Balduin Groller
Der olle ehrliche Lehmann und andere Geschichten
Balduin Groller

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Die deutsche Hymne.

»Kennen Sie den Doktor Joseph Winter?« fragte Herr G. über die Zeitung hinweg, die er gerade in der Hand hielt.

Ich hatte nicht genau hingehört, und er wartete auch meine Antwort gar nicht erst ab, sondern fuhr gleich fort: »Und überhaupt, wenn ich etwas von der deutschen Hymne höre, da regt sich mir die Galle und am liebsten möchte ich gleich mit der Faust dreinschlagen!«

Und überhaupt – ich war nicht eingeschossen auf so unvermittelte Gedankensprünge und blickte ziemlich verständnislos auf. Herr G. hatte sonst durchaus nicht so brutale Anwandlungen. Gleich dreinschlagen!

»Es war aber auch zu dumm,« setzte er, gleichsam sich entschuldigend, fort. »Hören Sie nur. Sie wissen, daß ich vor Jahren eine große belletristische Zeitschrift redigiert habe.«

»Weiß ich, weiß ich. Hab' ja selbst meine literarischen Sporen darin verdient. Es war sozusagen die einzige belletristische Zeitschrift von Belang in Wien.«

»Das war es eben! Alles, was da literarisch kreucht und fleucht, kreuchte und fleuchte zu mir. Ich bin gewiß, daß im Umkreis von hundert Meilen kein Gedicht gedichtet worden ist, das nicht mir ›zu gefälliger Begutachtung und eventueller Aufnahme‹ eingeschickt oder vorgelegt worden wäre. Jeder sentimentale Ladenjüngling und jeder übergeschnappte Backfisch glaubte mich zum Vertrauten seiner stillen, aber tiefen und echten Liebe machen zu müssen. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, so ist noch kein Weib geliebt worden, wie Hunderte meiner Backfischchen, und so noch kein Mann verraten worden, wie Tausende der 24Ladenjünglinge, die meine lyrischen Kostgänger waren. Ich habe das nämlich aus erster Quelle!«

»Es muß ein bitteres Brot gewesen sein.«

»Man trägt sein Kreuz; nur soll das Schicksal nicht noch über das Gewohnte hinaus mit ausgesuchten Tücken kommen. Also, daß ich erzähle. Wenn ich des Morgens auf die Redaktion kam, so begann ich den Tag damit, daß ich erst die Tageszeitungen und dann die neueingelaufenen Revuen und illustrierten Journale vornahm. Man muß zunächst doch wissen, was in der Welt vorgeht. Dann kam die rasche Erledigung der Post – immer dieselbe Geschichte: so ungefähr ein Dutzend Gedichte, ein Dutzend Rösselsprung-Auflösungen oder sonstige Rätselsendungen, zwei, drei Feuilleton-, Roman- oder Novellenmanuskripte, zwei, drei Privatbriefe, ein halbes Dutzend Varia, Bitten um ein Mittel gegen Nasenröte, um ein Autograph, um Rat gegen Sommersprossen, verschiedene Anstellungsgesuche, Anfragen in Steuersachen, Ziehungen von Losen u. s. w. Darauf wurden flink die Antworten dem Sekretär diktiert und dann erst ging es an die ordentliche Tagesarbeit.«

»Eigentlich ganz unterhaltend, sollte man meinen.«

»Nna – mäßiger Genuß! Wie ich nun eines Tages komme und gerade die Zeitungen vornehmen will, meldet mir der Diener, es sei schon Eine da. Das war reglementwidrig. Die Dichterinnen hatten später zu kommen; sie kannten die Vorschrift betreffs der Sprechstunde und sie hatten sie bis dahin immer rücksichtsvoll respektiert. ›Eine schöne Fräuln!‹ fügte der Diener seiner Meldung hinzu. Ich weiß nicht, war der Schuft durch ein Trinkgeld oder durch den Anblick bestochen worden, jedenfalls zeugte es von psychologischem Tiefblick, daß er mir mit diesem Argument kam. Ich hatte nämlich bis dahin die schmerzhafte Erfahrung gemacht, daß schöne Damen sich nur selten und auch da nur sehr schwer dazu entschließen, auch ins Dichten zu gehen. Wir machten also eine Ausnahme. – Alle Achtung! Mein 25Lebtag werde ich das süße Gesicht nicht vergessen. Natürlich eine Dichterin. Ich nehme das Gedicht entgegen und verspreche baldigen Bescheid. Ach nein, sie bäte recht, recht schön, ich möchte es gleich lesen. Es wäre ja nicht lang, sie wolle sich ruhig verhalten und auf die Entscheidung warten. Jetzt war ich schon drin in der Bewilligung von Ausnahmen –«

»Principiis obsta!«

»Sehr richtig bemerkt, junger Freund! Man soll nicht erst anfangen damit. Ich lade sie also zum Sitzen ein und mache mich an das Gedicht: ›Das Lied der Deutschen!‹ Ich mußte lächeln. Ich hatte ein Liebes- oder Frühlingsgedicht erwartet, und da hatte ich nun einen wuchtigen politischen Sang der Deutschen in Österreich vor mir. Bis zum letzten Blutstropfen wollte sie kämpfen! Schön. Ich war so liebenswürdig, wie man es nur sein kann, wenn man eben ein Gedicht ablehnt, und gebe ihr das Geleite bis zur Tür. Dabei werfe ich einen Blick ins Wartezimmer und sehe mit Entsetzen, daß es voll ist, voll mit Damen und Herren durcheinander. Ich läute mir den Diener herein und frage entrüstet, was denn das zu bedeuten habe. Er wußte es auch nicht. ›Ja, haben Sie denn den Leuten nicht gesagt, daß jetzt keine Sprechstunde sei?‹ Er habe es gesagt, aber alle hätten behauptet, es sei sehr wichtig. Ich wußte nun nicht, wie ich zu meinen Zeitungen kommen sollte, aber da waren sie einmal, die Leute, und da war es wohl am besten, zu trachten, sie mit Anstand möglichst bald wieder loszuwerden. Also in Gottes Namen, der Reihe nach! Der Diener ging und sortierte draußen die Leute. Die erste Persönlichkeit, die ich nun zu begrüßen die Ehre hatte, war wieder eine Dame.

›Sie wünschen mich dringend zu sprechen?‹ frage ich mit edler Zurückhaltung.

›Ja, es ist sehr dringend, Herr Redakteur. Ich habe da ein Nationallied der Deutschen –‹

26›Ein – wa–as?‹

›Eine deutsche Hymne, von der ich glaube –‹

Ein sonderbarer Zufall. Auf was alles die dichtenden Frauenzimmer nicht verfallen! Also die auch. Gutmütig werfe ich einen Blick ins Manuskript. Da waren doch einige neue Nuancen zu finden. Der letzte Blutstropfen war hier sinnig durch den letzten Atemzug ersetzt, aber auch sie war bereit, den Heldentod zu sterben und lud dazu auch weitere Kreise ein. Sie Sache war sehr animierend. Als sie draußen war, betrat ein beweglicher und lauter alter Herr mit weißem Bart und goldener Brille das Zimmer.

›Ich hätte da eine schöne Sensation für Ihr Blatt!‹ begann er mit eigentümlich polterndem Organ.

›Ausgezeichnet!‹ entgegnete ich, und dann riskierte ich einen harmlosen Scherz: ›Wenn's nur keine deutsche Hymne ist!‹

Er sah mich an, ich sah ihn an und ich muß doch ein wenig bleich geworden sein. Die Sache wurde aber auch unheimlich. Er hatte wirklich eine deutsche Hymne mit. Und die Geschichte wurde immer seltsamer. Der Vierte, der Fünfte, der Sechste, der Zehnte – sie alle, alle hatten deutsche Hymnen in der Tasche.

Nun, wissen Sie, lieber Freund, ich bin ein sanfter, friedliebender Mensch, der keiner Fliege etwas zuleide tun möchte, aber das war doch, um die Wand hinaufzulaufen. War denn die ganze Welt toll geworden? Eine Wut hatte sich in mir angesammelt – na, ich bin nicht nur ein friedliebender Mensch, ich war auch zeitlebens ein Pechvogel. Wenn ich je einmal grimmig losgegangen bin, so war es gewiß an der unrichtigen Stelle. Richtig, kommt da in einer Pause der hochmögende Eigentümer und Verleger des Blattes zu mir herein. Er ist sichtlich guter Laune, und ich denke mir noch, wenn ich nur nicht selber so schlecht aufgelegt wäre, so wäre das gerade jetzt eine wunderbare Gelegenheit, ihn in eine kleine freundschaftliche Verhandlung über diskrete Vorschußangelegenheiten zu verwickeln. Er begann 27mit dem Hinweis, daß er bekanntlich niemals irgendwelche Beeinflussung meiner ersprießlichen redaktionellen Tätigkeit versucht habe, aber heute müsse ich ihm doch, wenn's nur halbwegs ginge, einen persönlichen Gefallen erweisen.

›Aber mit Vergnügen!‹ beeilte ich mich zu versichern. ›Um was handelt es sich denn?‹

Es handelte sich nur um eine Kleinigkeit. Die Gattin des Direktors der Papierfabrik, von der wir das Papier bezogen – eine äußerst hochgebildete Dame, wie der Verleger sehr respektvoll versicherte – habe sich hinter ihn gesteckt und seine Protektion angerufen, damit ein Gedicht von ihr, auf das sie besonderen Wert lege, doch ja ganz und ganz bestimmt veröffentlicht werde. Sie sei sonst nicht ›so‹ und werde gewiß niemals zudringlich, aber dieses Mal läge ein ganz bestimmter Grund vor. Ich möchte also schon ihm zuliebe – u. s. w. Er übergab mir das Gedicht. Es war eine deutsche Hymne. Mit einer solchen Exaktheit und Gründlichkeit ist noch niemals ein Verleger von seinem, von ihm bezahlten Redakteur hinauspraktiziert worden, wie in diesem Falle. Er flog nur so!«

»Sie binden mir da einen Bären auf,« unterbrach ich hier endlich Herrn G. »Es ist ein Märchen, das Sie mir erzählen.«

»Die Geschichte ist noch nicht aus,« fuhr Herr G. ungerührt fort. »Kaum war der Chef draußen, schlängelte sich der Redaktionsdiener mit einem heuchlerischen Grinsen an mich heran. Er tät recht schön bitten, ich möcht' nicht bös' sein. ›Was gibt's?‹ frage ich kurz. Ich bin ein argloses Gemüt, und ich glaubte sicher sein zu können, daß er wenigstens keine deutsche Hymne gedichtet habe. Er selber hatte allerdings nicht gedichtet, aber die ehrwürdige Leiterin der Kochschule vom zweiten Stock hatte gedichtet, und zwar eine deutsche Hymne. Von ihr holte er immer für mich das zweite Frühstück, er war der Vermittler der zarten, rein kulinarischen Beziehungen zwischen uns, und einmal nun sollte 28die fortwährend zu meinen Gunsten entfaltete Protektion durch eine Protektion meinerseits erwidert werden. Ich war schon zu gebrochen, um noch wütend werden zu können. Ich brachte es nur noch zu einer elegisch wehmütigen Standrede. Ich hatte diesen Menschen immer mit Güte und Nachsicht behandelt. ›Habe ich das nicht?!‹ schrie ich ihn an.

Alois gestand es erschrocken und sehr betreten zu, und als ich meine Rede beendet hatte, schlich er sehr gedrückt und kleinmütig davon. Sein armer Herr! Ich sah es ihm an, es tat ihm weh.

Es kamen meine besten Freunde und brachten deutsche Hymnen; es kamen entfernte Bekannte, beriefen sich auf längst vergessene Begegnungen und Anknüpfungen, aber sie brachten deutsche Hymnen. Dann kam die Post, sonst ein Päckchen von ein paar Dutzend Briefen, heute ein voller Wäschekorb. Der Sekretär und ich beginnen die Briefe aufzuschneiden! ›Das Lied der Deutschen,‹ ›Das Lied der Deutschen,‹ ›Das Lied der Deutschen‹ . . . es war, um wahnsinnig zu werden. Zu – werden?? Eine schreckliche Vorstellung befiel mich . . .

Ich ging ins Wartezimmer. Es war voller als je, und noch immer strömten Leute herbei. Ich fragte, ob jemand da sei, der mich nicht in Angelegenheit der deutschen Hymne zu sprechen wünsche, ich sei bereit, ihn sofort zu empfangen. Niemand rührte sich. Nun forderte ich die, die mit deutschen Hymnen erschienen seien, kategorisch auf, sofort das Lokal zu verlassen. Unter allgemeiner Entrüstung leerte sich der Raum. Dem Diener gab ich Befehl, überhaupt niemand mehr anzunehmen und vorzulassen, und dann setzte ich mich an meinen Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hand.«

»Aber es kann sich doch nicht die ganze Welt gegen Sie verschworen haben!« bemerkte ich ziemlich ungeduldig zu Herrn G., für dessen Geschichte ich nicht das rechte Verständnis aufbrachte.

»Genau dasselbe sagte ich mir auch, als ich so dasaß,« 29fuhr er fort. »Wenn es aber das nicht war, was sonst konnte es sein?! Ich fühlte mich nicht wohl; die Sache war zu unheimlich. Was konnte es denn sonst sein – ich bin einfach wahnsinnig geworden. Meine arme Frau und meine armen Kinder! ›Es ist nichts anderes, eine Art Verfolgungswahn, plötzlich zum Ausbruch gelangt. In jedem Papier, das ich berühre, sehe ich eine deutsche Hymne und in jedem Menschen den Dichter oder wenigstens den Überbringer einer solchen. Ein unerträgliches Angstgefühl befiel mich, doppelt beängstigend, weil ich mir meiner Narrheit als solcher bewußt war, ohne sie doch bannen zu können.«

»Aber Sie haben sich doch wieder erholt, Freund G.?« wagte ich wohlwollend zu fragen.

»Sie, lieber Freund,« erwiderte er, indem er mich dabei so gewiß eigentümlich von unten herauf ansah, »ich darf die normale Beschaffenheit meiner geistigen Fähigkeiten in Zweifel ziehen, verstehen Sie wohl – ich!«

»Ich wollte auch nichts in Zweifel ziehen,« beeilte ich mich zu versichern, »aber man sucht sich das Unerklärliche zu erklären.«

»Die Aufklärung ist mir auch geworden. Hören Sie nur. Die ›Deutsche Zeitung,‹ die ihre ›Schriftleitung‹ in demselben Hause, nur ein Stockwerk höher hatte, hatte mehrere Monate vorher einen Preis von hundert Dukaten oder so etwas für ein Nationallied der Deutschen in Österreich ausgeschrieben. Am Nachmittag vor jenem verhängnisvollen Morgen war die Entscheidung gefallen, und davon hatte ich nichts gewußt. Wie viel hundert oder tausend Konkurrenz-Hymnen eingelaufen sind, weiß ich nicht, aber ich weiß, daß alle durchgefallenen Dichter und Dichterinnen die glänzende Idee hatten, sich schleunigst an mich zu wenden. Mein Blatt war sozusagen das einzige in Wien, das belletristisch in Betracht kam und Gedichte veröffentlichte – und die Einbruchstation lag so bequem! Natürlich verriet auch keiner der verunglückten Bewerber den Sachverhalt. Denn er hätte 30damit auch seinen Durchfall eingestehen müssen, und die Hymne sollte womöglich unter Dach gebracht sein, bevor die Sache aufkam.«

»Das ist allerdings eine Aufklärung.«

»Jawohl, aber seit der Zeit habe ich einen Zorn auf die deutsche Hymne, daß ich es gar nicht sagen kann. Und wenn einer in meiner Gegenwart die deutsche Hymne nur erwähnt, bin ich imstande, meine Bildung zu vergessen und brutal zu werden. Und darum, als Sie vorhin von der deutschen Hymne anfingen –«

»Aber, Herr G., ich habe doch gar nicht davon angefangen!«

»Haben Sie nicht vom Doktor Joseph Winter angefangen?«

»Auch das habe ich nicht. Sie haben da etwas in der Zeitung gelesen. Was ist's übrigens mit diesem Doktor Joseph Winter?«

»Der ist an allem schuld. Der hat damals als junger Student bei jenem Preisbewerb den ersten Preis gewonnen und darum sind die andern alle durch und über mich hergefallen. Nun lese ich da, daß er sich verlobt hat. Ich kenne die Braut, ein süßes Kind. Man sagt, daß an jedem Finger der Hand, die sie ihm zum Lebensbunde reicht, eine Million hänge.«

»Dann hat er ja abermals den großen Preis errungen.«

»Ja, aber diesmal hoffentlich nicht auf meine Kosten!« 31

 


 


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