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Zu den merkwürdigsten und ältesten Befestigungswerken der Welt gehört sicherlich die große chinesische Mauer, die an Umfang der Bauart alles übertrifft, was jemals Ähnliches auf Erden gebaut wurde. Ihre Länge ist auf 3000 Kilometer abgeschätzt worden. Dieses merkwürdige Werk dient heute einfach als ein geographischer Grenzstein, doch bleibt es ein wunderbares Denkmal der großen Vergangenheit Chinas und ein Beweis für die Größe und den Unternehmungsgeist ihrer Beherrscher. Man hat berechnet, daß das Material, das zum Bau dieses Riesenwerkes verwendet worden ist, ausreicht, um eine Doppelmauer zu errichten, die den Äquator umspannt und sechs Fuß hoch und zwei Fuß dick wäre.
Die Erzählung von einem massiven Bauwerk aus dem dritten Jahrhundert vor Christo, das, vom Strande des östlichen Meeres anhebend, sich über Berg und Tal durch 20 Längengrade hinzieht, mußte im Abendland die höchste Bewunderung erregen und oft als Beispiel dienen, in wie früher Zeit sich eine hohe Kultur in China entwickelt habe. Jedoch muß ein guter Teil dieses Bildes vor strenger Kritik verschwinden, und bleibt auch das Kolossale des Riesenwerkes unbestritten, so fällt doch der Glaube an ein hohes Alter desselben dahin, soweit sein Charakter als festes Bauwerk in Betracht kommt.
Was wir jetzt unter der Großen Mauer verstehen, ist zum größten Teil ein Werk des 15. und 16. Jahrhunderts nach Chr., und eine große Mauer hat es sicherlich vor dem 6. Jahrhundert nach Chr. nicht gegeben. Selbst der bekannte Venezianer Marco Polo deutet nirgends auf sie hin, obwohl er sie auf seiner Heimreise (am Ende des 13. Jahrhunderts) an mehreren Stellen hätte berühren müssen.
Erst mit Ankunft der Jesuiten in China im 16. Jahrhundert scheint die Kenntnis der großen Mauer sich verbreitet zu haben. Die ersten berichten nicht einmal aus eigener Anschauung. Die geographischen Arbeiten und Reisen der Jesuiten Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts verschafften dann dem europäischen Publikum zuerst ein Bild von dem gegenwärtigen Zustande des Werkes. Man nahm damals noch einfach an, daß die vom ersten Kaiser der Tschin-Dynastie im 3. Jahrhundert v. Chr. erbaute Mauer mit der heutigen gleich sei.
Englische und russische Reisende des 18. und 19. Jahrhunderts erweiterten die Kenntnisse des Werkes mehr und mehr. Die erste Aufklärung verdanken wir dem russischen Priester Hyacinth, der von 1809 bis 1821 als Vorstand der russischen geistlichen Mission in Peking lebte und eine Reihe von wichtigen Arbeiten über China veröffentlicht hat. Durch sorgfältiges Vergleichen der chinesischen Quellen kommt er zu folgenden Schlüssen:
Daraus ergibt sich, daß die jetzige Mauer ganz der Ming-Dynastie angehört.
Die jetzige Mauer ist folgendermaßen konstruiert: Auf einem etwa sechs Meter breiten Fundament von Steinquadern erheben sich zwei starke Mauern von gebrannten Ziegeln; der Zwischenraum ist mit Lehm, Steinen, Ziegelstücken fest ausgefüllt und das Ganze oben mit großen Ziegeln verschalt. Beide Seiten haben eine niedrige Brustwehr mit Schießscharten. Die Höhe beträgt sechs bis acht Meter einschließlich der Brustwehr. In regelmäßigen Entfernungen erheben sich viereckige Türme. Die ganze Bauart erinnert an die Pekinger Stadtmauer, die ebenfalls aus dem 15. Jahrhundert stammt. Die so gebaute Mauer zeigt sich am Ostende, am Golf von Liautung, im Nordosten von Peking am Paß und Tor Gubeiku; von da bis zum Nankupaß besteht die Mauer ebenfalls aus Ziegelsteinen. Dagegen im Nordwesten von Peking, sowie hinter dem Guguanpaß ist die Mauer weniger breit und hoch, hat nur eine Brüstung nach außen, ist dafür aus Granit oder Porphyr; die Türme sind in größeren Abständen und bisweilen von der Mauer etwas entfernt. Diese Partien machen einen älteren Eindruck. Bei Kalgan zeigt die Mauer sich einfach aus aufgehäuften Steintrümmern hergestellt, und dies wird wohl die ursprünglichste Anlage gewesen sein. Endlich scheint die Mauer westlich von Kalgan einfach aus Lehmwällen zu bestehen.
So lückenhaft auch heute noch unsere Kenntnis ist – es fehlt z. B. jede Angabe über die Beschaffenheit der Mauer in der Provinz Schansi – so geht doch aus obigem hervor, daß von einer eigentlichen Mauer nur innerhalb der Provinz Tschili die Rede ist, und zwar in weitem Bogen um Peking herum.
Daß diese Grenzfeste militärisch von geringem Werte selbst gegen Wilde war, daß sie eben nicht »wie eine chinesische Mauer« China vor Einfällen der Barbaren schützen konnte, haben die Horden der Hsiungnu, Mongolen u. a. in den folgenden Jahrhunderten bewiesen.
Eigentümlicherweise ist die von den Europäern als ein Wunder der Welt gefeierte große Mauer in China selbst nie als ein sehr großes Werk angesehen worden. Die Historiker erwähnen sie nur beiläufig und legen ihr keine besondere Bedeutung bei; ja das Unternehmen wird den Kaisern häufig als Torheit und unnütze Belästigung des Volkes vorgeworfen. Ein altes Volkslied, das diese Bedrückung beklagt, sagt:
»Wurden Söhne geboren, so zog man sie gar nicht auf; Wurden Mädchen geboren, so wurden sie sorgfältig auferzogen, denn diese müssen nicht zu der Großen Mauer. Leichen und Knochen liegen da in Massen aufgehäuft.«
Nach der Vertreibung der mongolischen Vorgänger scheint schon der erste Kaiser aus der Ming-Dynastie im Jahr 1368 den Plan gefaßt zu haben, das aus grauer Vorzeit wohl bekannte, aber gänzlich zerfallene und gar verschwundene Werk wieder herzustellen; aber leider sind die Daten über den Beginn der Arbeit äußerst spärlich. Die Reichsgeographie der Ming-Dynastie bespricht die Mauer weder im Text noch deutet sie dieselben auf den Karten an, sondern erwähnt nur als »Altertümer« einzelne der alten Wallreste. Dessen ungeachtet darf man annehmen, daß schon mit Beginn dieser Dynastie zunächst die Grenzmauer vom östlichen Meer in einem großen Bogen um Peking herum und wahrscheinlich durch Schansi bis zum Hoangho gebaut wurde. Erst gegen das Ende des 15. Jahrhunderts hören wir von den westlichen Teilen der Großen Mauer. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts wurden die Einfälle der Tehahar und Ordos-Mongolen in Schensi und Schansi gefährlich. Die gefährdetste Stelle war das Gebiet in der großen Biegung des Hoangho (heute Kansu und Schensi), und so hören wir denn auch hier von der Anlage von Grenzbefestigungen. Zu Anfang des 16. Jahrhunderts wurde der Verteidigung von Schensi viel Aufmerksamkeit geschenkt und Mitte desselben Jahrhunderts wurde ein neuer Anstoß zur Erbauung von Grenzmauern gegeben.
Die Annalen der Ming-Dynastie enthalten mehr als genügendes Material, um den Schluß ziehen zu dürfen, daß die Neuanlage von Grenzwällen und Mauern nach Vertreibung der Mongolen unabhängig von den Grenzwällen der älteren Perioden und so gut wie ohne Benutzung vorhandener Reste durch die Ming-Kaiser geschah, daß mithin von der heute vorhandenen »Großen Mauer« kein Teil älter ist als 400-500 Jahre, und daß diese Erbauung durch die Ming keine einheitliche war, sondern stückweise in verschiedenen Jahrhunderten geschah. Darauf weist auch die Verschiedenheit der Konstruktion. Die gegenwärtige Mandschu-Dynastie hatte keine Veranlassung, die Große Mauer als Grenzbefestigung im Stand zu halten. Wohl aber sind die wichtigsten Pässe, z. B. Kalgan und Tschatau, zu Zollzwecken im Anfang der Dynastie noch repariert worden. Im übrigen wurde die Mauer dem Verfall überlassen, der denn von Jahr zu Jahr zugenommen hat.
Die Große Mauer sinkt herab zu einer historischen Ruine, die Sage bemächtigt sich des Gegenstands und die historischen Überlieferungen verwischen sich. So entsteht denn schon im 18. Jahrhundert die Annahme, daß die verhältnismäßig modernen Bauten der Ming seit der Tschin-Dynastie ohne Unterbrechung durch zwei Jahrtausende Chinas Grenze gebildet hätten, eine Annahme, die in unsere Werke überging und noch heute fast allgemeine Geltung hat.