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Dies Vorcabinet war ein freundlicher Neubau, der eine frühere Unterbrechung der Wohn- und Schlafzimmer hier durch einen Gang verhinderte und verdeckte. Von einem obern Zimmer hatte es ein durch gedämpftes Glas hereinfallendes Kuppellicht. Das Schlafzimmer daneben war fast dunkel, aber die dunkeln Schatten leuchteten bunt. An den Fenstern prangten praktikable bunte Läden von bleigefugten, schön zusammengestellten alten Kirchenfenstertrümmern. Es sah aus hier wie der Eingang in eine Kapelle.
In dem Vorcabinet, beschienen von dem matten Kuppellicht, lag Paula, völlig angekleidet, auf einem Ruhebett. Die Haare glänzten golden. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Blicke lächelten. Armgart stand zu Paula's Häupten, auch sie geisterhaft, wie eine Botin aus jenem Traumreich, von welchem einst der griechische Sänger gesagt, es hätte zwei Ausgangspforten: eine von Elfenbein, aus dieser kämen die unwahren Träume, eine von Horn, aus dieser kämen die zutreffenden.
Die Tante hielt Paula's Hände. Thiebold wagte nicht einzutreten, zog sich aber auch nicht zurück und winkte vielmehr dem Doctor Püttmeyer, dessen Antlitz beinahe so weiß war, wie seine Halsbinde. Deutlich hörte man die langsam und hellgesprochenen Worte: O die liebe, liebe, liebe Sonne! . . . Wie 78 glitzert sie im Schnee – Ein Brillant auf jeder Tannenspitze . . . Ach, ach! . . . Das ist ein Schatz – im Düsternbrook –
Im Düsternbrook –? Püttmeyer glaubte, die Seherin wäre in dem Reiche der ewigen Kreise, Tangenten und Secanten – Der Düsternbrook lag aber nur drei Meilen von hier –! St! sagte Thiebold, nur auf eine Ahnung hin, Püttmeyer könnte sich, erläuternd oder anzweifelnd, bewegen. Püttmeyer schluckte nur seine Angst hinunter und hielt sich an einem Stuhl, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Nun kommen sie! fuhr die Träumende fort . . . Wie sie so lieblich singen, die Mönche! . . . Silberbeschlagen ist der Sarg . . . Laienbrüder tragen ihn . . . Die Armen! Wie die Füße so nackt durch den Schnee müssen! . . . Alle singen: Dona eis pacem... Wie heißt das, Fräulein – Schwarz –?
Die Träumende schwieg. Thiebold stand schreckergriffen. Er glaubte, »versichert sein zu dürfen«, daß die Gräfin drei Meilen weit das eben stattfindende Begräbniß des Kronsyndikus sähe; aber was sollte hier Fräulein Schwarz, die doch wol niemand anders sein konnte, als ihre frühere Gesellschafterin, Lucinde, der allerdings Benno ein lateinisches Wörterbuch gekauft hatte? War denn diese bei dem Begräbniß zugegen? Püttmeyer schlich athemlos einen Schritt näher . . .
Die Gräfin sprach schon wieder laut, doch etwas unverständlicher.
Erst allmählich unterschied man die Worte: Die Wagen nehmen ja kein Ende . . . Ich zähle schon dreiundzwanzig . . . In dem ersten hinter den Franciscanern sitzt der Präsident von Wittekind . . . Neben ihm der Domherr . . .
Wieder folgte eine Pause.
Dann der Onkel mit Benno –! fuhr Paula fort.
Wieder schwieg sie.
79 Es geht so langsam . . . Den Schnee schaufeln die Bauern auf . . . Da läuft ein Reh über den Weg . . . Alles ringsum ist Wald . . . Aber die Menschen . . . Singen die und sie läuten auf dem Schlosse . . . Der Zug kann jetzt nicht durch . . . Jetzt schweigen die Mönche . . . Einer singt . . . Pater Ivo . . . »Maria, Maienkönigin! Dich will der Mai begrüßen!« . . . Der Mai in diesem Winter! . . .
Püttmeyer kannte ja auch den Mariensänger, den Grafen Johannes von Zeesen, der mit seinem Husch! Husch! die Melusinen verjagte.
In der dritten Kutsche . . . fuhr Paula den bebend Horchenden fort zu erzählen . . . da sitzt der Herr von Terschka . . . Bei ihm der Landrath . . . Wie jung ist wieder der heute! . . . Herr von Enckefuß ist ganz geschminkt und schön frisirt . . . Die Mönche singen . . . Wie scheint die liebe Sonne auf den silbernen Sarg! . . . Ein Kissen liegt auf ihm mit allen Orden des Onkels! . . . Wie funkelt das! . . . Vierzehn Mönche sind es . . . Zwei fehlen . . . Sebastus und Hubertus fehlen . . .
Sebastus? – sagte, seinem Temperament verfallend, Thiebold halblaut.
Den seh' ich ja jetzt auch! . . . hauchte Paula, als wenn sie Thiebold's Frage gehört hätte, und alle, auch wol die Frauen. mochten denken: Den Sohn des Mannes sieht sie, der erschlagen wurde von dem Todten, den sie eben begraben?
Der liegt recht krank! fuhr Paula fort. Er liegt im Krankenkämmerchen von Himmelpfort . . . Ach, da ist es eng und klein! . . . Durch ein Gitter – kann er in eine andere Zelle sehen, nicht acht Schritte lang . . . Das ist die Kapelle der Kranken . . . Fünf Schritte breit ist auch die nur . . . Maria von altem bunten Holze . . . Neben ihr – dahin also legen sie ihre Weihnachtskrippchen? . . . Ein Oechslein . . . ein Eselein 80 . . . wie zum Spiel für Kinder . . . Gebt sie ihm doch! . . . Geht das Eselchen nicht durch das Gitter? . . . Es geht . . . Armer Pater, spiel' mit dem Krippchen der Franciscaner! . . .
Lange blieb es jetzt still. Tante Benigna sprach endlich laut und betonte die Worte so scharf, als könnte Paula dadurch verhindert werden, ferner ihren Geist außerhalb der körperlichen Hülle dahinschweifen zu lassen. Armgart schien das höchste Verlangen zu tragen, vom Leichenbegängniß mehr zu wissen. Nein! Nein! Komm! sagte die Tante mit Entschiedenheit . . . Laß sie doch, Tante! bat Armgart. Aber: Sie träumt das nur so – komm! drängte Jene. Sie sieht es nicht!
Die Tante hatte schon die Vorhänge ergriffen und bedeutete die Männer, sich nicht den Zwang anzulegen, zu leise aufzutreten; man dürfte ganz getrost laut sprechen. Schon wollte Püttmeyer sich entfernend in Andacht, Thiebold in Bewunderung ausbrechen, als Armgart, die sich nicht trennen konnte und jetzt weit über das mit einer seidenen Decke belegte Ruhesopha ausgestreckt lag und das in glatten Scheitel gewundene Haar der Freundin streichelte, hastig winkte und die Tante bedeutete, Paula schiene einen heftigen Schmerz zu fühlen. Schnell wandte sich die Tante. Da sie gleichfalls zu sehen glaubte, daß sich Paula durch irgendetwas erschreckt fühlen mußte, kehrte sie zurück.
Der Vorhang, der die Männer von dem Gemache trennte, fiel wieder zu; aber sie hörten die angsterfüllte Stimme der Träumenden in kurzen Sätzen die Worte ausstoßen: Wer stört nur da – die Ruhe der Todten? Der Zug hält ja . . . Wer spricht? . . . Das ist die Eiche, an der . . . Wer spricht nur immer und predigt so laut? . . . Ha! . . . Herr von Terschka springt aus dem Wagen . . . Die Mönche schweigen . . . Benno . . . Gensdarmen . . . Und der – Jude –
Merkwürdig! rief Thiebold, dem das Traumsprechen Paula's 81 an sich nicht neu war, und ergriff die Hand des zitternden Doctors, dem der Angstschweiß auf die Stirne trat. Was mag denn nur vorgefallen sein –? Er hätte gern seinen Hut ergriffen und seine Neugier, auch seine Neigung zu Interventionen befriedigt.
Nichts mehr wurde hörbar. Man vernahm nur ein Murmeln der Gräfin, ein unverständliches Sprechen, wie durch die Zähne. Dann war alles still.
Die Tante kam heraus und sagte, scheinbar voll Beruhigung und doch voll Bestürzung: Sie ist erwacht!
Jetzt – in einem Augenblick – flüsterte Thiebold.
Wo ich, konnte die Tante für sich hinzusetzen, schon die Freude habe zu sehen, wie dieser liebenswürdige junge Mann förmlich unter dem Umstand leidet, sich bei etwas Vorgefallenem nicht nützlich machen zu können. Wie ganz anders doch, als einst z. B. mein bequemer Levinus war –!
Im Erwachen weiß sie nichts mehr von dem, was sie im Traumschlaf gesehen? fragte Püttmeyer im Gehen und vor Beklemmung athemlos.
Kein Wort weiß sie dann! bestätigte die Tante. Sie können sich denken, wie uns diese Dinge aufregen. So besonders lebhaft sprach sie seit lange nicht, und wir glaubten doch schon den höchsten Grad erreicht zu haben! Sie werden sehen, daß sich unser Engel nach einigen Minuten erholt hat und am Arm ihrer Freundin eintritt, als wenn nichts geschehen wäre – Was mag nur die plötzliche Störung gewesen sein! Und gerade auch an der Stelle, wo – die verhängnißvolle Eiche – –
So kamen sie in das behagliche Wohnzimmer zurück.
Und Sie dürfen in der That annehmen, meine Gnädigste, begann Püttmeyer, daß alles das –
Natürlicherweise! fiel Thiebold ein und verwunderte sich 82 über des Doctors Zweifel und erklärte es für »selbstverständlich«, daß die Herren, die gegen Abend zurückkommen würden, alles das als wirklich so vorgefallen bestätigen würden.
Püttmeyer mußte schmerzlichst bedauern, daß die weite Entfernung Eschedes ihn zwang, sich schon unmittelbar nach dem Diner in den Wagen zu setzen, der ihn heute früh abgeholt hatte und wieder in sein Städtchen zurückfahren sollte.
Die Tante war inzwischen mit der Nachfrage um das Diner beschäftigt. Die Störung des Leichenbegängnisses nahm sie allmählich für etwas wirklich Vorgekommenes, vielleicht nur etwas Unverfängliches. Sie wüßte, sagte sie, wie schreckhaft Paula wäre und wie schon die geringste Abweichung von dem, was in der Ordnung sei, sie in Verwirrung bringen könnte.
Thiebold aber schwebte hoch über der Erde. Er erzählte eine Anzahl von Geschichten, die ihm die alten Holzvermesser seines Geschäfts, die Förster und Holzschläger auf seinen Reisen als glaubhafte »Ahnungen« versichert hätten. Er behauptete, in Canada englische, aus Schottland gebürtige Soldaten gesehen zu haben, die krank waren am zweiten Gesicht; krank, betonte er, wenn man krank eine so wunderbare Gabe nennen kann, die sogar ansteckend sein soll, ja in der That, Herr Doctor –! Thiebold versicherte, daß ihm Hedemann erzählt hätte, wenn in einer schottischen Compagnie nur ein einziger Geister sähe, sähen bald alle welche. Selbst der Oberst von Hülleshoven, der doch gewiß ein Mann ohne Vorurtheile wäre, hätte dies versichert –
Nun kam die Tante von einer Inspection des jenseit des großen Empfangssaales gedeckten Tisches zurück und Thiebold mußte von dem hier mannichfach bedenklichen, ihm so werthen Obersten schweigen. Die Tante reichte Püttmeyern den Arm . . . Thiebold bedeutete, auf Paula und Armgart warten zu müssen. Die Tante bat ihn jedoch zu kommen; die jungen Damen würden nicht 83 ausbleiben. In der That erschien, als die drei Vorausgegangenen in einem fast im Styl eines klösterlichen Refectoriums angelegten, rings mit kunstvoll ausgelegten hohen Schränken und krystall- und silberbeschwerten Büffets versehenen Zimmer an ihren Stühlen standen, Paula, geführt von Armgart. Beide kamen wie aus der Welt der Märchen. Paula wie eine Fee, Armgart wie ein ihr dienender Elfe. Jene in heiterer Sicherheit, ahnungsvoll im Besitz ihres Reichthums und in der Fülle ihrer Gaben, sie ohne Anspruch auf Dank verschenkend. Diese der Erde angehörender, minder zuverlässig, eher wie das Licht des Mondes gegen den Strahl der Sonne gehalten. Beide hätten auf ihren schönen bleichen Häuptern Kränze tragen sollen, Paula von himmelblauen Winden, Armgart von grünem Epheu. Armgart klammerte sich an ihre Freundin, wie wenn diese das Geheimniß auch ihres Lebens hielte. Paula, selbst so hülfsbedürftig, selbst so schwankend bewegt von ihrem innerlich bangen, äußerlich zwar noch immer glänzenden, doch ungewissen Geschick, bewegt von ihrer stillen Liebe, bewegt von ihrem Naturlose, das sie sogar von dem, was ihr eben geschehen war, selbst nichts wissen ließ – sie schwebte sicherer dahin als Armgart, die fast mit scheuem Gewissen zur Erde blickte.
Das Mittagsmahl stand in seltsamem Gegensatz zu dem eben Erlebten. Suppe, Rothwild, Auerhahn, grünes Kraut und Kastanien – und hinter jedem Stuhl vielleicht – wer weiß! – ein Gespenst, ein abgeschiedener Geist! Vielleicht in einem Winkel des Zimmers, auf einem Fußsessel, mit der Trauerhaube, die Schwester des Kronsyndikus, Paula's längst verstorbene Mutter. Vielleicht Graf Joseph, der eben an einer alten, neuvergoldeten Rococo-Wanduhr die zufällig schnurrenden Gewichte aufzog. Und wer hätte nicht, außer sich vor Staunen, fragen mögen: Wie ist dir denn nun, du Heiligste deines Geschlechts? Wie 84 fühlst du dich denn nur? Was sahst du am gespaltenen Eichbaum? Wer predigte nur so laut? Kann das wirklich derselbe Mund sein, der vorhin ein wunderbares Ferngesicht erzählte und der jetzt so innig lächelnd den silbernen Löffel leert, wie wir alle, völlig harmlos von des Doctors bedauerlicher Abreise sprechend und sogar Armgart neckend, die »ein Buch über Philosophie zu schreiben scheine; denn so, wie sie sich seit einigen Tagen umgewandelt hätte, das könnte nur eine Gelehrte, die von Angelika soviel Mathematik gelernt hätte« –?
Thiebold war glücklicherweise der Mann, der jetzt über die schwierigsten Fragen wie über schwindelnde Brückchen hinwegschlüpfte, dabei jeden gleichsam niederfallenden Knäuel einer Bemerkung episodisch aufhob und ein seltenes Gemisch von geselligen Tugenden zur Bewunderung der Tante bot, die solchen Männerschlag in dieser Welt bereits für unmöglich gehalten hatte. Püttmeyer versank in ein stillbeschauliches Grübeln . . . starr sah er Paula an, verwechselte sein Messer mit der Gabel, nahm zum Braten zu gleicher Zeit Compot und Salat und beging all jene Diätfehler, vor denen ihn seine Verehrerinnen in Eschede so ernstlich beim Abschied gewarnt hatten. Thiebold hatte dabei, ganz nach Moppes' und Piter's Theorie, die Art, den Wein einzuschenken, als wär's Wasser. Da fand kein Nöthigen statt, kein Abwarten, ob ein Glas schon geleert war; wie er in sein Haar griff, um seinen Scheitel zu ordnen, ebenso leicht ergriff er die Flasche. – Die Tante fand das alles entzückend. Sie lebte auf in dem heitern Anblick, wie diese beiden Mädchen da wol ein halb Dutzend mal dieselbe Geberde machen und die Hand auf ihre Gläser legen mußten, um dem Einschenkenwollen zu steuern, während »Herr von Jonge« ebenso oft dann, ohne sich in seinen Reiseberichten über Canada, Paris, London und Kocher am Fall stören zu lassen, die Wassercaraffe ergriff und die 85 Wassergläser der Damen bedachte. Er ist allerliebst! sagte ihr zwischen Paula und Armgart hin- und hergehender Blick.
Nur Ein Diener konnte dabei bedienen; denn zur Vertretung der gräflichen Würde war beim Leichenbegängniß fast die ganze Dienerschaft abwesend und der neuhinzugetretene Dionysius Schneid aus Strasburg zeigte für ein unmittelbares Bedienen der Herrschaften zu wenig Geschick – –
Im Strom seiner Mittheilungslust und einer »bei dem Gefühl, mit Geistern zu Mittag zu speisen«, höchst natürlichen Aufregung gerieth Thiebold wiederholt auf Armgart's Aeltern. Er konnte diese Erwähnungen nicht länger zurückhalten. Bald hatte er vom Obersten eine entschlossene That, bald von der Oberstin eine überraschende Aeußerung zu berichten. Die Tante ermuthigte ihn, sich keinen Zwang anzulegen; diese Veränderung hatte stattgefunden: sie war durchaus geneigt zur Versöhnung. Ihre Sorge um Armgart wurde zu groß; im Stifte Heiligenkreuz konnte des jungen Mädchens Bleiben nicht sein. Sie hatte bisjetzt die schlechteste Stelle, jährlich nur zwanzig Thaler baar und kaum sechzig in Naturalien. Die Verhältnisse in Westerhof wurden zu schwankend; die Ansiedelung des Obersten in Witoborn, mit dem auf die Hedemann'schen Mühlenwerke gerichteten Plane, war vor der Thür; Onkel Levinus wurde je älter je grilliger; demnach sah Tante Benigna ganz gern, daß Thiebold ihre Schwester und ihren Schwager zugleich pries. Thiebold wurde von ihr nur immer Herr von Jonge genannt. In ihren auf Armgart gerichteten Blicken lag: Wie benimmst du dich nur heute wieder gegen diesen besten aller deiner Bewerber –?
Thiebold erzählte von Hedemann, von seiner Lebensrettung, von den Mühlenwerken und von Hedemann's Aeltern. Ich war in Borkenhagen – mit meinem Freunde Benno von Asselyn 86 zugleich, der – Sie wissen ja wol, in dem Dorfe da geboren und erzogen worden ist –
Wer? Geboren? warf die Tante lächelnd und fast verächtlich ein.
Ganz recht! verbesserte sich Thiebold. Wie kann ich vergessen – Mein Freund ist –
Ein Spanier ja wol? unterbrach den Einschenkenden Püttmeyer, den seine Freundinnen trotz seiner Verborgenheit au courant aller Verhältnisse und hervorragenden Persönlichkeiten der Gegend erhielten und den nun der Wein und die Geisterwelt seltsam anregten.
Das doch wol eigentlich nicht! berichtigte die Tante mit einem mysteriösen Lächeln. Sie mußte niederblicken auf die Schüssel, die eben herumgereicht wurde, weil sie aus Paula's Augen ein bittender Blick traf.
Ein prächtiger Spaziergang! fuhr Thiebold fort. Selbst im Winter! Wir suchten im Wald bei Borkenhagen, in den Vorgebüschen von Schlehdorn, erst den Finkenfang auf, dann die Wolfshöhe und einen großen dort befindlichen Ebereschenbaum, der in Benno's Jugenderinnerungen – übrigens wird ja nächstens dort die große Jagd stattfinden – eine merkwürdige Rolle spielt – Bitte, gnädigstes Fräulein, genirt Sie die Sonne –? Schon war's ein Strahl der abendlichen Sonne, welcher der Tante ins Antlitz fiel. Thiebold war aufgesprungen, um den Vorhang niederzulassen – Man bat, sich nicht zu incommodiren.
Püttmeyer wünschte gelegentlich den Tag der Jagd zu wissen. seiner Transparentbilder wegen . . . Wir schreiben Ihnen das, sagte die Tante und fuhr, zu Thiebold gewandt und zugleich ärgerlich über ein Erglühen Armgart's, als von Benno die Rede war, fort: Dann waren Sie gewiß auch auf dem armseligen Hof der 87 närrischen verwilderten Alten, der dicht beim Walde vor Borkenhagen liegt?
Allerdings! rief Thiebold, vom Fenster zurückkehrend.
Armgart aber fiel mit leuchtenden Augen ein: Armselig? Das war ehemals der schönste Bauernhof zwischen Borkenhagen und Witoborn! Die Ställe voll Vieh, dabei fünf Pferde und die Scheuern voll Korn! Auf dem Hof hat Benno reiten gelernt! Da hob ihn Hedemann zuerst aufs Pferd! Die Alten schenkten ihm sogar ein schwarzes Füllen! Wie ich im letzten Herbst hinkam und sie daran erinnern wollte, wiesen sie mir freilich die Thür. Aus dieser Mittheilung ersah man, daß Armgart in der Gegend ringsum zu hospitiren pflegte und gern den Bruder Gutentag machte.
Alte, verdrehte, abscheuliche Menschen sind's! rief die Tante. Ruchlose sogar!
Warum hast du sie nicht lesen und schreiben gelehrt? entgegnete Armgart.
Ich? Ich? Wie so ich? Soll das eine Anspielung auf – mein Alter sein? erwiderte die Tante und lächelte über die – Feinheit ihrer Bemerkung, ohne darum ihre zornige Aufwallung zu mildern.
Tantchen! bat Paula und reichte ihre schöne lange ovale weiße Hand über den Tisch zur gereizten Verlobten des Onkel Levinus hinüber, während Armgart's Antlitz glühte und ihre starren Lippen sich kaum regten, eine so absichtlich verkehrte Auslegung ihrer Bemerkung zu berichtigen.
Diese Menschen, fuhr die Tante fort, sind die starrköpfigsten Bauern, die nur je hier zu Lande gelebt haben! Gottesverächter sind sie geworden! Ich gebe zu, sie wurden schlecht behandelt –
Von einem Geistlichen! schaltete Püttmeyer, gar nicht mehr zaghaft, ein.
88 Nein, auch vom Landrath. ergänzte die Tante. Solcher Trotz dann aber auch gleich! Das kann auch nur bei uns vorkommen! Ich seh' und erleb' es ja täglich! Jetzt wieder der Streit um den Tanz im Finkenhof! Bitte, Herr von Jonge, was man Ihnen auch erzählt hat und was Sie auch in Borkenhagen – mit Herrn von Asselyn – Herr Benno heißt nur so, es ist sein Adoptivname – gesehen haben mögen, glauben Sie mir, diese Leute sind wie die Büffel! Und die Hedemanns von je die obstinatesten! Den künftigen Herrn Papiermüller nannte man schon vor Jahren Herrn Remigius Dickschädel!
Auf solche aus dem Munde der Tante, die ja selbst einen Kopf wie von Eisen besaß, überraschend genug kommende Worte, stand seit Jahren fest, konnte keine Einrede gewagt werden. Paula's Auge richtete sich auf Armgart, deren Inneres vor Parteinahme zu Gunsten Hedemann's und ihres an Hedemann's Namen betheiligten Vaters aufloderte. Die braunen Augäpfel gingen hin und her, die Lippen öffneten und schlossen sich, die zitternden Finger drehten aus dem frischen witoborner Weißbrot kleine Vierundzwanzigpfünder wie zu einem Bombardement auf alle Welt.
Gnädigstes Fräulein! wandte sich Thiebold zur Tante, ich weiß nicht, ob ich gut unterrichtet bin. Ich weiß nur so viel: Als Freund Hedemann nach Amerika ging, war das von den Aeltern ein Abschied auf ewig und Hedemann ließ zwei alte Leute in schönem Besitzstand zurück. Damals hatte der »so unglücklich geendete« Klingsohr, genannt der Deichgraf, die Ablösungen des Regierungsbezirks zu reguliren. Auch die alten Hedemanns wollten sich freikaufen. Auf ihrem Besitzthum haftete die Verpflichtung, dem Gutsherrn, zufällig dem Landrath, dem von seiner Frau her dieser Besitz angehörte, einen gewissen Theil des Ertrages – enfin, wie viel – kurz, ihm 89 regelmäßig zu zehnten! Zank hatte es schon um dieser Abhängigkeit willen genug gegeben; denn nicht einen Baum durften die Hedemanns abhauen ohne den Willen des Gutsherrn –
Das liegt in den Verhältnissen! sagte die Tante, ihrer Dorste'schen Patronatsrechte eingedenk.
Ich glaube das! Nun aber kam, nach einem gewissen Leo Perl, als Pfarrer ein gewisser Langelütje, der sich schon auf andern Pfarreien den schlechtesten Ruf erworben hatte und mehr Vieh- und Fruchthändler, als Seelsorger war –
Darüber ist allerdings nur Eine Stimme! gestand die Tante.
Die alten Hedemanns, erzählte Thiebold, immer jedoch forschend, ob er auch recht berichtet wäre, waren mit ihrem Gutsherrn in Spannung und bedienten sich des Pfarrers, um zu ihrem Ziele zu gelangen. Der neue Pfarrer erbot sich dazu aufs bereitwilligste. Die Hedemanns cedirten ihm in aller Form die Ablösung und gaben ihm die nicht unerheblichen Summen zur Realisation des Loskaufs. Gut, das Geschäft ist gemacht; die alten Leute, die froh sind, mit dem Landrath in keine directe Beziehung gekommen zu sein, bieten auch dem Pfarrer eine Erkenntlichkeit an. Er schlägt sie nicht aus. Er nimmt sich eine Kuh aus dem Stalle.
Und noch dazu die beste! schaltete die Tante ein. Sie wollte eine Versöhnung mit Armgart und begann nachzugeben. Er hat sie sich am Strick gleich selbst mitgenommen!
Inzwischen, fuhr Thiebold fort und schenkte wieder ein, indem er die schmollende Armgart fixirte, inzwischen ließen die alten Leute, die, wie hier ringsum fast alle, Geschriebenes nicht lesen konnten, doch einmal von einem hausirenden Juden die Ablösungspapiere durchsehen. Es war an einem Sonntag Vormittag. Beide, der alte Mann und die alte Frau, saßen bereits in Toilette, um zur Kirche zu gehen. Die Glocken läuteten. 90 In dem Augenblick studirt der fremde Rathgeber heraus, daß in den Papieren, in Worten geschrieben, eine viel kleinere Summe steht, als sich von den Hedemanns der Pfarrer hatte auszahlen lassen. Nicht wahr? Sie waren von ihrem Seelsorger um zweihundert Thaler und um ihre beste Kuh geprellt worden. Diese Menschen, von einer großen Verehrung vor allem, was geistlich ist, glaubten nicht dem Juden. Sie gingen mit ihrem Papier zum Kamp hinaus, um gleich nach dem Gottesdienst in der Kirche den Pfarrer selbst zu fragen. Da begegnet ihnen die Kutsche des Landraths. Hedemann's Vater grüßt und hält nickend sein Papier empor. Herr von Enckefuß läßt halten und fragt, was es gäbe? Die alten Leute tragen ihren Gegenstand vor. Der Hausirer steht in einiger Entfernung. Und jedenfalls merkte sogleich Herr von Enckefuß, was die Uhr geschlagen hatte. Um aber den Pfarrer zu schonen, fuhr er den Juden an, hieß ihn sich augenblicklich zum Teufel scheren – bitte um Entschuldigung! – und behauptete rundweg, der Schein lautete wirklich auf die Summe, die von ihnen der Pfarrer verlangt hätte –
Püttmeyer ergänzte: Es war gerade die Zeit, wo der Rittmeister aus Gutmüthigkeit und übermäßig nobler Gesinnung eine noch viel größere Unthat verborgen gehalten hatte –!
Die Tante setzte mit Rücksicht auf die noch immer finster blickende Armgart hinzu: Sein Herr Sohn ist dafür um so strenger! Der bringt ja alles heraus! Den Kirchenfürsten, den hat der junge Enckefuß auch mit verhaften helfen! Den Hammaker hat er auch entdeckt! Den Pater Sebastus hat er hierher überführt! Nur den Leichenräuber von St.-Wolfgang hat er noch nicht auftreiben können –
Diese Zwischenplauderei war zunächst dazu bestimmt, Armgart's gute Laune zu gewinnen. Dann fing aber auch die Tante 91 schon an, ihren Unmuth auf die Bedienung abzulenken. Sie hörte draußen sprechen, hörte die groben Tritte des die Speisen aus der Küche herzutragenden Dionysius Schneid und zischte um Ruhe. Paula begleitete die Rede und das Benehmen der Tante mit Blicken auf Armgart, die so viel sagen wollten als: Närrchen, sei doch lieb!
Nun hört' ich so! fuhr nach einer Discretionspause Thiebold fort. Die alten Hedemanns blieben in ihrer Sache zweifelhaft. Da der Hausirjude das Blinzeln des Landraths wohl verstanden und sich aus dem Staube gemacht hatte, gingen die alten Leute an die Kirche, nicht aber in sie hinein. Sie sahen von der Thür aus den Pfarrer im Meßornat am Altar stehen, wie er eben das Hochheiligste segnete; sie mußten vor innerm Groll umkehren. Mit dem tiefsten Zweifel in ihrer Brust vergruben sie sich in ihrem einsamen Kamp und ließen, anfangs vor Ungewißheit und vor Ahnung, dann vor sicherer Zuversicht, daß der Pfarrer sie betrogen hätte, mit der Zeit alles lässig gehen. Den Pfarrer anklagen? Ihn unglücklich machen, die Religion schänden –? Das ist diesen Leuten nicht gegeben. Sie bebauten noch ihr Feld, hatten auch noch Knecht und Magd; aber ein Trüb- und Tiefsinn kam über sie, der sie nichts mehr von der Welt hören und sehen lassen mochte. Noch einmal wagten sie zum Schulmeister zu gehen – aber sie bekämpften sich, da ihnen wieder die Scheu vor einem geweihten Priester kam, und kehrten am Schulhause um. So ging der alten Leute Lebensmuth hin. Sie ließen Hab und Gut in Verfall kommen. Einmal rief die alte Mutter Hedemann die Schulkinder an und ließ sich heimlich von denen die Urkunde vorlesen. Sie hörte nun leider die Wahrheit. Ein Betrug war's von zweihundert Thalern! Sie verschwieg ihn ihrem Alten. Zur Kirche ging keines mehr. Langelütje, den man meist nur in großen Wasserstiefeln sah, wie er auf 92 den Märkten hinter seinem Knechte stand, beim Fruchtverkauf, der hinderte sie darin auch nicht. So in Mistrauen und Unmuth kamen die alten Leute zurück. Sie entließen den Knecht, die Magd, bestellten ihren Acker nicht mehr, brachen ihr Holz am Wallheck nicht, ließen ihr Vieh sterben und verderben und behielten nichts, als was zum nothdürftigsten Unterhalt diente. Sie säen jetzt nur, was sie selbst brauchen. Jahraus jahrein besteht ihre Mahlzeit aus Bohnen, die sie in Wasser abkochen und über die sie Milch gießen. Nur zu diesem Bedarf werden die Kühe abgemolken –
Abgemistet wurde schon lange kein Stück Vieh mehr! ergänzte die wirthschaftskundige, streng realistische Tante. Alles verdarb! Sie zogen ein gefallen Thier aus dem Stall und ließen es einfach vorm Hofe liegen. Die Nachbarschaft machte dann dem Lärm der Hunde ein Ende, die sich um das Aas stritten. Nie brauchten sie noch Licht oder Oel; im Winter sitzen sie um den Feuerherd, den sie mit ganzen Bäumen heizen, die sie an ihrem Wall fällen, ins Haus hereinziehen, auf den Herd legen und nun langsam abschwehlen lassen. Oft liegt vom halbbelaubten Baume das eine Ende noch draußen im Freien, vom Schnee überschüttet –! Als sie in ihrer Kleidung so weit verfielen, daß sie die Lumpen mit Stroh umbanden, um sie vor dem Herabfallen zu schützen, legten sich die Nachbarn drein. Sie fanden zwei halb schon zu Kindern gewordene Menschen, die in innigster Uebereinstimmung mit sich selbst an ihrem Wahn festhielten, daß die Welt kein Vertrauen mehr verdiene und nichts überflüssiger wäre als Religion. Man zwang ihnen dann Beistand auf, eine Aufsicht, die dann und wann den Schmuz aus ihrer verfallenen Wohnung entfernt. Der Alte sitzt und raucht aus einer Hollunderpfeife, deren Spitze und Rohr und Abguß und Kopf er sich selbst geschnitzt hat und die immer kleiner wird, weil die paar 93 Zähne, die er hat, sie nach und nach fast ganz »aufmümmeln«. Taback ist sein einziger Luxus. Geld kennen sie nicht. Wer ihnen etwas liefert, Brot, das sie nicht mehr backen, Bohnen, die sie nicht mehr säen, den verweisen sie auf das, was noch ringsum auf ihrem Eigenthum wild wächst. Aber an dem Langelütje kam dann freilich alles heraus. Er sitzt im Jesuiten-Profeßhaus der Residenz des Kirchenfürsten. Wohl kamen bessere Geistliche; aber die alten Leute wiesen jeden ab, der sie auf ihrem verfallenen Hofe besuchte. Sie flüchteten zuletzt zur Kuh in den Stall, bis selbst unser Herr Norbert Müllenhoff müde wurde, auf dem brennenden Baumstamm am Herde zu sitzen und ihnen zu predigen. So fand – Hedemann seine Aeltern, als er im Herbste hier war! Natürlich hatte er dann mit dem Landrath Zank. Wie's jetzt mit den alten Leuten aussieht, weiß ich nicht – Die Leute leben, versteht sich, im Kirchenbann –
Wäre Monika zugegen gewesen, ihr flammendes Wahrheitsgefühl hätte ohne Zweifel ausgerufen: Gerade aus Liebe zur Religion, gerade aus Verehrung vor der größten Frage der Menschheit geschah dieser Abfall von ihren äußern Formen –! Und auch in Püttmeyer schürte der Wein und sein vor Jahren tiefgekränkter Denkerstolz den Ausbruch ähnlicher Empfindungen. In Thiebold wirkte Benno's Urtheil nach, der bei Erzählung dieser Verhältnisse gesagt hatte: Jetzt, Hedemann, versteh' ich, warum Sie die Bibel lieber lesen, als das Brevier – Armgart aber rief von ihrem Standpunkte: Ja, so muß man die Welt verachten lernen! Was hilft es, die schlechten Menschen anklagen? Sie wissen sich doch durchzulügen! Aber ärgern muß man sie und beschämen! Beschämen durch unser Unglück, das man sie zwingt mit anzusehen! Ich gehe doch noch einmal in Witoborn zum Bischof und bitte ihn, von diesen so großen, 94 so echt frommen und unübertrefflich vornehmen Menschen den allerdings nur zu gerechten Bann abzunehmen!
Man schwieg jetzt. Das Mahl war vorüber. Auch wurde die Tante von einem Anliegen des Dieners in Anspruch genommen. Der Diener flüsterte ihr in plattdeutscher Sprache. Er brachte das Gesuch des alten Kirchendieners Tübbicke, der draußen war.
Die Tante erröthete – aber »Herr, sprich nur ein Wort und meine kranke Seele wird gesund!« sagte der Blick, den sie auf Paula gerichtet. Diese bemerkte den Ausdruck eines der ihr schon bekannten Anliegen. Sie hörte das Leid des Alten, der um Hülfe für sein Enkelchen bat. Sie erhob sich. Ihre Hand zitterte . . . die blauen Augen wurden tiefdunkel. Aus den Falten ihres weiten schwarzseidenen Kleides nahm sie einen kleinen Rosenkranz von einfachen bunten Steinkügelchen, betete einen Augenblick leise, während alle ihrem Beispiel folgten, küßte das Amulet und reichte es hin. Armgart ergriff es in leidenschaftlichster Erregung und stürzte hinaus damit.
Die Tante nahm Püttmeyer's Arm, um sich von ihm in das grüne Wohnzimmer führen zu lassen. Sie sah im Gehen auf die Uhr. Es war schon über vier. Bereits dunkel war es geworden und der Diener sagte, daß bereits auch der Wagen vorgefahren wäre für Eschede. Thiebold hatte Paula geführt. Eine drückend feierliche Stimmung umspann die kleine Gesellschaft, eine Stimmung, die sich mehrte durch Armgart's Zurückkunft. Der Alte war zu glücklich! rief sie. Das Kind wird genesen!
Paula war weiß geworden wie eine Wachskerze. Sie riß sich los. Sie hatte Thränen im Auge und verschwand. Gern wäre Armgart ihr nachgefolgt, aber die Tante befahl, daß sie bliebe. Auch der Kaffee kam, den Armgart in silberner Maschine zu machen und dann zu credenzen hatte. Die Tante sank in 95 einen der ringsum stehenden grünseidenen Fauteuils. Es war ihr »Nick-Viertelstündchen« gekommen.
Und Püttmeyer sollte hier nun so, nach solchen wunderbaren Eindrücken, seinen ganzen Menschen zurücklassen? Er verzweifelte fast. Doch er mußte nach Eschede –! Der Weg war zu weit und auch dort wohnten Seelen, die er nicht ängstigen durfte! Mochte er auch nach allem, was er heute hier erlebt, von diesen Seelen fühlen wie Armgart, als sie im letzten Herbst im Nachen zu Angelika gesagt hatte: Eine derselben würde als geflügelte Kaffeekanne dem Fegfeuer zufliegen, eine andere als geflügelter Strickstrumpf! er mußte sich losreißen. Auch sein Hund und seine Katze mochten nicht wenig nach ihm kratzen und winseln. Lassen Sie sich nur recht oft bei uns sehen! sagte ihm die Tante schläfrig und schon wie zum Abschied. Geben Sie Ihr Vergrabensein auf, Herr Doctor! Solange wir auf Schloß Westerhof noch hausen werden, sind sie uns immer willkommen! Adieu, Herr Doctor! Grüßen Sie in Ihrem nächsten Brief – die – die gute – liebe – Angelika – Benigna wurde bereits in ihrer Art nicht minder somnambul und schlief schon halb. Laurenz Püttmeyer stand da, wie ein vierzigjährig Kind. Er sah sich um, um beim Abschied nichts zu vergessen. Es that noth, daß Thiebold ihm in die Hand gab, was er mitzunehmen hatte, seinen Hut, seine Handschuhe, von denen sich nur einer in seinem Frack, der andere noch drüben im Speisezimmer befand, und nun empfahl er sich wirklich. Thiebold und Armgart, die sich ihren noch im Vorzimmer liegenden Pelz überwarf, begleiteten ihn. Schon hörte man das Schellenklingeln der Rosse. Schon war der Schlag geöffnet. Man hatte noch dem Gast vorsorglich ein heißes Kohlenbecken in den Wagen gestellt. Man gab ihm noch eine Wildschur des verstorbenen Grafen Joseph zur Benutzung mit. Püttmeyer war im Losreißen von dem 96 merkwürdigsten Tage seines Lebens in einer Verwirrung, die ihm sogar den Streich spielte, daß er ein splendides Trinkgeld statt dem Diener Thiebolden in die Hand drückte. Und Thiebold nahm den Thaler und sagte sich mit verklärter Rührung: »O das kann vorkommen! Bei gewissen Stimmungen ist dem gebildetsten Menschen nichts unmöglich!« Er gab das Geld feierlich dem Diener.
Schon rollte der Wagen dahin und Thiebold, der in bloßem Kopf stand, war nicht wenig geneigt, Armgart zum Hinaufführen den Arm zu bieten. Schon aber war diese vorausgesprungen. Und Thiebold, als er langsam dem flüchtigen Reh nachfolgte, dachte: Jetzt endlich findest du wol den langersehnten, immer vergebens gesuchten Augenblick, sie allein zu sprechen und jene Geständnisse »an den Mann zu bringen«, die dir Bonaventura in der Beichte anbefohlen hat –! Er faßte sich Muth, obgleich so vieles, so vieles in Armgart's Benehmen, gegen ihn sowol wie gegen Benno, anders geworden war.
Oben befand sich noch die Tante unter dem magnetisirenden Einfluß ihrer Verdauung. Sie trank zwar den von Armgart bereiteten Kaffee, der bekanntlich wach erhalten soll. Ihr aber machte er die Wirkung, im Lehnsessel Reden zu halten, die etwa in folgender anakoluthischer Verwickelung sich vernehmen ließen und endlich gänzlich abbrachen: Nun, lieber Herr von Jonge! Nun aber, bitte, bitte, lieber Herr von Jonge, nun spielen Sie uns auch etwas –! Ich hätte doch den alten Tübbicke noch etwas fragen sollen – Bitte, Herr von Jonge –! Armgart! Noch eine Tasse vielleicht, Herr von Jonge –? Die Schlüssel zum Archiv jeden Sonntag aus der Hand lassen, nein, das geht nicht, Herr von Müllenhoff – wollt' ich sagen, Herr von Jonge –! Bitte, Mozart –! Das Kind von dem jungen Tübbicke –! Bitte, Herr von Jonge, spielen, spielen –! Nein, 97 man muß sagen, Müllenhoff geht in vielem zu weit –! . . . Ich liebe so die Musik –! Die Jagd – Transparente – Bilder von . . . Wenn nur unsere Herren bald gesund und wohlbehalten von Neuhof zurückkommen! . . . Die Musik! . . . Was sie nur erlebt haben mögen – am Düsternbrook – Bitte, Herr von Jonge! – Die – Die – Sona – te – Pathé–tique – von van – van von de Jonge –
Damit war das Gangliensystem der Tante vollständig bezwungen. Sie entschlief, ohne ihre inhaltreiche Rede ganz beendet zu haben.
Die Sonate pathétique zu spielen würde sich Thiebold in seiner Vaterstadt nicht getraut haben; die Gegenwart einer Johanna Kattendyk, einer Josephine Moppes, einer Lisette Maus, einer Betty Timpe hätte ihn unrettbar dem »Fluche der Lächerlichkeit« preisgegeben. Aber in diesem – hochadeligen Hause, dem, wie in vielen Tausenden solcher katholischen Herrensitze Europas, principiell die Bildung des 19. Jahrhunderts halbwegs fremd bleibt, gestattete man ihm jede freie Variation über das große Meisterwerk, jede Zuthat aus den seinen Fingern geläufigern Cramer'schen Etuden. Thiebold spielte wirklich etwas, was die Sonate pathétique sein sollte. »Ein Genuß für Götter!« sagte er sich mit Bescheidenheit. Er war »in jeder Beziehung froh«, daß wenigstens Benno fehlte.
Armgart stand an der Kaffeemaschine. Endlich blies sie die Flamme aus. Es wollte nicht so schnell damit gehen, wie sie wollte. Thiebold brach mitten in seinem schönsten ad libitum ab und sprang hinzu. Mund gegen Mund gerichtet, endete die Flamme.
Thiebold seufzte und wurde kühner und kühner durch das Bewußtsein, daß sich hier einer gemüthlichen Familienscene ein beliebiger Rahmen geben ließ. Die Tante schlief. Paula blieb 98 fern. Sollte er wieder spielen? – Fräulein! sagte er leise. Ich habe Ihnen durchaus eine Mittheilung zu machen –
Armgart betrachtete ihn kalt und doch war ihr die »Liebe« schon lange ein Begriff geworden, so klar, so verständlich wie sonst der – Glaube – Sie fürchtete, Thiebold wollte von seiner Liebe sprechen – Sie wollte sich eben deshalb gleichgültig zeigen. Spielen Sie! sagte sie. Ich lese indessen . . .
Nein, ich muß Sie sprechen! betheuerte Thiebold mit gedämpfter Stimme. Ein Befehl in der Beichte verlangt es! Der Domherr will es!
Armgart maß Thiebold mit weitgeöffneten Augen.
Wirklich, Fräulein Armgart, ich schwöre ihnen das zu beim ewigen Heil meiner Seele!
Auf so hochheilige Versicherung hin winkte Armgart leise mit der Hand, deutete auf die Thür und ging mit Seufzen in den Vorsaal. Ein Blinzeln des Auges sagte, Thiebold sollte folgen. Nehmen Sie Ihren Mantel, Herr de Jonge! sagte sie, sich im Vorsaal wendend und auf des Zögernden Nachkommen wartend.
Thiebold blickte erstaunt auf sie nieder. Auch sie ergriff ihren Ueberwurf und hüllte sich in ihn ein mit Thiebold's Hülfe. Dann drückte sie ihm seinen Hut in die Hand. Sie ging entblößten Hauptes zum Corridor hinaus.
Wohin führt sie dich denn? sagte sich Thiebold mit gesteigertem Befremden.
Draußen war die vom Hofe hereinfallende Beleuchtung auch am Tage schon eine immer halbdunkle. Jetzt war der Abend hereingebrochen und in den langen Corridoren hätte man sich als Fremder ohne Licht nicht mehr zurecht finden können. Führt sie dich auf ihr Zimmer? sagte sich Thiebold, als sich Armgart links gewandt hatte und in einem dunkeln Gange voranschritt, auf welchen in klösterlicher Weise eine Menge Zimmer, jedoch 99 größtentheils an den Thüren mit Hirschgeweihen geschmückt, hinausgingen. Sie kamen an Zimmern vorüber, die der Tante und Paula gehörten, an Lauftreppen, die für die Dienerschaft bestimmt waren, an einem der vier Eckthürme, wo auch Armgart ein eigenes Wohnzimmer hatte. Sie wohnte halb im Stifte, halb hier. Beide Wohnungen schmolzen auf so eigenthümliche Weise zusammen, daß sie im Grunde nur eine bildeten. In Heiligenkreuz lag oft ihre Schere und hier ihr Fingerhut. Dort arbeitete sie an der bewußten Cigarrentasche, hier an dem Aschenbecher. Dort lag zuweilen ein Schuh oder ein Strumpf, der mit einem andern, welcher sich hier befand, erst ein Paar bildete. Seit Weihnachten erst besaß sie, infolge des entschiedensten Verlangens und nach mannichfacher Prüfung und Berathschlagung, Schiller's Werke. Da sie darin Tag und Nacht las, so lagen sie halb in Heiligenkreuz, halb hier in ihrem Thurm. Wenn sie zwischen Heiligenkreuz und Westerhof hin- und herfuhr oder auch zu Fuß ging, begleitete sie ein Bündel von Sachen, das sie ebenso hin- und herschleppte. Oft wurde sie dafür von der Tante die »Trödelliese« genannt.
Als aber Armgart auch nicht beim Eingang in ihr Zimmer anhielt, sagte Thiebold stehen bleibend: Ja aber, mein Fräulein, was denn nun –? Er mußte seine Verwunderung abbrechen und folgen . . . Armgart eilte voran . . . Sie war tief in sich verloren und schloß nur zuweilen gelegentlich ein offen stehendes, in den Hof führendes Fenster. Die Wanderung war jetzt rechts gegangen in einen andern Corridor des großen Geviertes. Hier kamen die Zimmer des Onkels, sein Laboratorium . . . Auch an diesem – wo zuweilen der Stein der Weisen gesucht wurde und in der Retorte sich wol als Resultat nur ein Pfund Berliner Neublau ergab, dessen Anfertigung ebenso viel Thaler kostete, als Groschen hingereicht haben würden, diesen Gegenstand in Witoborn 100 beim Krämer zu kaufen – an zwei Ritterharnischen, die, vor des Onkels Thüre Wache haltend, im Dunkeln gespenstisch genug aussahen, ging Armgart vorüber, sprang dann eine Treppe hinunter, wandte sich im Erdgeschosse einem neuen Gange zu und führte Thiebold an den im untern Stockwerk befindlichen Bureaustuben, am Archiv, an der Bibliothek vorüber zu einer hohen, den Eingang in die Schloßkapelle bildenden Thür. Wohl gingen an ihnen Mägde, Schreiber vorüber, wohl sah man über den großen, mit Sandsteinquadern gepflasterten, jetzt mit zusammengeschaufeltem Schnee bedeckten Hof hinweg im Eingangsportal wieder die hier schon gewohnten Hülfesuchenden: Armgart hielt sich bei niemand auf und huschte in die Kirche, die dem Bedürfniß der frommen Bewohner und Dienerschaft des Hauses immer offen stand.
Dieser Raum war nun erst völlig dunkel. Armgart blieb an der Thür stehen, ließ den vor Erstaunen sprachlosen Thiebold eintreten, legte den hohen Thürflügel wieder an und ging durch den schmalen Gang der Sitzreihen voraus zum Altar. Dort knixte sie, wie in der Ordnung, vor dem Erlöser, und sagte zu Thiebold, der auf zwei Schritte hinter ihr stand: Nun, Herr de Jonge! An diesem heiligen Orte – Was ist es, was Sie mir zu sagen haben!
Mein Fräulein, stotterte Thiebold, befremdet von so viel Feierlichkeit und befangen durch die Einsamkeit des weihrauchduftenden Ortes, Sie überraschen mich! In der That –
Herr de Jonge! Sie wissen noch nicht, daß ich mein ganzes Leben unter die Befehle der allerseligsten Jungfrau gestellt habe! Ihr will ich auch vertrauen, was Sie auf dem Herzen haben! Von ihrem Rath hängt all mein Thun, all meine Entschließung ab. Was wollen – oder was sollen Sie mir mittheilen?
Armgart hatte sich vor diesen feierlichen Worten auf die 101 erste Bank dicht am Aufgang zum Altar niedergelassen und kniete.
Allmählich gewöhnte sich Thiebold's Auge an das Dämmerlicht der auch am Tage wenig erhellbaren Kapelle. Die heiligen Gegenstände, die er ringsum erblickte, milderten die Weltlichkeit seiner Absichten, obgleich diese an sich »die reellsten« waren und nichts Geringeres bezweckten, als Armgart seine ganze Verhandlung mit Bonaventura zu erzählen.
Thiebold sah nun, daß die Betende zitterte. Den Kopf hatte Armgart aufs Pult gelehnt. So lag sie wie eine dem Himmel Angehörige. – Thiebold hätte sich vor ihr selbst niederwerfen mögen; es lag in ihrem exaltirten Wesen ein so bestrickender Reiz, so viel Zauberisches in dieser gleichsam vor sich selbst entfliehenden und sich mit Gewalt mäßigenden und doch erglühend genug, man sah es ja, vorhandenen Leidenschaft, daß Thiebold nur durch die geringe »höhere Ausbildung seiner Gefühle« verhindert wurde, seiner begeisterten Stimmung die einer solchen Situation entsprechenden Worte zu geben. Fräulein von Hülleshoven! sagte er, sich dennoch einen Schwung gebend. Die unvergeßliche Reise von Drusenheim – die Reise durch die Siebenberge – diese Nacht dann mit Extrapost –! O ich erinnere mich nie etwas Aehnliches – oder ich erinnere mich allerdings – oder Sie vielmehr erinnere ich – das ist nämlich der bewußte Gegenstand – an den Moment, wo ich Ihnen gegenübersaß und Sie mir die Hand gaben – Wissen Sie noch?
That ich das? sagte Armgart und blickte die neben dem Erlöser stehende Madonna an, als läse sie erst alles, was sie zu sprechen wagen dürfte, von deren Zügen ab.
Das heißt, sagte Thiebold und rückte auf der Bank etwas näher, das heißt, liebenswürdigstes Fräulein, Sie setzten damals ohne Zweifel voraus, daß Ihnen –
Ich setzte nichts voraus! sagte Armgart. Ich war in einem Zustand völliger Betäubung.
Einmal doch – ging Thiebold seinem Ziele, Bonaventura's Auftrag zu erfüllen, näher – einmal doch schienen Sie völlig und sehr, sehr zurechnungsfähig zu sein – als Sie nämlich mit Innigkeit mir oder vielmehr – ja mein Freund und ich – Sie wissen – Benno von Asselyn – liebt Sie und auch ich – ich kann bei Gott und auf Ehre! ich kann allerdings nicht leugnen –
O nicht das, Herr de Jonge! hauchte Armgart und hielt die Hand wie zur Abwehr.
Hätt' ich eine Ahnung gehabt, daß mein Freund Sie in sein Herz geschlossen hat, nie würde ich Ihnen soviel – Beweise meiner – Hochachtung gegeben haben, meiner aufrichtigsten – Fräulein, ich kann wol sagen, stellenweise wahnsinnigen –
O nicht das! Nicht das! wiederholte Armgart mit schmerzlich-ernstem Aufblick.
Sie kennen die Liebe nicht, diejenige, mein' ich, die Ihr Anblick in einem – Männerherzen – entzündet, in einem Herzen, das im Stande ist – wie gesagt – einem Freunde zu Liebe selbst die schmerzlichste Entdeckung seines Lebens –
Was befahl Ihnen der Domherr mir zu sagen? unterbrach Armgart.
O mein Fräulein! O ich bin zu tief beschämt! Im Wagen damals – glaubten Sie, leugnen Sie es nicht, daß Benno – er, er Ihnen gegenübersäße! Ja, in der »Verschwiegenheit des Dunkels« ergriffen Sie – Ihre Hand wenigstens, Ihre Handschuhe waren es – die Hand Asselyn's, drückten diese voll Innigkeit, ja es fehlte nicht viel, was ich dem Domherrn nicht einmal sagte – ich beichtete ihm nämlich meinen Betrug – daß nämlich Ihre Hand die seinige – ans Herz zu drücken 103 vermeinte – worauf – Wie gesagt aber – Sie waren im allerstärksten Irrthum! Nämlich der von Ihnen Beglückte war ich –! Und, weit entfernt nun, mein Fräulein, dem Glück eines von mir aufrichtig geschätzten Freundes – oder vielmehr eines meiner »besten, allerbesten« – »Bekannten« – entgegenzutreten, möcht' ich nur eine Antwort auf die Frage haben: Soll ich – nicht das aufrichtige Geständniß machen, mein angebetetes, liebenswürdiges Fräulein, über das, was in jener Nacht zwischen uns allen dreien vorgefallen ist, soll ich es ihm nicht sagen, – aufklären –?
Nein! rief Armgart . . . Nein! wiederholte sie, und noch einmal sprach sie mit fester Stimme: Nein!
Thiebold wußte nicht, wie ihm geschah. Er mußte sich vor Schrecken über diese leidenschaftliche Ablehnung unwillkürlich umsehen. Ich soll nicht –? stotterte er.
Nein! war die wiederholte Antwort, die sie nur abbrach, weil am Tabernakel hinter dem Altar plötzlich ein Geräusch gehört wurde. Es schien eine Thür gegangen zu sein.
Dennoch nahm Thiebold nach einigem Aufhorchen die Rede wieder auf und war sogar geneigt, in sein Erstaunen den Vorwurf der Undankbarkeit gegen Benno zu mischen – »von ihm selbst sollte allerdings keine Rede mehr sein« – Aber Fräulein, Sie misverstehen mich! Oder vielmehr im Gegentheil – Der Domherr wünscht, daß ich die Wiederherstellung der Wahrheit und Benno's Glück befördere! Er selbst will es übernehmen, dann Benno zu sagen –
Nein! Nein! Nein!
Aber ich beschwöre Sie – soll denn alles, was gewesen ist, geradezu von jetzt an ausgelöscht sein –?
Ja!
Die Fahrt durch die Berge gar nicht stattgefunden haben –?
104 In ihren Nebenumständen nicht!
Benno glaubt aber in Ihrem Herzen entdeckt zu haben –
Nichts soll er glauben!
Das ist ja geradezu fürchterlich! Ich habe ja mit Benno ein ganz freundschaftliches Abkommen getroffen, daß blos Ihre eigene Entscheidung es schließlich bestimmen soll, wer von uns beiden –
Nun sprang Armgart auf. Ein Ton war beiden zu gleicher Zeit vernehmbar geworden, der ganz in der Nähe dem Schließen eines Schlüssels oder dem Zufallen eines Schlosses entsprach. Da ist ja jemand! rief Armgart mit erstickter Stimme. Und schon war Thiebold aufgesprungen. Mit drei Sätzen war er auf der Erhöhung des Altars und starrte abwechselnd auf die beiden Vorhänge, die zur Seite hingen.
Hinter dem Altar war's! rief ihm Armgart nach.
Thiebold hob links die rothen Vorhänge auf . . . Er sah den Raum, der die Sakristei bildete . . .
Wer ist hier? rief er mächtig und wild gereizt, wie er war, in das Dunkel hinein.
Armgart, bei aller Angst mit schnell gefaßtem Entschluß, sprang an den zweiten Vorhang, als wenn ihre schwache Kraft einen hier Durchschlüpfenden zurückhalten könnte.
Auf Thiebold's Rufen folgte keine Antwort. Deutlich aber vernahm man immer noch ein polterndes Geräusch, das die Anwesenheit irgendeines lebendigen Wesens bestätigte.
Es wird eine Katze sein! sagte Thiebold endlich mit dem ganzen, überströmenden Ausdruck seiner Wehmuth, während sich Armgart bereits in gleicher Stimmung auf einen »Geist« vorbereitet hatte. Sie stand starr und hielt krampfhaft den Vorhang in ihren Händen fest.
Thiebold ging im Dunkeln mit wiederholtem: Wer ist hier? um die Hinterwand des Hochaltars herum.
105 Stoßen Sie sich nicht! rief Armgart – mit elegischem Schmelz. Dort steht Schrank an Schrank . . .
Es waren die Schränke zur Aufbewahrung der Opfergeräthschaften und Meßgewänder.
Thiebold kam auf der andern Seite Armgart entgegen und versicherte, nichts gesehen zu haben. Er ging dann noch einmal zurück. Armgart folgte ihm sogar. An einer Thür, die zum Archiv führte, rüttelten beide. Sie war verschlossen. An den Schränken rüttelten sie. Alles war unversehrt. Als beide auf der andern Seite wieder herauskamen und Thiebold das Erstaunen über Armgart's Erklärung und ihre den beiden Freunden nun schon während ihrer ganzen Anwesenheit in dieser Gegend bewiesene Kälte in feierlichstem Ernste wieder aufnehmen wollte, Armgart sich ihm entzog und fast entfloh, wurde die Aufmerksamkeit auf ein anderes Geräusch gelenkt, das sich jedoch leichter erklären ließ. Peitschen knallten, Schellenbehänge von Rossen klingelten, alle Hunde des Schlosses bellten. Sie kommen von Neuhof zurück! rief Armgart wie erlöst.
Jetzt hätte Thiebold viel darum gegeben, wenn die Rückkunft des Onkels und Terschka's sich noch um eine Viertelstunde verzögert hätte. Sich selbst gab er auf; nur in der That die Liebe zu seinem Freunde hieß ihn noch reden. Er hatte schneidende Vorwürfe, bittere Vermuthungen auf seinen Lippen.
Im ganzen Schlosse wurde es mehr und mehr lebendig . . .
Kommen Sie! rief Armgart. Sie sind's! Damit drängte sie zur Thür.
Die Rückkehrenden waren es in der That, und Thiebold hatte sogar eine Ahnung, Benno und Bonaventura würden mitkommen; ersterer vielleicht um ihn abzuholen und auf seinem Heimgang nach Witoborn zu begleiten. Er konnte Armgart nicht zurückhalten, nicht um Aufklärung bitten, keines seiner 106 aufgeregten Gefühle weiter aussprechen. Schon gingen im Schlosse auf allen Seiten die Klingelzüge. Man hörte das Anfahren der großen vierspännigen Kutsche, des Staatswagens der Dorstes, und einer zweispännigen kleinern, für Terschka und Benno bestimmten.
Thiebold, mit äußerstem Schmerz das Verschwinden einer schönen Lebenshoffnung wie für immer fürchtend, hätte wenigstens nur noch Armgart's Hand ergreifen mögen – und er that dies auch und hielt sie fest und bat und flehte um Aufklärung.
Lassen Sie! sagte Armgart. Ihre Ablehnung war fast verletzend, beleidigt sogar. Sie war plötzlich wie zur Jungfrau gereift.
Aus allen seinen Himmeln gestürzt, von Armgart's Kälte wie mit Eisesluft angeweht, folgte Thiebold mit langsamem Schritt.
Im Hofe – da war es lebendig. Die Hunde sprangen und rissen an den Ketten, an die sie zur Nacht gelegt wurden. Laternen wurden emporgehalten. Hin und her rannten die mitgekommenen Diener. Mit Lichtern kam der Diener, der bei Tisch servirt hatte, von der Stiege herunter und rief nach dem neuen Hausknecht, den niemand bemerken konnte.
Vorm Portal hielten die Wagen. Schon standen in der großen Eingangsflur, sich aus ihren Pelzen herauswickelnd, in schwarzen Fracks und weißen Halsbinden und Trauerhandschuhen der Onkel Levinus von Hülleshoven, Baron Wenzel von Terschka und in der That auch Benno.
Bonaventura fehlte. Es ließ sich annehmen, daß er auf Schloß Neuhof, im Trauerhause, bei seinem Stiefvater zurückgeblieben war.