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Ich stieß einen lauten Ruf der Ueberraschung aus und lief eiligst die Treppe hinunter.
Fahren Sie nicht fort! rief ich dem Kutscher zu. Ich brauche Sie in zehn Minuten wieder. Ich lief die Treppe wieder hinauf, in einem Geisteszustand, auf den ich wirklich nicht stolz sein konnte. Welch ein Glück, daß Herr Gryce mich nicht sah.
Sie ist fort? Fräulein Oliver ist fort? rief ich dem Stubenmädchen zu, das sich zitternd in einem Winkel der Halle vor mir zu verbergen suchte.
Ja, – und es ist meine Schuld. Sie lag so ruhig im Bett, ich dachte, ich könnte mich eine Minute entfernen. Aber als ich zurückkam, fehlten ihre Kleider. Sie muß durch die Haupttür geschlüpft sein, als der Diener das andere Ende des Ganges fegte. Ich verstehe gar nicht, wie sie die Kräfte hatte, fortzulaufen.
Auch ich verstand das nicht. Aber ich hielt mich nicht weiter dabei auf, sondern ging rasch weiter und trat in das Zimmer, das ich einige Stunden früher voll froher Hoffnung verlassen hatte. Ich verlor nicht einen Augenblick mit untätigen Betrachtungen, sondern öffnete die Schubladen und die Schranktüren und durchsuchte alles. Mantel und Hut waren nicht mehr da, aber der braune Unterrock hing noch im Schrank; die Geldbörse stak nicht mehr in der Tasche.
Ist die Handtasche noch hier? fragte ich.
Ja, die stand auf derselben Stelle, unter dem Tisch. Und auf dem Waschtisch lagen noch alle Toilettenartikel, die Ruth Oliver hergebracht hatte. In welcher Hast mußte sie geflohen sein, um alles Notwendige zurückzulassen!
Aber was mich wirklich erschreckte, war der Anblick des Strickzeuges, das ich am letzten Abend auf Wunsch der Kranken weggelegt hatte. Das Garn lag wirr und halb zerrissen auf dem Tisch, als ob die Kranke in einem Wutanfall es vernichten wollte. Sie war also gewiß noch nicht fieberfrei. Aus dieser Mutmaßung schöpfte ich neuen Mut, denn ich sagte mir, daß eine Frau in solchem Zustand nicht lange durch die Straßen irren könnte; sie würde sehr bald zusammenbrechen und in ein Spital geführt werden.
Fräulein Spicer gestattete mir, an das Polizeipräsidium zu telephonieren und die Beschreibung des jungen Mädchens zu geben, mit dem Ersuchen um sofortige Verständigung, falls eine Person, auf die die Beschreibung zutraf, auf der Straße, auf einer Bank oder einer Rettungsstation ohnmächtig aufgefunden würde.
Ich habe nicht die Absicht, sie zu Ihnen zurückzubringen, sagte ich zu Fräulein Spicer, als ich mich von ihr verabschiedete. Ich möchte nicht, daß diese Person ein zweites Mal Ihre Schwelle überschreitet. Lassen Sie mich nur sofort wissen, wenn man sie gefunden hat, und ich will Ihnen jede weitere Verantwortung abnehmen.
Dann lief ich hinunter und begann meine Fahrt durch die Stadt auf der Suche nach der Flüchtigen. Der Abend brach an, und noch immer irrte ich von Straße zu Straße, ohne auch nur einen Hinweis erlangt zu haben, nach welcher Richtung sich Fräulein Oliver begeben hatte und was mit ihr geschehen war. Was sollte ich tun? Sollte ich jetzt doch Herrn Gryce ins Vertrauen ziehen? Das würde ein harter Schlag für meinen Stolz sein. Und doch sah ich keinen andern Ausweg.
Plötzlich erinnerte ich mich an die Wäscherei des Chinesen und wollte wenigstens erfahren, ob in der Zwischenzeit jemand dagewesen war, um die Wäsche abzuholen.
In Lenas Begleitung eilte ich zur 3. Avenue. Als wir uns der Wäscherei näherten, wurde ich immer erregter. Und als wir nur mehr wenige Schritte von dem Laden entfernt waren, begriff ich, daß mein Instinkt mich richtig geleitet hatte. Vor dem Laden stand Fräulein Oliver und starrte unausgesetzt durch die Fenster in den erleuchteten Raum, in dem man den Chinesen bei der Arbeit sah. Sie mußte schon geraume Zeit dort stehen, denn sie war von einer Menge Straßenjungen umringt, die sie neugierig anstarrten und sie augenscheinlich verhöhnten. Ihre Hände, an denen sie keine Handschuhe hatte, stützten sich auf die Fensterbrüstung. Ihre ganze Haltung drückte eine große Erschöpfung aus. Sie wäre sicher zusammengebrochen, hätte nicht ein übermächtiger Wille sie noch aufrecht gehalten.
Ich schickte Lena nach einem Wagen und näherte mich dem armen Wesen. Leise berührte ich das Mädchen an der Schulter, und sie wandte sich müde um und mir zu.
Wünschen Sie etwas hier im Laden? fragte ich sie. Wenn Sie wollen, werde ich mit Ihnen hineingehen.
Ganz apathisch blickte sie mich an, aber wie es schien, auch mit einer gewissen Erleichterung. Denn sie schüttelte leise den Kopf.
Ich weiß nicht recht, was ich eigentlich hier will. Mir schwindelt, mein Kopf ist wirr, und doch glaube ich mich zu erinnern, daß ich mit einer festen Absicht hierher kam.
Kommen Sie nur herein, bat ich. Ruhen Sie sich ein Weilchen drinnen aus. Ich trug sie fast die Stufen hinauf, und es gelang mir, sie über die Schwelle in den Laden zu führen.
Draußen an den Fensterscheiben lehnte schon ein halbes Dutzend neugieriger Gesichter.
Der Chinese wandte langsam den Kopf, als er die Klingel gehen hörte, die ihm einen Kunden ankündigte.
Ist das die Dame, die vor einigen Tagen ihre Wäsche bei Ihnen abgab? fragte ich.
Wortlos schaute mich der Chinese an. Er erinnerte sich meiner nach einigem Nachdenken und gleichzeitig auch des Gespräches, das wir an jenem Abend gehabt hatten. Endlich sprach er langsam:
Damals sagten Sie mir, die Dame sei gestorben. Wie kann das also die Dame sein, wenn sie doch tot ist?
Die Dame ist nicht gestorben, ich hatte mich geirrt. Ist es also dieselbe Dame wie in jener Nacht?
Ich habe ihr Gesicht nicht gesehen, nur ihre Stimme gehört. Wenn die Dame etwas spricht, werde ich sie erkennen.
Haben Sie diesen Mann schon früher einmal gesehen? fragte ich das junge Mädchen.
Ich glaube ja. Es ist mir wie in einem Traum, sprach sie leise. Vergeblich versuchte sie, ihren Geist zu den Dingen zurückzubringen, die sie hier umgaben.
Das ist die Dame! rief der Chinese sehr erfreut, weil er hoffte, das Geld für die Wäsche nun zu bekommen. Ich erkenne ihre hübsche Stimme. Sie ist gekommen, ihre Wäsche zu holen?
Nein, heute will sie sie noch nicht holen. Sie ist sehr krank, sie kann kaum aufrecht stehen.
In meiner Freude, die Flüchtige endlich gefunden zu haben und alle meine Vermutungen bestätigt zu sehen, gab ich dem Chinesen ein blankes Geldstück und führte Ruth Oliver sorgsam zum Wagen, der schon vor der Tür wartete.
Als Lena vortrat, um mir zu helfen, schien sie sehr neugierig zu sein, und ihre Augen fragten mich, wer denn das junge Mädchen sei und was ich von ihm wolle. Ich beantwortete diesen Blick mit einer kurzen, ihr ganz unverständlichen Bemerkung.
Das ist Ihre Cousine, die vor einigen Tagen weggelaufen ist. Erkennen Sie sie nicht wieder?
Lena gab es auf, meine Handlungsweise verstehen zu wollen. Aber sie nahm meine Erklärung gutwillig an und sagte sogar eine Lüge, um mich nicht in Verlegenheit zu bringen.
Ja, das ist sie, und ich bin sehr froh, sie wiederzusehen!
Nach diesen Worten half sie der Kranken in den Wagen. Ich setzte mich neben sie und sagte Lena, sie solle dem Kutscher befehlen, uns nach meinem Hause zu fahren.
Während der halben Fahrt ruhte der Kopf der Kranken auf meiner Schulter; sie rührte sich nicht, das Fieber schien noch gestiegen zu sein. Als wir uns aber Grammercy Park näherten, begann sie unruhig zu werden, und es gelang mir und Lena nur mit großer Mühe, sie davon abzuhalten, aus dem Wagen heraus auf die Straße zu springen.
Als der Wagen hielt, war ihre Erregung noch heftiger geworden. Jetzt wollte sie um keinen Preis aussteigen; wir hatten einen schweren Kampf mit ihr zu bestehen. Stöhnend warf sie sich in die Kissen zurück und machte sich ganz steif. Die Augen hielt sie auf die Freitreppe vor meinem Hause geheftet, die der Freitreppe vor dem Hause der Van Burnams sehr ähnlich ist; jetzt verstand ich, weshalb sie so entsetzt war. Der Gedanke, das Haus wieder zu betreten, in dem sie so Entsetzliches erlebt hatte, war zu fürchterlich für sie, als daß sie noch die geringste Selbstbeherrschung bewahren konnte. Ich sah ein, daß unsere Bemühungen, sie aus dem Wagen herauszubringen, fruchtlos sein würden, und deshalb gab ich dem Kutscher seufzend die Adresse von Fräulein Spicer an, worauf dieser den Wagen wandte und uns zu ihrem Hause fuhr.
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