Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Nach diesen einleitenden Worten begann Herr Gryce zu erzählen:

Als Sie in Howard Van Burnam nicht den Mann wiedererkannten, der in der Mordnacht in Ihr Nachbarhaus eingetreten war, sah ich ein, daß der Mörder der Frau Luise Van Burnam ein anderer sein mußte. Sie sehen, daß ich mich auf Ihr gutes Gedächtnis mehr verließ, als Sie selbst; ja, ich verließ mich darauf so sehr, daß ich Ihnen mehr als einmal die Gelegenheit gab, Ihr Gedächtnis auf die Probe zu stellen. Zu diesem Zweck hatte ich es durch verschiedene kleine Mittelchen so eingerichtet, daß Howard Van Burnam jedesmal in einer anderen Gemütsverfassung in das Haus seines Vaters kam. Es mußte Ihnen, da seine Haltung jedesmal eine andere war, nicht schwer fallen, in ihm jenen Mann wiederzuerkennen, wenn er überhaupt derselbe Mann war.

Das war also Howard, den Sie während mehrerer Nächte in das Haus kommen ließen?

Ja, es war Howard Van Burnam. Der Herr Kriminalinspektor und einige andere Herren, deren Namen ich hier nicht nennen will, waren der vorgefaßten Meinung, daß Howard der Mörder sein müsse. Deshalb mußte auch ich auf eigene Faust arbeiten. Ihre Zweifel, Miß Butterworth, bestärkten mich nur in meiner Meinung. Und als Sie mir ankündigten, daß Sie am Abend des Begräbnisses einen Mann in das Haus treten sahen, der dem Mörder überaus ähnlich war, forschte ich nach, wer der Mann sein konnte, der nach Ihrer Angabe allein in einem Wagen, knapp hinter einem andern Wagen, in dem vier Personen saßen, angekommen war. Und es stellte sich heraus, daß dieser Mann Franklin Van Burnam war. Dieses Indizium war mir sehr wichtig, und deshalb sagte ich, daß Sie mich auf Franklin Van Burnams Spur gebracht haben.

Hm! dachte ich, denn ich hatte mich jetzt plötzlich erinnert, daß die Kranke in ihren Fieberphantasien den Namen Franklin genannt hatte.

Schon früher schien mir dieser Herr verdächtig. Es braucht Sie das nicht zu wundern, denn in unserm Beruf hat man in so schwierigen Fällen alle Welt in Verdacht, und das ist das beste Mittel, schließlich doch den Schuldigen herauszufinden. Aber erst durch Ihre Worte und die darauf angestellten Untersuchungen gewann mein Verdacht eine feste Grundlage. Ich dachte mir, daß Sie sich wahrscheinlich eine ähnliche Theorie wie ich gebildet hatten, und hier nun setzte der Kampf zwischen uns beiden ein.

So war also die Mißachtung, die Sie für meine Bemühungen an den Tag legten, bloß geheuchelt, sagte ich mit schlecht verhehltem Triumph. Von jetzt an werde ich wissen, was ich von Ihren Worten zu halten habe!

Bitte, unterbrechen Sie mich nicht, wenn Sie wollen, daß ich Ihnen alles sage. – Meine erste Pflicht war also, Sie beobachten zu lassen. Denn Sie hatten Ihre eigenen Gründe, weshalb Ihnen der Mann verdächtig war, und ich hoffte, diese zu erfahren, wenn ich Sie beobachten ließ.

Vortrefflich! rief ich, denn ich mußte mein Erstaunen und meine Freude darüber, daß er sich über meine Motive völlig irrte, irgendwie äußern.

Aber wie haben Sie uns herumgejagt, Miß Butterworth! Und geschickt haben Sie die Sache angestellt! Denn der Mann, den ich beauftragt hatte, das Haus der Frau Boppert zu überwachen – da ich wußte, Sie würden nicht zögern, sich zu ihr zu begeben – ist auf Ihre List hereingefallen. Wir hatten schon selbst Frau Boppert ausgefragt, aber sie schien nichts von Bedeutung zu wissen. Und wenn es Ihnen gelungen sein sollte, von ihr etwas zu erfahren, so sind Sie noch geschickter, als ich jemals von Ihnen erwartet hätte.

Wirklich? antwortete ich; und dabei lachte ich über den Inspektor, der sich über uns beide lustig machte, und freute mich auf die Ueberraschung, die ihm und Herrn Gryce bevorstand.

Dagegen erfuhren wir, wie sehr Sie um die Uhr besorgt waren, und da wir wußten, daß sie im Augenblick des Herabfallens ging, zogen wir daraus wichtige Schlüsse, die uns später sehr gute Dienste leisten sollten.

Die Mädchen haben also doch nicht den Schnabel halten können, murmelte ich ärgerlich vor mich hin. Und ich wartete ängstlich, ob er nicht auch von dem Nadelkissen sprechen würde. Aber zu meiner großen Erleichterung schwieg er davon.

Schelten Sie die jungen Mädchen nicht! sagte Herr Gryce lebhaft. Franklin sprach zu mir von der Uhr, und da dachte ich, er wolle mir nur Sand in die Augen streuen. Ich suchte daher die jungen Mädchen auf, und ich muß gestehen, es wurde mir nicht leicht, aus ihnen herauszuziehen, was sie über die Uhr wußten. – Die Uhr ging also im Augenblick des Herabfallens, und nun wußten wir auch, daß Franklin als der erste dies bemerkt hatte. Und diese Tatsache, die dem Laien auf den ersten Augenblick als günstig für ihn erscheint, mußte jeden, der in der Kriminalistik etwas bewandert ist, zu andern Schlüssen führen. Außerdem ließ sich das noch sehr gut mit der Sorgfalt in Uebereinstimmung bringen, mit der der Mörder das Verbrechen in allen Einzelheiten vorbereitet hat. Doch davon später.

Ich ließ mich durch meinen bisherigen Mißerfolg nicht entmutigen, spielte ruhig die Rolle weiter, die mir meine von Howards Schuld überzeugten Vorgesetzten auferlegt hatten, und bemühte mich insgeheim, herauszubringen, in welcher Beziehung Franklin zu dem Morde stand. Es handelte sich zuerst darum, festzustellen, ob eine der Personen, die Herrn James Pope im Hotel D. oder nach Verlassen des Hotels gesehen hatten, ihn nicht in der Person Franklins wiedererkennen könnten.

Beim Verhör hatte keiner der Zeugen gewagt, in den eleganten und hochmütigen jungen Leuten einen so gemeinen Verbrecher erkennen zu wollen. Es war daher völlig zwecklos, zu versuchen, Franklin diesen Zeugen ohne weiteres noch einmal gegenüberzustellen und zu warten, ob sie ihn doch noch erkennen würden. So versuchte ich es mit List. Ich nahm mit Recht an, daß die Identität der betreffenden Person am leichtesten festgestellt werden konnte, wenn sie den Leuten unter denselben Umständen gezeigt würde. Ich bat daher Franklin unter dem Vorwand, er würde dadurch seinem Bruder einen großen Dienst erweisen, mich nach dem Hotel D. zu begleiten.

Er war über meine wirklichen Absichten wohl keinen Augenblick im Zweifel. Aber er dachte, es wäre am besten, sich nichts merken zu lassen, und so ging er auf meinen Wunsch mit der größten Bereitwilligkeit ein. Vielleicht auch glaubte er, er hätte so gute Vorsichtsmaßregeln getroffen, daß niemand ihn erkennen würde. Ich gab ihm aber den Rat, seine eleganten Kleider mit einfacheren zu vertauschen, oder, was noch besser wäre, einen langen Mantel darüber anzuziehen. Er war so herausfordernd, daß er sich nicht scheute, meinem Rat zu folgen und wirklich einen langen Mantel anzuziehen, obwohl er genau wußte, wie verändert er darin aussah.

Mein Versuch gelang. Als wir in das Hotel eintraten, sah ich, wie ein Kutscher, der vor dem Hotel stand, zusammenfuhr und mit seinen Blicken Franklin förmlich verschlang. Es war der Kutscher, der Herrn und Frau James Pope zum Madison Square gefahren hatte. Und als wir an dem Portier vorbeigingen, blinzelte er mir zu, was heißen sollte: Ja, er sieht ihm sehr ähnlich!

Aber den wirklichen Beweis seiner Identität erlangte ich erst durch den Kassierer. Ich war in das Bureau eingetreten und hatte Franklin gebeten, vor der Tür zu warten. Er stand genau an der Stelle, wo Herr James Pope auf seine Frau gewartet hatte, als diese die Rechnung bezahlte. Unauffällig machte ich den Kassierer auf die an der Tür lehnende Gestalt aufmerksam. Der Mann sprang vom Sessel auf: »Das ist ja Herr Pope!« rief er, zum Glück leise genug, daß Franklin ihn nicht verstehen konnte. »Ja, der hat dieselbe unruhige Haltung, denselben Schnurrbart – nur der Mantel ist ein anderer.« Was fällt Ihnen ein, sagte ich, das ist ja Herr Franklin Van Burnam. Sie träumen. »Aber ich erkenne ihn doch wieder,« war die verlegene Antwort. »Beim Verhör habe ich zwar beide Brüder genau gesehen, aber keine Aehnlichkeit mit unserem geheimnisvollen Gast gefunden. Wie er aber jetzt so dasteht, muß ich Ihnen doch sagen, daß er dem Herrn James Pope viel ähnlicher sieht als sein Bruder.«

Ich zuckte die Achseln und sagte, das alles wäre Unsinn, und er solle sein Geschwätz nur ja für sich behalten. Wir verließen gleich darauf das Hotel, wobei ich mich bemühte, sehr unzufrieden zu erscheinen. Innerlich aber war ich entzückt, wie leicht mir die Identifizierung des Schuldigen gelungen war. Ich war fest entschlossen, jetzt noch energischere Schritte zu tun, um mir völlige Gewißheit zu verschaffen, wer die junge Frau Van Burnam ermordet hatte.

Ich mußte jetzt noch feststellen, ob Franklin irgendwelche Motive haben konnte, um den Tod der Frau Van Burnam zu wünschen. Beim Verhör hatte er durchaus keinen Haß gegen seine Schwägerin gezeigt. Ich sage, dem Anschein nach war kein Grund vorhanden, weshalb er die arme Frau hätte tödlich hassen sollen; aber wir Detektivs lassen uns durch einen solchen Anschein nicht abschrecken. Es stand bei mir fest, daß Franklin Van Burnam und Herr James Pope ein und dieselbe Person waren, und wenn ich in New York nichts weiter entdecken konnte, so mußte ich außerhalb der Stadt suchen. So schwer es mir fiel, New York zu verlassen – besonders weil es mir leid tat, Sie ein wenig aus den Augen zu verlieren, Miß Butterworth – so fuhr ich doch nach Four-Corners, dem Ort, wo Howard vor ungefähr drei Jahren seine Frau kennengelernt hatte. Vor meiner Abreise beauftragte ich einen jungen Mann mit den laufenden Angelegenheiten in der Stadt und insbesondere mit Ihrer Ueberwachung, Miß Butterworth. Aber der verstand Ihre Ausdauer nicht zu würdigen. Alles, was er mir berichtete, war, daß Sie wiederholt Fräulein Spicer besuchten, und das brauchte er mir wirklich nicht zu sagen.

Soll ich Ihnen jetzt noch erzählen, was ich in Four-Corners erfahren habe? Ich glaube, Sie wissen das alles selbst ebenso genau.

Das schadet ja nichts, antwortete ich mit wirklich erstaunlicher Sicherheit. Ich wußte zwar nicht im geringsten, was er mir zu erzählen hatte, aber ich nahm an, daß es zu meinem Wissen in keiner Beziehung stehen konnte. Es ist für mich nur von Vorteil, wenn Sie alle Einzelheiten wiederholen. Ersparen Sie mir auch nicht das Geringste; ich hin gern bereit, alles, was ich schon weiß, noch einmal aus Ihrem Munde bestätigt zu hören.

Nun, vielleicht werde ich Ihnen auch etwas Neues sagen, Miß Butterworth. Denn ich sah weder Sie noch Ihr Stubenmädchen während meiner Anwesenheit in Four-Corners, und ich vermute daher, daß Sie sich darauf beschränkten, Ihre Erfahrungen in der Stadt und bei Ihren Bekannten zu sammeln, die Sie so oft mit Ihren Besuchen beehrten.

Four-Corners ist eine reizende Stadt in Süd-Vermont. Hier traf vor drei Jahren Howard Van Burnam zum ersten Male Fräulein Stapelton. Zu dieser Zeit lebte Luise Stapelton in der Familie des Herrn Harrison als Gesellschafterin seiner kranken Tochter.

Nun verstand ich, in welchen Zusammenhang der alte Detektiv meine Besuche bei Fräulein Spicer mit seinen eigenen Entdeckungen brachte, denn Fräulein Spicer war ja eine intime Freundin der Familie Harrison. Und ich freute mich immer mehr auf die bevorstehende Ueberraschung der überschlauen Männer.

Die Stellung sagte ihr gar nicht zu, denn sie liebte nur, in Gesellschaft junger Männer ihre Gaben als glänzende Gesellschafterin zu entfalten, und dazu bot sich ihr wenig Gelegenheit. Immerhin hatte der Arzt dem kranken Fräulein Harrison Zerstreuung empfohlen, und hin und wieder kamen Freunde aus der Stadt auf Besuch. Bei einer solchen Gelegenheit nun lernte Fräulein Stapelton Howard Van Burnam kennen.

Ich erfuhr noch eine Reihe anderer Einzelheiten, die hier wohl niemand bekannt sein dürften. Vor allem: das junge Mädchen war lange nicht so in Howard verliebt, als er in sie. Sie hatte dem jungen Mann auf den ersten Blick ganz außerordentlich gefallen; zwei Wochen, nachdem er sie zum ersten Male gesehen hatte, machte er ihr bereits einen Heiratsantrag. Sie nahm seinen Antrag an, aber in dem ganzen Städtchen glaubte niemand so recht, daß sie den jungen Mann wirklich liebte, – bis plötzlich Franklin Van Burnam auf der Bildfläche erschien. Von diesem Augenblick an änderte sie ihr ganzes Betragen, ja sie schien auch noch schöner und reizvoller zu werden. Howards Liebe erreichte ihren Höhepunkt. Und es kann nun nicht geleugnet werden, daß auch Franklin für die Reize des jungen Mädchens empfänglich war, obwohl er wußte, daß sie die Braut seines Bruders war und die Ehre ihm gebot, sich zurückzuziehen. Man kann sogar sagen, daß er einen Augenblick lang völlig den Kopf verlor. Vielleicht war er von dem jungen Mädchen zu falschen Hoffnungen ermutigt worden, denn nach der einstimmigen Ansicht des ganzen Städtchens nahm Fräulein Stapelton es mit solchen Sachen nicht sehr genau. Gewiß ist, daß Franklin von seiner Leidenschaft überwältigt ihr einen Brief schrieb, in dem er ihr seine Liebe in glühenden Worten offenbarte. Ich hatte viel von diesem Briefe gehört, ehe es mir gelang, ihn in die Hand zu bekommen. Nun, es schien, daß das junge Mädchen gewillt war, mit Howard zu brechen und Franklin zu heiraten, wenn nur dieser es gewagt hätte, seinem Bruder alles zu gestehen. Aber dieser Mut fehlte ihm. Der Brief selbst, obwohl er in sehr leidenschaftlichem Ton gehalten war, ließ dem jungen Mädchen keine Hoffnung, daß Franklin die Absicht hatte, sie durch engere Bande an sich zu ketten, als durch die der Verschwägerung. Indem er ihr von seiner Liebe schrieb, teilte er ihr auch mit, daß er aus Rücksicht auf seinen Bruder verzichten müßte. Noch wäre alles gut abgelaufen, denn Franklin verließ bald darauf Four-Corners, um nur ein einziges Mal wieder dahin zurückzukehren, und zwar am Hochzeitstage seines Bruders. Aber das junge Mädchen war nicht so vernünftig wie Franklin.

Sie konnte Franklin nicht verzeihen, daß er nicht seiner Liebe gefolgt war, und ein tödlicher Haß gegen ihn keimte in ihr auf. Sie wollte schließlich auch Howard gern heiraten, denn sie erhoffte sich immerhin materielle und gesellschaftliche Vorteile von dieser Verbindung. Solche Gedanken vertraute sie aber nur einem jungen, ihr ganz ergebenen Mädchen an, das ihre geheimsten Wünsche und Pläne kannte.

Es fiel mir nicht schwer, diese junge Person, deren Name Jeane Pigot ist, aufzufinden, und es fiel mir noch leichter, alles aus ihr herauszubekommen, was sie mir über Frau Van Burnam sagen konnte. Sie hatte längere Zeit bei Herrn Harrison als Stubenmädchen gedient und es nicht verschmäht, gegen Entgelt dem jungen Fräulein Stapelton einige nicht ganz einwandfreie Dienste zu leisten. So konnte sie mir über alle Einzelheiten einer Unterredung berichten, die Fräulein Stapelton am Tage ihrer Hochzeit mit Franklin Van Burnam gehabt hatte. Die Zusammenkunft fand in Herrn Harrisons Garten statt, und es sollten keine Zeugen zugegen sein. Aber das Mädchen, das die Zusammenkunft bewerkstelligt hatte, war nicht gewillt, ihr fernzubleiben; so konnte ich jetzt ziemlich genau erfahren, was damals zwischen Franklin Van Burnam und Fräulein Stapelton gesprochen wurde.

Herr Van Burnam war gekommen, sie zu bitten, ihm den einzigen Brief, den er ihr geschrieben hatte, zurückzugeben. Fräulein Stapelton weigerte sich; sie wollte ihm den Brief dann wiedergeben, wenn aus seine Bitten hin Howards Familie ihre Ehe anerkennen und sein Vater sie in sein Haus aufnehmen würde. Das war mehr als er versprechen konnte. Wie er ihr damals sagte, hatte er schon alles versucht, um den Widerstand der Familie zu brechen; er hatte dabei aber nur erreicht, daß der Vater jetzt auch gegen ihn aufgebracht war. Eine andere Frau hätte sich mit diesem Geständnis begnügt und ruhig gewartet, bis mit der Zeit der Schwiegervater sich versöhnlicher zeigte. Aber Luise Stapelton fürchtete, einmal im Besitz des Briefes, würde Franklin nichts mehr für ihre Aufnahme in die Familie tun, ihr vielleicht sogar entgegenarbeiten. Und ohne sich weiter um den schlechten Eindruck zu kümmern, den sie auf den jungen Mann durch ihre Worte und Drohungen machen mußte, begann sie ihren Bräutigam zu schmähen, weil ihrer Meinung nach nur seine Liebe Franklin gehindert hatte, die Ehe mit ihr einzugehen. Nicht genug damit, sie sprach auch ganz offen von den materiellen Vorteilen, die sie wenigstens aus ihrer Verheiratung ziehen wollte, so daß Franklin von jetzt ab nicht anders als sie ehrlich verabscheuen und hassen konnte.

Er gab sich auch keine Mühe, ihr zu verbergen, was er von ihr dachte. Aber sie blieb bei ihrer Weigerung, den Brief zurückzugeben. Nun begann Franklin seinerseits zu drohen. Er sagte, er würde die Stadt augenblicklich verlassen und der Hochzeit nicht beiwohnen, wenn sie ihm nicht willfahre. Darauf erwiderte sie, daß, wenn er nicht zur Trauung käme, sie den Brief Howard zeigen würde, sobald nur der Priester sie getraut hätte. Diese Drohung schien aus Franklin großen Eindruck zu machen. Wenn auch sein Abscheu vor dieser Frau noch verstärkt wurde, mußte er doch tun, was sie von ihm verlangte. Er blieb also bis nach der Trauung in Four-Corners, trug aber eine so traurige und finstere Miene zur Schau, daß die Gäste ihn einstimmig als einen recht ungemütlichen Eindringling empfanden.

Das alles habe ich also in Four-Corners erfahren.

Mir war in der Zwischenzeit aufgefallen, daß Herr Gryce seine ganze Rede nicht an mich richtete, sondern an den Inspektor. Er war zweifellos nicht wenig zufrieden, eine so günstige Gelegenheit zu haben, um diesem Beamten einen Begriff seiner Bemühungen und seiner dabei entfalteten Geschicklichkeit zu geben. Aber er schaute seiner Gewohnheit getreu während des Sprechens weder auf ihn, noch auf mich, sondern streichelte aufmerksam den Henkel eines kleinen silbernen Filigrankörbchens, das er auf meinem Kamin entdeckt hatte. Und jetzt erklärte er weiter:

Die ersten Monate nach der Verheiratung hatten die jungen Leute in Yonkers zugebracht. Deshalb ging ich von Four-Corners nach Yonkers. Dort erfuhr ich, daß Franklin zweimal Frau Van Burnam besucht hatte, – meiner Ansicht nach muß das auf ihre Aufforderung hin geschehen sein. Bei diesen Unterredungen machten sie sich gegenseitig die bittersten Vorwürfe. Franklin war es nicht gelungen, die junge Frau mit der Familie ihres Mannes auszusöhnen. Sie hatte auch schon seit einiger Zeit gemerkt, daß die Liebe ihres Mannes, die sich nur aus ihre körperliche Schönheit gegründet hatte, jetzt aus Anlaß ihrer unausgesetzten Klagen und ihrer Verdrießlichkeit zu schwinden begann. Immer heftiger wünschte sie nun ihre Ehe anerkannt zu sehen, um ein Leben auf großem Fuße führen zu können. Als Howards Vater auf längere Zeit nach Europa verreiste, gelang es Howard erst nach langem Zureden, seine vergnügungssüchtige Frau zu bewegen, mit ihm in die kleine Provinzstadt zu ziehen. Howard hoffte, durch ein zurückgezogenes, einfaches Leben seinen Vater endlich milder zu stimmen. Seiner Frau hatte er aber versprechen müssen, im Herbst und Winter alles einzuholen, was ihr jetzt an Vergnügungen entging. Sie hatten sogar die Absicht gehabt, im Winter aus einige Zeit nach Washington zu ziehen, um sich dort von der Langeweile des Landaufenthaltes zu erholen.

Das eintönige Leben, zu dem Howard seine Frau gezwungen hatte, übte nur eine schlechte Wirkung auf sie aus. Sie wurde von Tag zu Tag unruhiger und ungeduldiger, und als es hieß, daß Howards Vater nach New Port zurückkehre, schmiedete sie allerlei Pläne, wie eine Versöhnung am besten zu bewerkstelligen wäre, so daß Howard schließlich ärgerlich wurde und sie tun ließ, was sie wollte.

Aber den unglücklichsten Schritt, den sie unternahm und der ihren Tod herbeiführen sollte, den hat Howard nie erfahren. Am Tage vor dem Mord überraschte sie Franklin in seinem Bureau und drohte ihm, wenn er ihr nicht helfen würde, ihren Plan auszuführen und die Versöhnung zustande zu bringen, würde sie den alten Liebesbrief seinem Bruder zeigen. Gewiß überschätzte sie den Einfluß, den Franklin auf seinen Vater und die übrigen Familienmitglieder ausübte, denn sie ging sogar so weit, zu behaupten, daß Franklin alles täte, damit die Familie sich ihrer Aufnahme widersetzte. Jeane Pigot war bei dieser Unterredung in Franklins Bureau zugegen, und Frau Van Burnam hatte dort geäußert, daß, wenn Franklin nur wollte, Herr Silas Van Burnam sie gewiß auffordern würde, mit ihnen allen in Grammercy Park zu wohnen.

Frau Van Burnam war also am 16. September nach ihrer Ankunft in New York direkt nach Franklins Bureau gegangen; das war, noch ehe sie Frau Parker aufsuchte, bei der sie dann die Nacht zubrachte. Franklin hat das beim Verhör nicht ausgesagt. Wir erfuhren es erst viel später, weil niemand von den Angestellten des Bureaus sie kannte und sie sich Franklin unter einem falschen Namen hatte anmelden lassen. Ich kenne zwar nicht alle Einzelheiten der Unterredung; da sie aber ziemlich lange währte, mußten wichtige Dinge dabei verhandelt worden sein.

Als Frau Van Burnam aus Franklins Bureau heraustrat, hatte ihr Gesicht, wie mir einer der Angestellten später versicherte, einen triumphierenden Ausdruck. Franklin, der sie aus Vorsicht oder aus Höflichkeit bis zur Tür begleitete, war ganz bleich, wie es schien vor Zorn, und er benahm sich überhaupt in so sonderbarer Weise, daß es jedem auffiel. Die junge Frau hatte einen Brief in der Hand gehalten, mit dem sie sich, als sie durch die Bureauräume schritt, heiter lächelnd Kühlung zufächelte. Sie hatte erst Miene gemacht, den Brief auf Howards Schreibtisch zu legen, hatte ihn dann aber rasch wieder zurückgezogen, wobei sie Franklin einen schelmischen Blick zuwarf, der ihn ganz aus der Fassung zu bringen schien. Den ganzen Tag über wollte Franklin niemanden mehr empfangen, in solche Erregung hatte ihn der Besuch der fremden Dame versetzt.

Ich bin der Ueberzeugung, Franklin hat aus Furcht, sein Bruder, den er sehr liebt, könnte alles erfahren und ihm seine Achtung entziehen, aus Furcht, sein tadelloser Ruf könnte durch das Bekanntwerden seiner Jugendleidenschaft leiden, den Entschluß gefaßt, sich den verhängnisvollen Brief um jeden Preis zu verschaffen. Von diesem übermächtigen Wunsch getrieben, scheute er nicht einmal vor einem Verbrechen zurück.

Das nun sind meine Vermutungen und Erfahrungen. Stimmen sie mit den Ihrigen überein, Miß Butterworth?

*


 << zurück weiter >>