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Es hat mehrere Tage gedauert, bis wir nur einigermaßen Geschmack an Jerusalem gewinnen konnten, und Freude daran haben wir auch heute noch nicht. Die Stadt als solche ist charakterlos. Man kann hier alles Mögliche sehen und finden, aber keinen einheitlichen Grundzug. Auf der einen Seite sind moderne Häuser deutscher oder englischer Anlage, auf der andern ist ein Wust von Gemäuer, das gar nicht nach den Begriffen Straße und Haus gegliedert werden kann, ein Flickwerk von vielen Jahrhunderten, in dem man alles stehen ließ, was man nicht direkt ändern mußte. Nirgends in Jerusalem außer auf dem Platz der Omarmoschee findet das Auge an Steinen und Mauern seine Freude. Die alte Zitadelle ist ein Koloß ohne Glieder, die Mauer ist eine Klippe, um die der Schutt Wellen von zehn oder zwanzig Meter wirft. Wo ist hier ein ordnender Wille, wo eine Lust an neuem Wachsen? Draußen vor dem Tore gibt's nette deutsche und jüdische Häuser, aber kaum kann man sie recht zu Jerusalem rechnen. Sie sind eine Welt für sich, in der etwas von dem Wort sich verwirklicht, daß jeder wohnen soll unter seinem Ölbaum. Die Stadt selbst ist ein Augiasstall, für den noch kein Herkules gekommen ist. Seit Jahrtausenden wird hier für zwanzig oder vierzigtausend Menschen Speise hereingebracht und nur der geringste Teil dieser Stoffe hat die heilige Stadt wieder verlassen. Es gibt im armenischen und jüdischen Quartiere Stellen, wo man umkehrt, obwohl der Weg weitergeht. Diese Dinge muß man vor sich gehabt haben, wenn man die grundverschiedenen Urteile der Pilger über Jerusalem würdigen will.
Jerusalem, du hochgebaute Stadt, was bist du der Seele auch unseres deutschen Volkes geworden; du warst uns ein Märchen aus Gottes Garten, eine Pforte des Heils. Wir wußten, daß unsere Väter gern gestorben wären, um dich wieder frei zu machen. Selig nannten wir den, der mit betender Andacht den Leidensweg nachwandeln durfte, den das Lamm ging, das der Welt Sünde in Jerusalem trug. Wer vom Himmel reden wollte, der sprach vom oberen Jerusalem.
Etwas von diesen Erinnerungen haben wir alle beim Pilgern nach Jerusalem in uns gehabt, stärker oder schwächer. Wer es sehr stark in sich trug, vergaß vielleicht allen Staub und Moder und sah mit dem Auge des Glaubens hinter den Runzeln und Falten des heutigen Jerusalem die Schönheit der Braut Jehovas. Er ging durch die heilige Stadt, indem er weniger sah, was um ihn herum war, weil er dem Herrn ein Loblied sang unter den Mauern von Zion. Auf andere aber wirkte die Stadt ganz anders. Sie gingen, wie der Kaiser gesagt haben soll: von einer Enttäuschung zur andern. Sie gingen und frugen in ihrem Herzen: Jerusalem, das ich suchte, wo bist du? Gestern fand ich dich nicht, deshalb ging ich heute nochmals dich zu suchen, dich, die Stadt Gottes, deren Brünnlein lustig rinnen, denn der Herr ist bei ihr drinnen. Wir aber gehörten nicht zu den glücklichen, die eine heilige Stadt auf Erden gefunden haben. »Hin ist hin, jetzt haben sie den Türken,« wie Dr. Luther sagt. Wir sahen uns genötigt, in unserem Innern eine ganz scharfe Scheidung vorzunehmen zwischen den vergangenen Tatsachen unseres Glaubens einerseits und dem heutigen Jerusalem andererseits. Beides geht sich nichts an. Nur so können wir den Aufenthalt an diesem Ort ertragen.
Wir wollten den Sonnenaufgang auf dem Ölberg erleben, aber durch eine der ortsüblichen arabischen Bummeleien kamen die Pferde zu spät. Wir ritten an den Felsengräbern und am Blutacker vorüber, als eben die Macht der Morgensonne über dem Moabitergebirge aufging. Am Teich Siloah vorüber, das Kidrontal hinauf, zur Seite von zahllosen Judengräbern kommen wir zu den Ölbäumen von Gethsemane. Hier ist das lateinische Gethsemane, dort ist das russische Gethsemane, wo ist das Gethsemane Christi? Überall verdrängt der Priester seinen Herrn, Gethsemane ist verloren, es war zu zart für dieses grobe Volk. Es ist gut, daß man nicht weiß, wo Jesus kniete. Gott sei Dank, daß man es nicht weiß! Es wäre zu greulich, zu glauben, daß der Ort für Bakschisch gezeigt würde, wo er sprach: Vater, ist es möglich, so gehe dieser Kelch von mir! Aber schlimmer als mit Gethsemane steht es mit dem Platz der Himmelfahrt. Dort bekommt man einen Stein zu sehen, in dem sich der Fuß Jesu beim Abstoßen zur Auffahrt abgedrückt hat. Die Maßverhältnisse dieses Abdruckes lassen auf einen Goliathkörper schließen. Gräßlich! Oft aber liegt das Schöne neben dem Gemeinen. Die Plattform innerhalb des russischen Besitzes auf dem Ölberg ist ein Punkt von wahrer, gottgegebener Schönheit. Hier ist es, wo der Kaiser am Sonntag mit seinen Matrosen Feldgottesdienst hielt und wo ihm beständig die Tränen aus den Augen quollen. Hier kniete er nieder und fand, was ihm Jerusalem nicht bot. Die Landschaft ist wirklich gut. Wir sahen sie bei günstigster Beleuchtung. Zwischen dünn bewachsenen trockenen Hügeln von milden reichen Farben windet sich das Kidrontal zum toten Meer. Vor uns auf flachem Hügel ruht Bethanien. Das tote Meer ist ein silberner Spiegel zwischen bergigen Zacken. Den Hintergrund bildet das immer wieder zur Bewunderung hinreißende einförmige Gebirge Moab. Einige Schritte seitwärts, und wir sehen die Stelle, wo der Jordan sein Süßwasser in das Salzwasser des Toten Meeres gießt. Ob wir Jericho sahen oder nicht, blieb uns zweifelhaft. Hier ist in der Tat eine Stätte, die Gott gemacht hat und die die Menschen noch nicht verderben konnten. Nach langen Vorverhandlungen durften wir auf den russischen Aussichtsturm steigen. Da lag Jerusalem! Mauern, Fenster grau in grau, ein breites Gewühl von menschlichen Hütten. Der Führer erklärt alle Türme und Kuppeln, aber welchen Zweck würde es haben, hier dies alles zu wiederholen! Der Bau der neuen deutsch-evangelischen Kirche ist würdig, aber nicht so architektonisch hervorragend, wie man es wünschen möchte. Dem Turm fehlen etwa zehn Meter. Immerhin können wir mit unserem baulichen Auftreten zufrieden sein. Auch von hier aus ist die Omarmoschee das beste Stück der Stadt. Leider!