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Die Bilder, die sich dem Reisenden, der Kleinasien zu seinem Ziele auserkoren, in Konstantinopel entrollen, bilden gleichsam ein großes, stimmungsvolles Vorspiel für das, was ihm drüben bevorsteht. Auch jenseits der Meeresstraße und der Propontis, wo die duftig blauen Rücken des Golfs von Ismid und das schneebedeckte Haupt des Olymp herüberwinken, liegen paradiesische und wüstenartige Landstriche. Dort strecken sich die farbenprächtigen Buchten und Golfe, dort prangen die grünen Täler des Randgebirges, dort liegen, wie Diamanten im grünen Kranze der Halbinsel, die unvergeßlichen Küstenstädte Trapezunt, Sinope, Ismid, Isnik, Brussa, Smyrna und all die andern vielgenannten. Hinter dem Paradieseszauber der Randgebiete folgt Sonnenbrand und Totenstille; versengtes, durstendes, hellbraunes, wald- und menschenleeres Land. Auch dort drüben finden wir, wie hier in Istambol, ein buntes Gemisch von Völkerschaften, von Türken, Griechen, Armeniern, Turkomanen, Tataren, Kurden, Tscherkessen, Arnauten, Kroaten, Bulgaren, Zigeunern, Lasen u. s. w. Die Gegensätze, welche zwischen diesen Völkergruppen bestehen, werden, wo es auch immer sei, dadurch verschärft, daß die einzelnen Nationalgemeinschaften in strenger Abscheidung nebeneinander hausen. Je bunter das Gemisch, je schärfer die Abgrenzung.
Während die Türkenstädte der reichgesegneten Küstenstriche Zeichen des Verfalls aufweisen, als ob hier die Bevölkerung, durch die reichen Spenden der Natur verwöhnt, arbeitsscheu geworden sei, finden wir auf dem Dach des sonnverbrannten Hochlands, wenn auch nur einzeln und in weiter Ferne, emporblühende Ortschaften mit stattlichen Wohnhäusern aus Stein und großartigen Denkmälern aus neuester Zeit, nicht weit davon freilich Zeltdörfer mit Insassen, deren Armut ans Unglaubliche grenzt.
Nicht immer hat das Innere des kleinasiatischen Hochlandes so trostlos ausgesehen wie heutzutage; denn wo jetzt die Ruinen traurig über das weite Land schauen, standen im Altertum volkreiche Städte mit Burgen, Schlössern und Palästen, Tempeln und Kathedralen.
Verödet, von der Sonne versengt und gebleicht, wie ein mit frischem, blütenreichem Kranze aus grünen Wäldern, Tälern und Auen geschmücktes Totenantlitz, so ruht die anatolische Erdschwelle inmitten dreier Meere, der erlösenden Stunde gewärtig, welche sie zu neuem Leben erwecken soll. Ehe die asiatische Völkerhochflut alles verschlang, war sie trotz der trennenden Meeresstraßen Teil von Europa. Wer nun auch die Herrschaft über die immer noch reichen Hochländer ausüben mag, so viel ist sicher, daß sich die weiten Bezirke Kleinasiens der modernen europäischen Zivilisation erschließen müssen, und wenn es einmal oben auf der Hochsteppe wieder grünt und blüht, wenn sich dann in Städten und Dörfern fröhliche Menschen tummeln, wo jetzt auf den dürren Erdwellen nur Herden werden, dann wird auch Europa das verlorene Kind wieder sein eigen nennen und eine neue Kette von Wäldern und blumigen Ländern wird die Völker des Westens und Ostens zu friedlicher Arbeit verbinden.
Lange Jahrhunderte hindurch ist Kleinasien dem Verfall preisgegeben gewesen und im Abendland fast vergessen worden. Manche Teile der Halbinsel sind bis in die Gegenwart so unerforscht geblieben wie das innerste Afrika. Wie viele einst glänzende Städte sind tief gesunken. Nur einige Produkte aus dem Innern haben schon lange her den Ruhm Kleinasiens gebildet. Und auch diese Zweige des Handels verfielen oder sind doch weit nicht, was sie sein könnten.
Wer kennt nicht jenes eigentümliche, durch seine Elfenbeinfarbe und Porosität ausgezeichnete Mineral, das in leicht gebräuntem Zustande den Stolz so manchen Rauchers ausmacht? Aber nicht jedermann weiß, daß der gesamte Vorrat des Meerschaums, wenn er auch in Wien, in Ruhla u. s. w. bearbeitet wird, aus Kleinasien stammt, und zwar aus einem ganz bestimmten Teile Kleinasiens, aus der Gegend von Eskischehir. Die Vorräte sind so großartig, daß die rauchende Menschheit nie einen Mangel empfinden wird. Der Meerschaum findet sich fast immer in fragmentärer Form, eingebacken in Schwemmgebilde, die sich am Fuß der Serpentinberge oder Serpentinhügel ausbreiten. Er ist von grauer Farbe, fühlt sich seifig an und ist sehr weich, wenn er der Grube entnommen wird. Allmählich wird das Mineral dann härter. Ausgetrocknet verliert es natürlich bedeutend an Gewicht; auch die Farbe wird heller. Die der Grube entnommenen Stücke werden, nachdem sie zugerichtet sind, von Kaufleuten in Eskischehir übernommen. Hier erfolgt das Abrunden und Polieren der Stücke. Die Gruben reichen bis zu verschiedener Tiefe. Die Lagerstätte geht in der Nähe des Pursak bis zu 71 Meter. In Sepedji messen die tiefsten Schächte gegen sechzig Meter. Der Betrieb ist ein sehr einfacher. Die Schächte, mit einem Durchmesser von etwa einem Meter, sind nie mit besonderen Vorrichtungen zum Hinabsteigen oder Ausfahren der Arbeiter versehen. In die Wände der Schächte sind nur Stufen eingehauen. Das Ein- und Ausfahren nach dieser primitiven Methode ist mit Gefahr verknüpft, und nicht selten passiert es, daß ein Arbeiter hinabstürzt, um lahm an allen Gliedern, wenn nicht tot, wieder herausgeholt zu werden. Die meisten Gruben halten sich an den Rand des Pursaktales; doch sind viele verlassen. Der Bezirk von Sarisu Odjak, der den rührigsten Betrieb hat und daher von den Gruben wie ein Sieb durchlöchert ist, hat nicht weniger als drei Kilometer im Durchmesser. Hier sind 1000 Arbeiter und 411 Unternehmer tätig. Manche Schächte sind mit nur einem Arbeiter, andere wieder mit zehn und selbst mehr Arbeitern besetzt. Es ist ein fürchterliches Gesindel, welches sich mit der Gewinnung des Meerschaums befaßt. Weit und breit weiß jedermann, daß die Gruben nichts anderes sind als eine große Verbrecherherberge. Wer den Arm der Gerechtigkeit fürchtet, der verkriecht sich, um sicher zu sein, hierher in die Meerschaumgruben; denn da sucht ihn niemand. Obwohl die gesamten Meerschaumvorräte Eigentum der Regierung sind, wird der Bergbau doch von Unternehmern betrieben, die eine Steuer von fünfzehn Prozent zahlen. Dabei macht die Regierung keine glänzenden Geschäfte. Ihre Einnahmen sollen jetzt im Jahr nur 2500 Pfund betragen; früher waren sie für 9000 Pfund verpachtet. Ein großer Teil der Differenz rührt von Unterschleifen her, die ja unter türkischen Verhältnissen als nichts Außergewöhnliches anzusehen sind.
Wie sind die einst so glänzenden Städte des Innern verfallen! Eine der stolzesten ist die alte Galaterstadt Angora, nahe dem alten Grenzfluß Halys, dem roten Irmak, Kysyl Irmak. Ein Loblied ohnegleichen ist es, welches Evliya Effendi der Stadt gesungen. Darnach hätte Angora um die Mitte des 17. Jahrhunderts 3000 Brunnen, 170 Springquellen, 76 Moscheen, 15 Derwischklöster und Moscheen, 180 Knabenschulen, 200 Bäder, 70 Paläste mit Gärten, 6600 Häuser, Bazare, Kaffeehäuser und Barbierbuden in Menge gehabt. Seitdem ist's tief abwärts gegangen mit der Stadt. Wohl verdient sie immer noch den Ruhm ihrer Landesprodukte, ihrer Weintrauben, Melonen und Birnen. Aber die Bevölkerung hat nicht nur der Zahl nach abgenommen. Um 1860 schätzte man sie noch auf 45 000. Dem trefflichen Forscher Dr. Edmund Naumann gegenüber erklärte (1890) der Mali (Generalgouverneur) Abeddin Pascha, es müssen 25–30 000 sein. Der größere Teil der Bevölkerung ist heute verarmt. Der einstige Reichtum beruhte auf der Verarbeitung und dem Export der vliesartigen Ziegenwolle, Tiftik, eines Produktes, das sich in Europa schon seit Jahrhunderten großer Berühmtheit erfreut. Aus den Haaren der Angoraziege sind seiner Zeit in Frankreich sowohl wie in England die schönsten Allongeperücken gearbeitet worden. Bei den Türken war das schöne, seidenartige Haar nicht weniger geschätzt als in Europa, und ein strenges Verbot trat der Ausfuhr des Rohproduktes entgegen. Eine wie große Quelle des Reichtums die auf der Ziegenzucht beruhende Industrie für Angora gewesen ist, beweist die Angabe, daß im Jahre 1812 noch tausend Webstühle im Betrieb standen und etwa zehntausend Weber mit Verarbeitung der Wolle beschäftigt waren. Die schönsten Gewebe fanden damals ihren Weg in das Serail des Padischah. Jetzt ist die Tiftik-Industrie fast vollständig vernichtet, was durch die seit fünfzig Jahren sich steigernde Ausfuhr des Rohproduktes herbeigeführt wurde.
Und doch hat dieses Ländergebiet, in dem weit mehr als 15 Millionen Einwanderer bequem Platz finden könnten, eine Zukunft, und die Anfänge eines neuen Aufschwungs sind im letzten Jahrzehnt nicht zum wenigsten durch deutsche Kräfte herbeigeführt worden. Es war kein geringerer als Moltke, der 1835-1839 in der Türkei sich aufhielt und in seinen 1841 erschienenen Briefen auf die unerschöpfliche Kraft des Landes hinwies: »Wie viel Naturkräfte sind hier noch ungenützt, wie viele Bäche brausen dahin, die Mühlen und Werke treiben könnten, welch endlose Wälder stehen unangerührt aus Mangel an Straßen, wie viel Baumaterial liegt hier umhergestreut, welche mineralische Schätze verschließen die Berge, wie viel derselben liegt offen zu Tage und wartet nur der Ausbeutung.« Andere Reisende sind ihm nachgefolgt und haben seine Eindrücke bestätigt. Auch die türkische Regierung hat unter dem Sultan Abdul Hamid angefangen, die Hebung des Landes sich angelegen sein zu lassen. Als wichtigstes Mittel dazu ist schon längst der Bau von Eisenbahnen ins Auge gefaßt worden. Die ersten Anfänge waren nicht glücklich. Naumann, der auf seiner Studienreise durch Anatolien (1890) auch das herrliche Brussa aufsuchte, erzählt: »So manche Burgruine war uns auf den bisherigen Streifzügen durch anatolische Lande begegnet, altehrwürdige, zertrümmerte Festungsmauern, Reste von Kirchen, Moscheen und Palästen hatten wir gesehen, aber eine dreißig Kilometer lange Ruine wie die, an welche wir jetzt herantraten, die Ruine eines vor kaum zwölf Jahren entstandenen Baues, welcher der türkischen Regierung die respektable Summe von drei Millionen Mark gekostet hat, eine solche Überraschung war uns bisher nicht in den Weg gekommen. Die Ruine einer Eisenbahn! Lokomotive, Wagen und Schienen rosten, die Dämme sind zusammengeschrumpft, Schienen und Wellen liegen wirr durch einander, die Brücken sind eingestürzt. Man sieht es dem Bau an, daß er seine Entstehung keinen besonders genial oder gewissenhaft angelegten Erbauern verdankt. So hinfällig war der Schienenweg angelegt, daß er nie befahren werden konnte.« (Diese kleine Bahn Mudania–Brussa hat bis 1892 völlig neu gebaut werden müssen.) Seit 1888 ist mit größerer Energie der Bau in Angriff genommen worden. Nicht der Handelsminister, sondern der Seraskier, der Kriegsminister, hat im Interesse der Verteidigung des Reiches auf die Ausführung des Bahnnetzes gedrungen. Es ist für uns Deutsche eine Ehre, daß eine deutsche Gesellschaft die Konzession für die wichtigste anatolische Bahnlinie erhielt und die ersten Teile ebenso rasch als solid und tüchtig ausführte.
Von Haidar Pascha (Konstantinopel gegenüber) führt die Bahn über Eskischehir, Angora bis zum Taurus. Sie soll nach Mesopotamien weitergeführt werden und in Basra oder Kneit am Persischen Golf enden. Sie hätte dann eine Länge von 2600 km (= der Entfernung von Königsberg bis zum Ural) und wäre eine Neuauflage der alten persischen Königsstraße. Bei Eskischehir zweigt die zweite große Bahn ab, die zunächst über Kiutahia, Konia bis Cicilien geführt ist, aber dereinst über Damaskus, Jerusalem bis Mekka gehen soll. Eine weitere Bahn soll den wichtigen Hafen Samsun am Schwarzen Meer mit Schiwas (am Kisil-Irmak) verbinden, wo sich ein Schienenstrang nach Erzerum anschließen wird. Vom westlichen Meer bei Smyrna aus entwickelt sich schon ein Bahnnetz: eine französische Bahn fährt im Norden im Tal des Hermos, eine englische im Süden im Tal des Mäander nach Osten. Seit 1905 ist die Bahn von Haifa bis Damaskus weitergeführt, längere Zeit schon die von Jaffa nach Jerusalem.
Kleinasien ist im Erwachen begriffen. Wohl ist das innere Hochland noch ein ödes Land. Einförmig wird das Land, wenn das Dach der anatolischen Tafel einmal erreicht ist; in leichten Wellen schwillt es an und ab. Ein hellbraunes Gewand deckt die Steppe und die nächstliegenden Dämme, während aus der Ferne blaue Gipfel herüberschauen. Ganz still und vereinsamt sieht das Land aus, nachdem die Bahn den langsam seines Weges schleichenden Sakaria gekreuzt hat. Nur Adler und Geier beleben, über den Felsenhäuptern schwebend, das von Bergzügen übersponnene Plateau. Aber das Land ist weithin lohnenden Anbaus fähig. Aus den 40 Prozent des Landes, die jetzt kaum angebaut werden, können 80 werden. Dem Dampfwagen wird der eiserne Pflug folgen und neues Leben, so hoffen wir, aus den Ruinen sprossen.