacht in sich aufsteigen. Ich hatte ihn ja auch vor Damenbesuch gewarnt, – verzeihen Sie mir diese Bemerkung, Miß Butterworth. Er ließ das junge Mädchen kaum aus den Augen und sah plötzlich, wie sie verstohlen die Hand nach einem neben Franklins Schreibtisch befindlichen Haken ausstreckte, an dem dieser für gewöhnlich noch unbeantwortete Briefe aufzuspießen pflegt. Der Angestellte stand auf und näherte sich freundlich der jungen Dame, die er fragte, ob sie nicht etwas Besonderes wünsche. Er dachte, sie wolle sich irgend eines Briefes bemächtigen, vielleicht um eine Handschrift vergleichen zu können oder aus irgend einem andern Grunde. Jedenfalls war er sehr höflich, wie Ihr Mädchen Ihnen wohl erzählt haben wird. Das Mädchen wurde ganz rot, antwortete jedoch nicht. Sie sollten sie dieser Ungeschicklichkeit wegen ausschelten, Miß Butterworth, wenn Sie etwa die Absicht haben, sie noch ferner zu so vertraulichen Diensten zu verwenden. Und sie beging noch eine zweite Ungeschicklichkeit, indem sie jetzt plötzlich, weil sie sich entdeckt glaubte, fortlief. Dadurch gab sie dem jungen Mann die Möglichkeit, mich sofort anzutelephonieren. Zum Glück war ich zu Hause und konnte gleich herbeieilen. Ich ließ mir alles genau erzählen und kam zu dem Schluß: Was Sie hier in dem Arbeitszimmer des Herrn Van Burnam interessieren konnte, mußte auch mich interessieren. Ich untersuchte daher die Briefe, die das junge Mädchen angefaßt hatte, und zu meiner nicht geringen Verwunderung entdeckte ich die fünf Ringe, die unter den Briefen auf dem Haken hingen. Sie können sich meine Befriedigung vorstellen, Miß Butterworth, und meine Dankbarkeit gegen den pflichteifrigen jungen Mann, der durch seine Aufmerksamkeit mir die Ehre einer Entdeckung verschafft hat, die für mein Selbstgefühl doch so schmeichelhaft ist. Ich hätte es mir nie verziehen, wären Sie mir zuvorgekommen.
Ich verstehe! Ich verstehe! sagte ich. Dann schwieg ich wieder, obgleich mein Geheimnis mir jetzt noch mehr auf den Lippen brannte.
Haben Sie jemals die Erzählungen von Edgar Poe gelesen, und darunter die Geschichte des Filigrankörbchens? fragte mich Herr Gryce, wobei seine Finger rastlos über das Filigrankörbchen eilten, das er selbst in der Hand hielt.
Ich nickte zustimmend. Ich verstand, was er meinte.
Nun, das Prinzip, das in jener Geschichte ausgeführt wird, kann uns zum Verständnis bringen, weshalb die Ringe mitten unter den Briefen des Herrn Franklin Van Burnam hingen. Ist Franklin wirklich der Mörder seiner Schwägerin, so muß ich zugeben, daß er der abgefeimteste Verbrecher ist, den ich jemals kennengelernt habe. Er wußte, daß, wenn jemals der Verdacht auf ihn fallen würde, alle seine Schubladen, alle Geheimfächer und Verstecke durchsucht werden würden. Deshalb brachte er die Ringe an einen Ort, wo sie am allerleichtesten gesehen werden konnten, und wo es dennoch niemandem einfallen würde, sie zu suchen, wie es denn auch bis dahin wirklich nicht geschehen war.
Jetzt machte Herr Gryce eine Pause und warf mir einen Blick zu, der aber diesmal für mich allein bestimmt war.
Und nun, Miß Butterworth, sagte er, nachdem ich Ihnen alle Verdachtsmomente, die auf Franklin Van Burnam lasten, auseinandergesetzt habe, wollen Sie meinen guten Willen anerkennen und mich durch einen ebenso ausführlichen Bericht belohnen?
Ich sagte: Nein, noch bleibt Ihnen vieles aufzuklären. Sie haben mir scheinbar auch bewiesen, daß Franklin in der einen oder der anderen Weise mit dem Verbrechen in Zusammenhang gebracht werden kann. Aber Sie haben mir noch lange nicht alle Umstände zu erklären versucht, die den Mord begleiteten. Wie erklären Sie zum Beispiel die Laune der Frau Van Burnam, ihre Kleider und Wäsche wechseln zu wollen, wenn sie nicht mit ihrem Mann, sondern mit Franklin im Hotel D. war?
Ein Verbrechen, das aus solchen Motiven beabsichtigt und unter so schwierigen Umständen ausgeführt worden war, mußte natürlich in den Einzelheiten mehr oder weniger kompliziert sein und vorsichtig eingeleitet werden. Der Plan war von einem ungewöhnlich begabten und klugen Menschen ausgedacht und mit geradezu wunderbarer Geschicklichkeit und Vorsicht ausgeführt worden. Die Psychologie dieses Verbrechens kann nur von einem Menschen erfaßt werden, der eine lebhafte Phantasie besitzt. Ich kann mich einer solchen rühmen, aber ob auch Sie das können, Miß Butterworth, ist mir doch zweifelhaft.
Stellen Sie mich auf die Probe, warf ich ein.
Das will ich später tun. Also ich habe mich nicht nur auf Tatsachen gestützt, sondern eine gewisse Intuition, die ich mir in meiner langjährigen Praxis erworben habe, führte mich zu dem Schluß, daß Franklin Van Burnam von Haus aus nicht die Absicht hatte, seine Schwägerin zu ermorden.
Im Gegenteil; er hatte ein Hotelzimmer gewählt, weil er dort den Kampf mit der jungen Frau um den verhängnisvollen Brief ungestört durchzuführen hoffte. Um weder sich selbst noch die Frau bloßzustellen, hatte er ihr geraten, zu dem für den nächsten Tag angesetzten Rendezvous in einem langen Reisemantel zu erscheinen und ihr Gesicht dicht zu verschleiern. Wahrscheinlich hatte er ihr gesagt, daß ein solch einfaches Kostüm am geeignetsten war, um Herrn Silas Van Burnam entgegenzutreten. Er selbst hatte die Absicht, den in seinem Bureau lange unbenutzt hängenden Staubmantel anzuziehen.
Soweit ging alles gut. Da aber, als er sich gerade zum Rendezvous begeben wollte, kam sein Bruder und bat ihn ganz unvermittelt um den Schlüssel zu seines Vaters Haus. Ueber sein Erscheinen so zur Unzeit unangenehm überrascht, gab er ihm den Schlüssel, ohne ihn weiter zu fragen. Howard verabschiedete sich halb von ihm. Franklin folgte ihm auf dem Fuße; er hatte sich nur soviel Zeit genommen, seinen Schreibtisch zu verschließen und den Mantel anzuziehen. Die beiden Brüder wären nicht zusammengetroffen, wäre Howard nicht, wie erwähnt, auf ein Hindernis gestoßen und hätte er nicht einen Augenblick warten müssen, ehe er seinen Weg fortsetzen konnte. Franklin war also nahe genug an ihn herangetreten, um sehen zu können, wie er die Hand in die Tasche steckte und zugleich mit dem Taschentuch auch den Schlüssel herauszog, den er ihm kurz vorher übergeben hatte. Der Schlüssel fiel auf das Trottoir. Howard hörte nicht, daß er herabfiel, denn auf der Straße war ja ein großes Gerassel, da gerade der Kessel von dem Wagen in die Fabrik hineintransportiert wurde. Franklin aber hatte den Schlüssel zu Boden fallen sehen und hob ihn auf. In jenem Augenblick dachte er gar nicht daran, wozu er ihm dienen sollte.
Es fiel Franklin und Frau Van Burnam nicht schwer, einander in der großen Stadt unauffällig zu begegnen und dann zusammen in das Hotel D. zu gehen, ohne daß einer von ihnen erkannt wurde. Frau Van Burnam war nur von dem einen Gedanken beseelt, eine große Rolle in der New Yorker Welt zu spielen. Deshalb nahm sie ohne weitere Ueberlegung die Ausführung all der Einzelheiten auf sich, vor denen Franklin zurückschreckte; daher zögerte sie nicht, mit einem anderen Mann als ihrem Gatten in das Hotel D. zu gehen und dort ihre Verkleidung zu vollenden. Ja, sie konnte bei ihrer Veranlagung an dem ganzen Abenteuer sogar noch Vergnügen empfinden.
Sie hatten das Zimmer im Hotel nur gemietet, weil das Schiff noch nicht von Fire Island signalisiert worden war und sie zusammen die Ankunft des alten Herrn Van Burnam erwarten wollten. Das heißt, sie wollte die Ankunft abwarten, um dann zu ihm aufs Schiff zu eilen. Franklin aber dachte bei allem nur an seinen Brief. Aber Luise Van Burnam war nicht die Frau, ihn aus der Hand zu geben, ehe sie nicht den Kaufpreis erhalten hatte; dessen wurde Franklin bald gewahr. Mit Entsetzen fragte er sich schließlich, ob er nicht würde zu Gewaltmitteln greifen müssen, um ihn ihr zu entreißen.
Er sah nur noch einen einzigen Ausweg vor sich, um ihn gütlich von ihr zu bekommen: er mußte scheinbar auf alle ihre Pläne eingehen. Die Frau hatte ihm wahrscheinlich gesagt, daß es ihr klüger schien, Herrn Silas Van Burnam in seinem eigenen Hause entgegenzutreten und nicht auf dem Schiffe. Jetzt versprach er ihr, sie hinzuführen. Und er riet ihr jetzt auch, ihre Kleider und ihre Wäsche zu vertauschen, weil er hoffte, während sie sich umzog die Gelegenheit wahrnehmen zu können, ihr den Brief zu entreißen. Er glaubte nämlich annehmen zu können, daß die junge Frau den Brief bei sich trug.
Die Beschreibung von Luise Van Burnams Charakter haben wir ja von ihrem Mann erhalten. Sie war tatsächlich eine sehr exzentrische Natur: das Abenteuer gefiel ihr, sie lebte sich völlig in ihre Rolle hinein, so daß sie sogar den Auftrag an die Firma Altman und den Namen James Pope im Hotelbuch mit verstellter Handschrift schrieb. Aber sie war auch sehr schlau, und da sie den bewußten Brief in ihrem Schuh verborgen hatte –
Was? rief ich.
– in ihrem Schuh verborgen hatte, wiederholte Herr Gryce mit seinem schlauesten Lächeln, brauchte sie, um ihr Geheimnis zu bewahren, nur zu erklären, daß die von der Firma Altman gelieferten Schuhe ihr zu klein waren. Auf diese Weise erfuhr ihr Schwager nicht, wo eigentlich der Brief verborgen war. – Aber das scheint Sie ja sehr zu verwundern, Miß Butterworth. Habe ich einen Punkt aufgeklärt, über den Sie noch im Zweifel waren?
Fragen Sie mich nicht! Sehen Sie mich nicht an! rief ich. Ihr Scharfsinn ist wirklich zu groß! Aber ich will mich zu beherrschen versuchen, wenn ich Sie durch meine Aeußerungen störe.
Er lächelte. Auch der Inspektor lächelte. Mein Verhalten war beiden völlig unverständlich.
Schön! Ich will also fortfahren. Es war aber wirklich durchaus nötig, festzustellen, weshalb Frau Van Burnam die Schuhe nicht gewechselt hatte.
Sie haben ganz recht, und Sie wissen es jetzt mit Bestimmtheit!
Die List war also Franklin nicht gelungen. Nun beschloß er, den Plan auszuführen, der nach dem Aufheben des Schlüssels in seinem Gehirn langsam sich zu entwickeln begonnen hatte und jetzt reif geworden war. Die Frau seines Bruders mußte sterben, aber nicht in diesem Hotelzimmer, wohin er sie gebracht hatte, was doch leicht herauskommen konnte. Wenn er auch die Frau haßte, die ein solcher Störenfried des Familienglücks und dabei so unwürdig war, den Namen Van Burnam zu tragen, so wollte er doch nicht, daß nach ihrem Tode ein Makel an ihrem Rufe haften sollte. Ihr Tod mußte daher so geschickt herbeigeführt werden, daß man glauben konnte, sie wäre durch einen Unfall ums Leben gekommen. Er hatte gesehen, wie sie ihren Hut mit einer langen, sehr dünnen Nadel an ihrem Haar feststeckte, und ihm fiel ein, daß er gelesen hatte, ein kräftiger Stoß mit einem solchen Instrument in eine gewisse Stelle des Rückenmarks genügte, um einen Menschen sofort zu töten. Eine solche Wunde mußte sehr klein, beinahe unsichtbar sein. Freilich, Kaltblütigkeit und Geschicklichkeit waren dazu unerläßlich, und es konnte nicht leicht sein, die Frau in eine solche Lage zu bringen, daß er ihr mit Sicherheit die Nadel in den Nacken stoßen konnte. Aber er wußte, daß er kaltblütig und geschickt war, und so entschloß er sich, seine Schwägerin doch in das Haus seines Vaters zu führen, wohin sie ja von allem Anfang an zu gehen die Absicht hatte. Er konnte jetzt nicht mehr anders handeln. Es ging um seinen Ruf, um den Frieden der ganzen Familie!
Das Verhalten der beiden zeigt übrigens ganz genau, daß nicht sie so besorgt war, unerkannt zu bleiben, sondern daß nur ihm hauptsächlich daran gelegen war. Er hatte sie zu allen Handlungen vorgeschoben, bis zu allerletzt, wo sie den Kutscher bezahlen mußte.
Zu welchen Mitteln er griff, damit die Frau ihm die Hutnadel überließ, welche Leidenschaft er ihr vielleicht zeigte, um sich ihr in einer Stellung nähern zu können, in der er ihr leicht und sicher den Todesstoß versetzen konnte, das auszumalen will ich nun ganz Ihrer Phantasie überlassen, Miß Butterworth. Sicher ist, daß die Ausführung seines Planes ihm in allen Einzelheiten gelang, und daß er sie ermordet hat, um in den Besitz des Briefes zu gelangen. Hierauf –
Nun, was geschah hierauf?
Die Tat, die er so wohl überlegt hatte und die ihm so leicht schien, zeigte sich ihm jetzt nach der Ausführung in einem andern Licht. Die Hutnadel war abgebrochen und in der Wunde stecken geblieben. Er wußte, daß die Leiche auf jeden Fall genau untersucht werden würde, und er mußte damit rechnen, daß bei der Untersuchung die Nadel gefunden würde. Damit aber würde man auch erkennen, daß die Frau ermordet worden war!
Das alles überlegte er jedoch erst später, nachdem er das Haus schon verlassen hatte. Und jetzt tauchte der Gedanke in ihm auf, noch etwas zu versuchen, um den Mord als Unfall erscheinen zu lassen. Er kehrte an den Tatort zurück und stürzte den Kasten auf die Tote herab. Wäre ihm dieser Einfall gleich gekommen, so hätte niemand den Beweis erbringen können, daß die Frau ermordet worden war. Aber er hatte gezögert, und in der Zwischenzeit hatten die Blutgefäße schon ihre Elastizität verloren, und das Umstürzen des Kastens hatte nicht die Wunden hervorgerufen, wie sie bei solchen Verletzungen gewöhnlich sind, das heißt der Blutverlust war ein ganz geringer. Das brachte die Gerichtsärzte auf den Gedanken, daß die Frau schon vorher tot war, ehe der Kasten umfiel.
Das alles ist sehr schön, Herr Gryce, aber noch sehe ich nicht, wie Sie mir erklären können, daß die Uhr ging und gerade um fünf Uhr stehen blieb.
Ja, sehen Sie das nicht ein? Aber nichts ist einfacher! Ein Mann, der eines solchen Verbrechens fähig war, konnte doch nicht vergessen, sich ein Alibi zu verschaffen. Um fünf Uhr konnte er, wie er sich überlegte, schon zu Hause sein. Deshalb zog er die Uhr auf, ehe er den Kasten umwarf, und stellte sie auf eine Stunde, zu der er, wie er beweisen konnte, fern vom Tatort war. Sie werden zugeben, daß meine ganze Theorie durchaus mit der Gewandtheit rechnet und übereinstimmt, die der Mörder bei der Inszenierung seines Verbrechens an den Tag gelegt hat.
Ich war ganz starr über all die plausiblen Erklärungen, die der Detektiv, von einer falschen Theorie ausgehend, für jede Einzelheit zu geben wußte. Das heißt, einer falschen Theorie, wenn die von mir gemachten Entdeckungen mit der Wirklichkeit übereinstimmten. In diesem Augenblick war ich so von seinem Enthusiasmus und seiner Beredsamkeit befangen, daß ich wirklich nicht wußte, was ich von meinen eigenen Entdeckungen glauben sollte. Um wieder Zutrauen zu mir selbst und meinem Scharfsinn zu gewinnen, bat ich den Detektiv noch, mir zu erklären, weshalb Howard behauptet hatte, mit seiner Frau im Hotel gewesen zu sein, sie in das Haus geführt zu haben, ja weshalb er überhaupt sich in ein solches Lügengewebe verstrickt hatte, wenn nicht er, sondern Franklin der Schuldige war.
Glauben Sie, fügte ich zum Schluß hinzu, daß Howard etwa weiß, welche Rolle sein Bruder bei dem Verbrechen gespielt hat, und daß er aus Mitleid mit ihm versuchte, die Verantwortung für das Verbrechen auf sich zu nehmen?
Nein, das glaube ich nicht. Soweit geht doch die Selbstverleugnung der wenigsten Menschen. Er wußte nicht, daß sein Bruder in irgend einer Beziehung zu dem Mord stand; es war ihm auch niemals der Gedanke daran gekommen. Wie könnte man auch sonst erklären, daß er zugab, den Schlüssel verloren zu haben, mit dem allein man in das Haus gelangen konnte?
Selbst wenn ich das zugebe, so erklärt mir das noch nicht Howards Verhalten. Ihr Schluß steht mit seiner Handlungsweise in keinem Zusammenhang.
Jemand, der seinen Charakter kennt, wird die Erklärung leicht finden. Howard stellt seinen Ruf und seine Ehre höher als alles andere. Und diese Ehre war gefährdet, wenn es herauskam, daß seine Frau mit einem andern Mann als mit ihm um Mitternacht in ein fremdes Haus gegangen war. Um diese Schande nicht auf sich zu laden, war er bereit, nicht nur sich selbst Lügen zu strafen, sondern auch alle Folgen, die daraus entstehen konnten, auf sich zu nehmen. Ein allzu ritterlicher Gedanke, das muß ich schon zugeben! Aber solche Männer gibt es; und Howard, dessen vortreffliche Eigenschaften ich anerkenne, ist dabei noch von einem Eigensinn, wie er selten vorkommt. Daß ihm bei seinen Aussagen überall Widersprüche nachgewiesen werden konnten, hielt ihn nicht von der Ausführung seines Gedankens ab. Ihm lag vor allem daran, daß niemand sagen könnte, seine Frau habe ihn betrogen. Um dem vorzubeugen, war er zu allem bereit. Eine solche Natur zu verstehen ist gewiß nicht leicht. Aber lesen Sie seine Aussagen noch einmal durch, und Sie werden sehen, daß diese Erklärung seines Verhaltens richtig sein muß.
Unter allen anderen Umständen mag Herr Gryce ein sehr ungeduldiger Mensch sein, aber heute und zu mir war er die verkörperte Geduld.
Gerade, weil er nichts, gar nichts von dem Mord wußte, Miß Butterworth, gab er so widersprechende Erklärungen ab. Er wußte zwar, daß seine Frau nach New York gekommen war, um seinen Vater umzustimmen, und er hatte geglaubt, daß sie seinem Vater entweder noch an Bord des Schiffes oder aber in seinem eigenen Hause entgegentreten wollte. Um sie an dieser zweiten Tollheit zu verhindern, hatte er seinen Bruder um den Hausschlüssel gebeten. Er dachte, ihn in seiner Tasche zu haben und kehrte in seine New Yorker Wohnung zurück, – er ging nicht nach Coney Island, wie er sagte, – um dort seine Koffer zu packen. Denn er hatte die Absicht, New York zu verlassen, falls der Plan seiner Frau mißlingen und ihm den Zorn seines Vaters zuziehen sollte. Er wollte mit allem hier ein Ende machen, er hatte genug von den Launen seiner Frau, dieses Leben konnte er nicht länger ertragen. Wie aber die Nacht anbrach, lenkte ihn der Gedanke an seine Frau doch von seiner Beschäftigung ab. Er fragte sich wo sie jetzt sein und was sie wohl tun mochte. Er verließ seine Wohnung und streifte den größten Teil der Nacht um Grammercy Park herum. Bei Tagesanbruch fühlte er sich plötzlich sehr müde; er wollte nach dem Hause seines Vaters gehen und sich dort etwas ausruhen. Er stieg die Freitreppe des Hauses hinauf; wie er aber dort den Schlüssel zur Haustür suchte, fand er ihn nicht. Da ging er wieder fort; aber schon hatte ihn unglücklicherweise Herr Stone gesehen.
Am nächsten Tage hörte er von dem Unglück, das in dem Hause seines Vaters geschehen war. Im ersten Augenblick fürchtete er, daß die Verunglückte seine Frau sein könnte. Aber ein Blick auf ihre Kleidung genügte, um ihn zu überzeugen, daß sie es nicht war, – er wußte eben nichts von ihrem Besuch des Hotels D. und von der Umwechslung der Kleider. Die Befürchtungen seines Vaters, die Hartnäckigkeit der Polizei hatten nichts weiter erreicht, als ihn zu reizen. Erst als man ihm den Hut der Frau zeigte, der am Tatort gefunden worden war, erst da ließ er sich herbei, die Hinweise auf ihre Identität wirklich genau zu prüfen, erst jetzt erkannte er sie. Und er war ehrlich betrübt darüber, daß er sie hatte ins Schauhaus bringen lassen, daß er anscheinend so lieblos mit ihr verfahren war.
Die Schande aber, daß sein Weib ihn verraten hatte, wollte er nicht auf sich nehmen. Als er zum zweitenmal verhört wurde, erklärte er, ohne weiter über die Folgen, die seine Aussagen haben konnten, nachzudenken, er wäre der Mann, der seine Frau um Mitternacht in das Haus begleitet hätte. Aber wenn es ihm auch gelang, den Coroner und die Geschworenen zu täuschen, mir konnte er nichts vormachen, und Ihnen auch nicht, Miß Butterworth. – Und nun erlauben Sie mir die Frage, ob es Ihnen jetzt an der Zeit scheint, unsern Beweisen von Franklins Schuld die Beweise hinzuzufügen, die Sie gefunden haben?
Trotz dieser Augenscheinlichkeit versteifte ich mich darauf, zu wiederholen: Ich verstehe es nicht!
Ja, jetzt war es an der Zeit, zu sprechen. Ich neigte zustimmend den Kopf, und nach einer kleinen Pause, die die Wichtigkeit der folgenden Worte unterstreichen sollte, sagte ich:
Was konnte Ihnen nur Ihre Vermutung bestätigen, daß ich von Franklin Van Burnams Schuld überzeugt war und Beweise dafür suchte?
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