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Friede! Linder, sanfter, himmlischer Friede! Du, der du Stirnen kühlst, die vom Kampf des Lebens noch erglühen, lindernden Balsam träufelst auf Herzen voll Kummer – deine heiligsten Tempel baut Mutter Natur –! Doch segnest du auch jedes bescheidene Dach, wo das Echo des schallenden Marktes verhallt, wo der Pendelschlag der Uhr – fernklingendes Schärfen der Sichel Saturn's! – uns nur in die grünen Matten versetzt, in die zeit- die raumlosen, die Paula's geschlossenes Auge erblickt! Segnest dem ermüdeten Wanderer sein Lager mitten auf Landstraßen! Segnest einem zum Tod ermatteten Krieger noch am Abend der verlorenen Schlacht, unbekümmert um des Siegers Ueberfall, mitten auf dem Weg seiner Triumphe, die Schlummerstätte! Zahllos sind die Wohnungen des Friedens selbst noch auf dieser streitbewegten Erde.
Traulicher jedoch spinnt sich nicht die Spinne in ihr Netz, als sich Frieden zu zaubern die Liebe versteht. Glückliche, die erlaubte Liebe? Die sieht sich noch zuweilen um und beobachtet die Welt, ob sie auch bei so viel Glück noch steht, beobachtet die Menschen, ob sie auch neidisch sind. Aber die ungestandene, die noch verschwiegene Liebe hat Ohr und Auge ganz verloren. Sind da Sterne vom Himmel gefallen, sind Thürme eingestürzt, war 92 ein Erdbeben – indessen der Lampe milder Schimmer das Antlitz der Geliebten beschien, indessen die Weiße ihrer Hand wetteiferte mit den Spitzen, an denen sie stickte – das Ohr hörte nichts davon. Schwirrte aber ein Käfer in ihrer Nähe oder fiel eine zierliche Rolle aus ihrem Nähtisch zu Boden – das sind dann Weltbegebenheiten!
So in traulicher Stille und Verlorenheit der Gedanken saß Bonaventura bei Paula während dieser Stunden . . . Sie waren heute nicht allein – Tante Benigna kehrte beiden im grünen Zimmer den Rücken und schrieb und las an einem geöffneten Schreibbureau.
Sollte Armgart wirklich zur Jagd sein? Und: Wenn nur kein Unglück geschieht –! Das waren die beiden einzigen Worte, die, viertelstündlich wiederholt, die Liebenden störten.
Seit vorgestern Abend hatte Bonaventura den Weg zur Erde nicht mehr zurückfinden können. Er schwebte hoch in Lüften. Irdische Verpflichtungen gab es nach allen Seiten hin, nach Schloß Neuhof zur Mutter zu gehen, nach Himmelpfort zu Klingsohr, es drängten Briefe und geschäftliche Mahnungen, auch die Zumuthungen Müllenhoff's, seines polternden Wirthes; Sorge drückte ihn um Benno, auf dessen dunkles Leben des Onkels Brief so seltsam neue Streiflichter hatte fallen lassen, auch ein längst bezweckter längerer Besuch bei Hedemann, alles drängte auf ihn ein – aber er entschied sich für nichts, er entschloß sich zu nichts, es zog ihn nach Westerhof.
Gestern gegen Mittag hatte Paula die Vision von den Flammen gehabt. Er sah und hörte ihr angstvolles Ringen gegen eine unheimliche Anschauung und mußte sie doch verlassen, da sie der Ruhe bedurfte, gefoltert von den Bildern, die Paula gesehen. Es waren Bilder des Brandes und der Zerstörung, Bilder, die ihn an seine Beichtgeheimnisse, seine stummen, schweren Bürden 93 erinnerten – Bürden, deren er sich nicht entledigen durfte ohne andere anzuklagen. Sprechen durfte er wol: Terschka ist mir verdächtig! Oder: Wenn Nück etwas im Schilde führte! Das war aber auch alles. Mehr zu sagen war ihm nicht gestattet; denn bei genauerem Hinweis wußte sogleich jeder, er stellte Beichtbekenntnisse bloß.
Der Tag war so öde hingegangen, so einsam. Sein Herz klopfte. Wem sollte er sich vertrauen? Bei wem Beruhigung suchen! Ziemten seine Empfindungen dem Priesterherzen? Und hätte er sich vielleicht auch gegen Benno, der selbst litt, aussprechen dürfen, er räumte dem Stifter des Zölibats, Gregor VII., ein, daß kein Gefühl uns in der That mit größerm Egoismus erfüllt, als die Liebe. Doch, setzte er hinzu, vielleicht nur die ringende, die kämpfende, nicht die glückliche Liebe! Auf seinem Zimmer schloß er sich ein und las in seinen mitgebrachten Büchern, erst im Augustinus, dann in seiner geliebten »Trutz-Nachtigall«; er schrieb auch selbst in sein »Sünden-Brevier«, wie er ein kleines Büchlein seiner geheimsten Gedanken nannte:
Ich kann es nicht sagen – was jeder doch weiß! Ich kann es nicht tragen – und trag's doch so heiß! Ich kann es nicht finden – was überall liegt! Ich kann es nicht binden – und hab's doch besiegt! Ihr Sterne behütet's? Das dank' ich euch nicht! Dich schelt' ich, o Mond, der sein Schweigen nicht bricht! O Sonne, o Sonne! Mit strahlender Miene Sag' du der Welt, welcher Königin ich diene! |
So im Lied sich tröstend und erhebend und voll Ahnung in den Frühling sich versetzend und in Wonneschauern schon die erste Lerche erblickend, die im Felde aufsteigt, wirbelt, immer höher und höher sich schwingt, schrieb er auch heute in erster Morgenfrühe:
94 Lerche, schwebst im blauen Feld Vöglein, Vöglein, wüßtest du, Wie in deine Triller sich Wüßtest du, was alles wir Ach, du stiegest erdenfern! |
Aus seinem Capitel kamen dann Briefe – Anfragen, ob er nicht eine Mission nach Wien übernehmen wollte zur Begrüßung des dort erwarteten Cardinals Ceccone, ob er auch seine Stimme zu diesem Protest und zu jenem Begehren mitgäbe. Es kamen Müllenhoff's Exercitien und – die lächerlichste Scene von der Welt. Schon wieder hatte man dem Pfarrer von St.-Libori einen Streich gespielt, schon wieder an seiner Thür ein Neugeborenes ausgesetzt, diesmal sogar ein Lebendiges, kein Kind, sondern ein frischgeworfenes Kätzchen, das mit einem Häubchen und wie ein Wickelkind eingeschlagen und befestigt bei erster Morgenfrühe in einem Korb vor seiner Hausthür wehwinselte . . .
95 Erst in dem darob entstandenen Lärmen erfuhr Bonaventura, daß diese Verspottung bereits neulich vorgekommen war. Er suchte den Pfarrer zu trösten, der diesmal kleinsilbig wurde und der Kathrein, dem alten Tübbicke und den Hausangehörigen das Toben und Androhen mit den Gerichten verwies. Tübbicke versicherte dabei aufs bestimmteste: Es kommt nicht von der Schmeling. Bonaventura erfuhr, daß man für diese Streiche eine Hebamme im Verdacht hatte, die Müllenhoff öffentlich des »Teufels Großmutter« genannt haben sollte. »O brächte doch der Cardinal Ceccone«, stöhnte Müllenhoff, seinen Zorn mit einem Stück saftigen Schinkens beim Frühstück hinunterwürgend, »o brächte er doch eine großmächtige Kette von einigen hundert Meilen im Umfang, daß man unsere deutsche Wildniß wieder an Roms Gesetz und Regel binden könnte! Frau von Sicking sagte mir gestern, und eine junge Dame, die soeben aus der Residenz des Kirchenfürsten bei ihr eingetroffen ist, bestätigt mir's, daß die Curie Sie entsenden will, Hochgeehrtester, den Cardinal zu begrüßen – Gewiß, Sie werden einer solchen Ehre und Gelegenheit, bald Bischof in partibus, mindestens Weihbischof zu werden, nicht ausweichen! Die ganze germanische Kirchenprovinz bittet für Sie, trotz Ihrer Jugend, um das Pallium, wenn Sie ihr erwirken: Petri beide Schwerter! Oder wenn nur das eine, doch dies auf beiden Seiten geschliffen –!« Daran reihten sich dann einfach, wie der Pfeffer zum Schinken, in Müllenhoff's Reform: »Bischofsrecht über jedes Amt in Schule und Kirche! Keine Stelle vergeben, wenn nicht durch die Hirten Christi! Kein Amt, keine Pfründe, keine Strafe, keine Belohnung mehr aus weltlicher Hand! Keine Berufung mehr auf weltliches Gesetz! Wer innerhalb der Kirche wagt, weltliches Gesetz gegen Geistliche anzurufen, der wird excommunicirt! Priester sind jetzt schon zu erziehen von Kindesbeinen an, damit hernach kein Mangel 96 ist! Religion aus keiner Schule mehr, als durch uns. Kein Placet, kein Transeat, kein Cabinetspaß für den Willen Roms! Gottesdienst überall, im Tempel und im Freien! Congregationen, Bruder- und Schwesterschaften nach Bedürfniß! Klöster mit ganzer und halber Regel! Selbstbeschauung, wer nur Lust hat, sich, sei's als Eremit allein, im Spiegel seiner Nacktheit zu erblicken, oder im Bund mit andern in den Exercitien! Verkehr zwischen Rom und jeder Hütte von Baumzweigen, wo nur ein stümpernder St.-Antonius oder St.-Hieronymus beten will! Jeder Heller endlich, so der Kirche gehört, nur zu unserer eigenen Regula de Tri verrechnet!« Alles das tobte die Verzweiflung aus, daß er Mutter Schmeling nicht sogleich unter den Hexenhammer einer geheimen, sicher wirkenden Inquisition bringen konnte.
Unter den Zeitungen, Briefen, Visitenkarten, die Renate geschickt hatte, fiel Bonaventura die Traueranzeige über den Tod Hendrika Delring's auf. Er widmete ihrem Andenken die innigste Theilnahme. Er vergegenwärtigte sich die Wirkungen dieses Schicksalsschlages, der das Kattendyk'sche Haus betroffen. Schon so frei, schon so entfesselt von seinen frühern Anschauungen war er, daß er sich sagte: Also ein Zeugniß für die Liebe weniger in der Welt! Von Lucindens Nähe hatte er keine Ahnung.
In Witoborn fand er um Mittag alles von der Jagd erfüllt und von den Nachrichten, die bereits über den Landrath eingelaufen waren. Er selbst mußte sich geistlichen Aufträgen widmen und konnte deshalb auch nicht zum Kloster Himmelpfort, so gern er wollte. Dann mußte er jedenfalls die in Westerhof heute so verlassenen Damen besuchen. Onkel Levinus und Terschka konnten möglicherweise erst spät Abends zurückkehren.
Gegen vier Uhr fand er Westerhof einsam und still. Die Dienerschaft war größtentheils zur Jagd. Sogar die Beamten 97 feierten – sie wohnten ringsum zerstreut in den entlegneren Wirthschaftsgebäuden. Zwei Diener waren daheim geblieben und von diesen war Dionysius Schneid seines Ungeschicks wegen kaum zu rechnen. Nur an weiblichem Personal war kein Mangel. Er hörte sogleich, daß Paula heute wieder wohler war. Wie immer mußte er sich erst Bahn brechen durch Hülfebegehrende, die sich auch von ihm die geistliche Segnung, welche er im Vorübergehen spendete, nicht entgehen ließen.
Jetzt erst – zweimal vierundzwanzig Stunden nach seiner unterbrochenen Frage: Und wenn nun doch noch die Urkunde gefunden würde – und man dann verlangen würde, daß Sie das Opfer brächten, die Hand des Grafen Hugo zu nehmen –? sahen sich die Liebenden wieder. Paula's Antwort lag in den stummen Gegenfragen der Begrüßung: Und jetzt erst seh' ich dich wieder? Ist denn noch alles so, wie an jenem Abend? War es kein Traum? Hältst du Wort, Wort dir selbst und mir? Deutlich sprachen dies die ersten Grüße; doch mildernd und dämpfend mußte sich Tante Benigna's Nähe einmischen, ja Bonaventura's eigener Anblick – der Gruß, einem Geistlichen, den die Kirche gezeichnet hat, dargebracht, verstand sich von selbst als Entsagung. Sofort fiel eine Bangigkeit auf Paula's Herz und auch in Bonaventura's Zügen schmolz sein erstes frohes Lächeln zum mildesten Ernst. Grade aber auch heute mußte die Tante nichts unterlassen, was den Eindruck der Würde eines Priesters mehrte und seine Erscheinung mit allen Glorien der Heiligkeit umgab.
Sie begann bald die Nähe Monika's und Ulrich's von Hülleshoven einzugestehen. Jene hatte an sie selbst geschrieben und der heute so stille Abend war bestimmt, ihr zu antworten. Von Ulrich lag ein Brief an seinen Bruder vor. Benigna durfte alles an den Onkel Gerichtete eröffnen – es war vorgekommen, daß ein vortheilhafter Verkauf von – Schweinen, der 98 Hauptbranche dortiger Viehzucht, versäumt worden war, weil Onkel Levinus einen Brief nicht erbrochen hatte, den er für die Abfertigung eines Recensenten hielt, mit dem er über alte römische Helme in Streit gerathen war. In diesen Briefen wurden an Schwester und Bruder die gleichen Ansprüche auf Armgart gestellt. Tante Benigna las Monika's Brief: »Liebe Schwester! Ich schreibe Dir im Vertrauen auf jene Versicherung Eurer Versöhnlichkeit, die Levinus Gräfin Erdmuthen gegeben! Ist es Euch genehm, so erschein' ich auf Westerhof. Armgart verläßt auf ein Jahr das Stift, begleitet mich nach Wien, nach Italien; – lasse sie zurückkehren, wenn ihr der Aufenthalt im Stifte Vortheile bringt, die sie nicht verscherzen dürfte. Wollt Ihr Ulrich den Vorzug lassen, so kann ich Euch keine Beweise meiner größern Würdigkeit geben. Mein Herz kämpfte, ob ich nicht in längerer Zuschrift das Urtheil meines Kindes gewinnen sollte; ich entschied dagegen. Darf ich, wie ich war und wie ich bin, in Euerm Kreise erscheinen und hab' ich Euern Beistand, daß die Erziehung einer Tochter der Mutter gebührt, und stellt sich Armgart gehorsam und ergeben einem Auge dar, dessen bei ihrem Anblick vielleicht ausbrechende Thränen sie für keine Selbstanklage zu halten berechtigt ist, so hab' ich das Glück meines Lebens erreicht. Entscheidet!«
Paula klagte diese Sprache der Kälte und des Hochmuths an. Sie, die sonst so Gütige und Milde, sagte: Welche Selbstzufriedenheit! Mir ist's ein Wunder, wie nur immer Herr von Terschka die Tante so rühmen kann!
Bonaventura blickte nieder. Er durfte nichts von einer nähern Bekanntschaft mit Monika aus dem Beichtstuhl verrathen. Doch stand ihm versöhnend das Bild des Abschieds vor Augen, den auch die Frau in silbernen Locken am Portal des Capitels ihm gewinkt hatte, als Schnuphase seine Rede hielt. Darauf 99 hin sprach er wie bekannt von ihr und sagte: Ist denn Herr von Terschka so für sie eingenommen –?
Ueberschwenglich spricht er von ihr –!
Die Tante schwieg. Sie hatte diese Neigung Terschka's wohl bemerkt. Und Bonaventura gedachte der Fragen, die Monika über die zweite Liebe einer Geschiedenen an ihn gerichtet hatte, aber auch des Vorzugs, den plötzlich Armgart dem Fremdling zu geben schien und den offenbar dieser Zweideutige annahm –
Die ängstliche Stille, die entstand, auch in Bonaventura, der sich sagte: Das Leben eines katholischen Geistlichen ist ein ewiges Niederblicken! unterbrach Benigna durch die Vorlesung des Briefes von ihrem Schwager. »Lieber Bruder!« schrieb der Oberst. »Die Grüße, die Dir schon im Herbst Hedemann brachte, wiederhol' ich und bald soll, denk' ich, mein Handschlag folgen! Ich wäre schon bei Euch gewesen, aber ich suchte auf Bergbau mein Heil zu gründen und erwartete von Kocher am Fall etwas. Indessen reichen die Mittel nicht aus für Versuche, die zuletzt doch ohne Lohn bleiben. So will ich denn nach Witoborn. Meine Pension ist nicht groß, wir hatten keine Wunden zu taxiren; man hat in England immer noch das System, die Wunden zu messen; zwei Zoll tief – 5 Pfund mehr; drei Zoll tief – 10 Pfund; ganz kalt – dann allerdings werden Witwe und Kind gut bedacht. Ich komme leider – heil und gesund und muß mich tummeln. Monika wird mir hoffentlich meinen Frieden nicht stören, den ich für mein Herz längst geschlossen habe. Ich bin in den Jahren, wo uns das Leben zuruft: Laßt alles das der Jugend! Was ich noch Rest von dieser Jugend habe, das hätt' ich gern an Armgart geschenkt! Aber die glaubt, hör' ich mit Erstaunen, der Mutter zu nahe zu treten, wenn sie mir den Vorzug gibt. Nun hat sie gar ein Gelübde gethan – – Seltsame Welt, von deren Anschauungen ich mich jenseit des Meeres – 100 entwöhnt habe! Als guter Soldat will ich einstweilen den Waffenstillstand ehren, wenn er nach beiden Seiten hin aufrichtig gehalten wird. Empfiehl mich Schwägerin Benigna und dank' ihr in meinem Namen für alles Gute, was sie Armgart erwiesen hat. Mein Sinn ist, sagt Ihr, Eigensinn? Ich kenne, was von uns Brüdern ich vom Vater, Du von der Mutter hast. Zuletzt ist aber das Leben so, daß wir, beim Zurückblicken auf die Fälle, wo wir Recht hatten, mit Trauer an unsere Schwächen, beim Zurückblicken auf die, wo wir irrten, mit Freude an unsere Kraft erinnert werden. In Frieden und in guter Hoffnung!«
Benigna las diesen Brief in einem Ton der Angst und Sorge, der seinem so versöhnlichen Inhalt widersprach. Auch sie war mit der Zeit so von der Krankhaftigkeit der ganzen Sphäre, in der sie hier lebte, angesteckt, daß sie ihre eigene resolute Weise verloren hatte und sie nur noch zuweilen bei aufloderndem Poltern geltend machte. So sicher und fest, wie in diesen beiden Briefen, war auf Westerhof lange nicht gesprochen worden.
Paula, gedenkend des neulichen Abends, wo Armgart den an Terschka gerichteten Brief ihrer Mutter zurückbehalten hatte, sagte mit derselben Zuversicht wie damals: Sie versöhnen sich beide! Und Armgart hat es zur seligsten Jungfrau gelobt, daß auch sie nicht eher ruhen will! Die Sehnsucht beider nach ihrem Kinde wird das harte Eis der Herzen brechen! Was könnte noch dazwischen liegen –?
Der Vermuthung Armgart's, auch ihre Mutter liebe Terschka, hatte sie gleich anfangs nicht nachleben mögen; Armgart's neue Gedankengänge kannte sie nicht. Sie war befremdet über Bonaventura's Schweigen. Diesem hatte freilich Monika von Ehescheidung und von zweiter Liebe gesprochen.
Inzwischen sagte, Bonaventura's stillen Schmerzensblick nicht beachtend, die Tante: Ich schreibe beiden: Kommt und versucht 101 euer Heil. Armgart ist kein Kind, das sich regieren läßt! Ihre Stellung im Stift macht sie auch selbstständig! So und ähnlich schrieb sie in der That und ließ damit dem Flüstergespräch der beiden Liebenden Raum . . . Aber Bonaventura blieb – ein Priester und Paula – eine Leidende. Wie die zarte Gestalt, die Künstlerhand aus Alabaster schuf, nur mit äußerster Vorsicht von prüfenden Händen berührt wird, so schonungsvoll mußte sich jedes Wort, jede Bewegung in Paula's Gegenwart von selbst geben. Der Athem eines so räthselhaften Mundes, der feuchte Glanz eines Auges, das so geisterhaft in die Ferne sehen konnte – hinderte das Gefühl: Risse ich dich jetzt mit mächtigem Arm an meine Brust und bedeckte deine Lippen mit Küssen, du würdest dem uns alle bindenden Leben angehören, den gemeinsamen Sinnen, die für unsere Natur die alleinigen Schranken sind! Bonaventura konnte wol bange werden in dieser unheimlichen, spukhaften Umstrickung von Fäden, die Geisterhände um Paula zu spinnen schienen. Sah er die sanften schwarzen Wimpern über die blauen Augen sich senken und das unendlichste Behagen ihrer edeln Formen die Neigung ausdrücken, sanft in jenes dunkle Zwischenland zwischen Wachen und Traum, zwischen Leben und Tod zu entschweben, in jenes Land, das hier zu Lande den Menschen das Jenseits erschien, so erschrak er. Ihre weißen Hände sanken dann nieder in den Schoos. Ihr ganzes Sein schien dann eine Nahrung einzufangen, die ihr aus der Luft zuströmte, ja aus Bonaventura's Athemzügen. Die hingegebene, willenlose Schwäche, der unwiderstehlichste Reiz des Frauenthums, benahm ihm fast die Sinne. Wäre bei wahrer Liebe nicht immer der Vorbau des Herzens darauf gerichtet, sich zu sagen: Entweihe deine Gottheit nicht! Laß sie rein und unberührt von deinen stürmischen Wünschen! Lege für noch seligere Zukunft deine Schätze zurück –! er würde sich nicht haben halten können, mit 102 seinen Armen diese seltsame Welt an sich zu ziehen und – sie zu zwingen, sich zur allgemeinen Menschheit zu bekennen.
So kam die siebente Stunde schon. Tante Benigna schrieb immer noch fort und störte die Liebenden nicht. Sie wußte – und sie wußte nicht, sie sah – und sie sah nicht; sie war in den ihr unbewußten Fesseln eines Idealanfluges, der sogar, als sie zuletzt beim »Aufarbeiten ihrer Rester« Gänse, Enten, Schweine, Ochsen addirte, ihre Phantasie geradezu dabei doch wie ins Paradies versetzte, wo ja doch auch so fromm und heilig wildes und zahmes Gethier um den noch unberührten Baum der Erkenntniß wandelte. Es blieb tiefe Stille. Nur viertelstündlich sagte die Tante: Wo nur Armgart bleibt –! Wenn die Jagd nur kein Unglück bringt –!
Plötzlich fällt ein seltsam heller Schein ins Zimmer. Die beschlagenen Fensterscheiben klirren leise. Anfangs beachtet niemand diesen Schein und dies Klirren. Jetzt dringt auch ein Geruch ins Zimmer, der selbst der Tante, die an die Consequenzen der Landwirthschaft gewöhnt ist, zu fremdartig vorkommen sollte. Aber sie nimmt Anstand, dem Besuch zu verrathen, worauf alles man im Landleben gerüstet sein müsse. Sie schweigt und räth auf die Küche und das verbrannte Nachtessen.
Nun aber wird der Schein zu licht. Alle drei erheben sich zu gleicher Zeit. Da hört man auch schon das schrille Klirren von zerspringenden Fensterscheiben. Das ist Feuer –! ruft die Tante und greift an den Klingelzug.
Schon stürzen die Dienstmädchen den todtblassen Damen entgegen – sprachlos. Statt ihrer spricht der in Glührothschimmer getauchte Vorsaal. Es brennt –?! wollte die Tante ausrufen. Aber der Ton erstickte schon in ihrer angstgeschnürten Brust. Und schon war sie hinaus. Bonaventura hielt Paula zurück. Die Mädchen hatten schon inzwischen gesagt, daß die Kapelle brenne.
103 Menschenstimmen – Rufen, Schreien ertönte durcheinander Das Laboratorium! hörte man. Das Archiv –! Zusammenkrachendes Gebälk, eingeschlagene Thüren. Bonaventura, seinerseits selbst halb bewußtlos, übergab Paula den Mädchen, um nach den hoffentlich noch unversehrten Ausgängen des Schlosses zu sehen. Die Treppen waren zum Glück von Stein.
Im Hof entdeckte er eine mächtig lodernde Flamme, die wie eine gierig aus der bereits eingeschlagenen Thür der Kapelle leckende Zunge nach Nahrung suchte. Noch schien sich das Feuer auf das Innere der Kapelle zu beschränken. Wer wußte aber, was drinnen schon zerstört war! Dem Archiv suchte man durch andere Zimmer beizukommen. Im Hof arbeitete bereits mächtig eine der Spritzen, die sich im Schlosse befanden. Tante Benigna leitete sie selbst.
Noch aber fehlte es an Menschen. Die Diener sagten dem Domherrn, man spanne bereits an. Tante Benigna rief: Fahren Sie mit der Gräfin zum Stift! Bonaventura kehrte zurück und sorgte für die Zurüstungen zur Flucht. Paula fand er gefaßter. Man eilte, nach Kleidern für sie zu suchen. Bonaventura verschloß schnell das offen gebliebene Schreibbureau der Tante und steckte den Schlüssel zu sich.
Inzwischen mehrte sich der Zustrom der Nachbarn, die jetzt nach außen hin eine Riesenflamme hatten ausbrechen sehen, eine Flamme, die ihren Weg in der That von dem in Brand befindlichen Altartabernakel zum Archiv suchte, dem sich von außen leider nicht beikommen ließ, da die Fenster über und über vergittert waren. Der eine Flügel des Schlosses schien verloren; schon machte sich die Flamme durch das erste und zweite Stockwerk Bahn.
Bonaventura verlor jetzt nicht mehr seine Geistesgegenwart. Die wichtigsten Schränke ließ er sich bezeichnen, ließ Silbergeräth einpacken und folgte den Weisungen Paula's, die gerade 104 jetzt in den seltsamsten Zustand gerieth. Nicht daß sie ihr Bewußtsein verlor, wie eine Traumwandelnde schritt sie dahin, eine Geisterjungfrau, die zuletzt, falls sie entfloh, so war der Eindruck, auf einem Gespann von geflügelten Drachen hätte entschweben müssen. Sie gab Weisungen, Aufklärungen, wie im Sturm am Ufer des brausenden Meeres eine Seherin. Dort! Die Kisten! rief sie. Die Schlüssel hängen ja hier! Nehmt sie! Hier sind die Bücher der Grundverschreibungen! Der Ausgang ist frei! Uebereilt nichts! Der Dachstuhl brennt, aber an den Eckthürmen ist alles von Stein –! Leert das Laboratorium von brennbaren Sachen! Der Bau selbst ist feuerfest –! Seht, der Wasserstrahl trifft ja mächtig! Rettet nur das Archiv in den Keller –! . . .. Ha, der Mann! Seht den Mann! Folgt ihm nicht! Nein! Nein! Ein Balken stürzt –!
Niemand sah den Mann, den sie von der Galerie des Hofes aus erblicken wollte. Indessen ertönte ein furchtbares Krachen im Innern. Nach innen mußte das zweite Stockwerk eingestürzt sein. Die Flamme schlug schon oben zum Dach hinaus. Von den beiden Eckthürmen aus bekämpfte man ihr Weiterdringen durch die hinaufgezogenen Schläuche zweier Spritzen, die von unten her nur wenig hatten wirken können. Dabei tönte hülferufend die Schloßglocke bereits seit einer Viertelstunde von einem dritten der vier Eckthürme.
Paula lehnte jede Entfernung vom Schlosse, jede Schonung ihrer selbst ab. War es der entschlossene Beistand Bonaventura's, war es die Erregung des Augenblicks oder welche Geister standen ihr zur Seite – sie befehligte ganz wie die Gebieterin. Sie war die Stammherrin der Dorste-Camphausen, die Letzte ihres Geschlechts! Sie stand mit leuchtenden Augen, beschienen von Flammen, im erstickenden Qualm des Rauches verlor sie die Besinnung nicht. Dagegen brach die Tante nun zusammen. 105 Wenigstens bedachte sie nur noch die Rettung des Kleinen und Einzelnen, während Paula im Ganzen lebte.
Menschen waren endlich genug da, die Befehle gaben und befolgten. Schon fehlten die Spritzen aus Witoborn nicht. Gensdarmen kamen dahergesprengt. Man isolirte das Feuer mit Erfolg. Ueber die Entstehung schwankten die Meinungen. Die einen leiteten das Unglück aus dem Laboratorium her, die andern aus einem Kohlentopf in der Kapelle, den vielleicht ein Andächtiger, der sich über demselben die Füße gewärmt, zurückgelassen hatte. Daß schon die Gräfin das Feuer gestern gesehen, war ein Wunder, wodurch die Anstrengung des Rettens, die Erhöhung der Stimmung noch gemehrt wurde.
Bonaventura irrte durch trübe Ahnungen und barg sich jetzt – vor Müllenhoff, der im Rettungseifer angekommen war, vorläufig jedoch nur seine Zunge in Bewegung setzte, um der Entrüstung Worte zu geben über Fräulein Benigna, die, kaum ihn erblickend, so viel Besinnung gewonnen hatte, geradezu ihn als die Ursache des Feuers zu beschuldigen – denn ihm und seiner »Toilette« zu Liebe hätte man die Zahl der Vorhänge am Altar vermehrt, jene Sakristei hinter dem Altar improvisirt und ihm in dem engen Raum den seit Jahrhunderten dort verpönten Gebrauch von Licht gestattet.
Den heftigen, ganz aus geistlicher Sprache und Rücksicht herausfallenden Wortwechsel unterbrach die Ankunft eines Pikets Husaren aus Witoborn. Man sperrte den Zudrang der Menschen ab, die von allen Richtungen herbeiströmten. Nur wer sich ausweisen konnte, wurde jetzt noch über die kleine Brücke gelassen, die zu der Insel führte, auf welcher Westerhof lag. Glücklicherweise war Windstille. Die Funken flogen nicht an die nahen Wirthschaftsgebäude und Kornspeicher.
Unter denen, die noch über die Brücke wollten, befand sich auch der allen wohlbekannte Bruder Hubertus. Er machte sich 106 mit einer Gewalt, die unwiderstehlich war, Bahn. Laßt mich, rief er den ansprengenden Reitern entgegen und keines Roßhufs achtend drängte er zur Brücke hinüber und stürmte in die Gefahr hinein, die inzwischen nachzulassen anfing. Vorzugsweise war es jetzt, wie Paula vollkommen recht gesehen hatte, ein einziger Mann, der mit Anstrengung, ja mit Lebensgefahr dem Umsichgreifen des Brandes Einhalt that – jener Dionysius Schneid, dem man anfangs vergebens gerufen hatte, der sogleich die Pferde und den Wagen für Paula in den Wirthschaftsgebäuden hatte bestellen sollen, der sich dort »eine Ewigkeit«, wie die Angst der Tante ein Dutzend mal ausrief, aufgehalten, der aber auch jetzt beim Einreißen der Zwischenmauer, beim Absperren der Flamme einen verdoppelten Eifer zeigte. Mit geschwärztem Antlitz, plötzlich rothen Haars, das seit dem Finkenhof niemand wieder an ihm gesehen hatte, saß er in einer buntgestreiften Stalljacke mitten in der Verwüstung des halb in Trümmern liegenden Flügels zwischen den beiden Thürmen, hob die Axt, zertrümmerte glühende Balken in kleinere Stücke, um deren Zündkraft zu mildern, und arbeitete allen andern, die sein Beispiel ermunterte, fast mit einer Art Wildheit zuvor.
Hubertus war mit dem Namen: Schneid! auf den Lippen angekommen. Wie mußte er erstaunen, als man ihm auf diesen Namen eben den Mann zeigte, der hoch im qualmenden Gebälk saß, die blinkende Axt in der Hand. Unmöglich! entgegnete er. Doch! Doch! rief man ihm zu und bezeugte allgemein Anerkennung über die Entschlossenheit des sonst so trägen Dieners.
Im Hof war ein Gedränge und kaum zum Hindurchkommen bildeten Eimer, Spritzen, geborgene Geräthschaften schon einen hohen Haufen, über den die Menschen hinwegklettern mußten. Man würde den Mönch, welchen die am wassertriefenden Gebälk zuweilen noch aufzuckenden blauen Flammen in seinen 107 allbekannten Todtenkopfzügen beleuchteten, nicht geduldet haben, hätte man nicht gewußt, daß in solchen Fällen der riesenstarke Bruder sich nützlich zu machen liebte. Schon hatte Hubertus, immer den in der qualmenden Zerstörung sitzenden Schneid im Auge, von den Gensdarmen einen Eimer zugereicht erhalten, um Wasser zu holen aus dem glücklicherweise im Thauen begriffenen Teich, der die Insel bildete. Schon wollte er in unwillkürlichem Erbeben vor der Anrede durch die Beigeordneten des Landraths mechanisch Folge leisten, als ihm ein noch einmal auf die Stätte der Zerstörung im obern Stock geworfener Blick eine plötzliche Gefahr zeigte, in welche dort der Diener des Hauses gerathen. Sein eigener Zuruf erstickte auch schon in dem allgemeinen Geschrei: Er stürzt! Eine Leiter! Er ist verloren –!
Der schwarzberußte Mensch, der sich da oben wie ein Gnom der Unterwelt durch Feuer und Rauch den Weg zu bahnen suchte, wollte sich vor einem drohenden Mauersturz retten, sprang auf ein verkohltes Sparrenwerk, das unter ihm zusammenbrach, stürzte tiefer und tiefer und schwebte mit seinen Füßen, die ohne Halt im Leeren tasteten, zuletzt über einem Abgrund, in den er unfehlbar hinunterstürzen mußte, da sich seine Hände nur noch am glühenden Stumpf eines Balkens halten konnten. Nirgends war eine Leiter anzulegen . . . Wenige Minuten noch – und unfehlbar mußte der Diener aus dem zweiten Stockwerk auf Steingeröll und Balken mit zerschmettertem Schädel niederfallen.
Aber nur eine Secunde der Rathlosigkeit, wo man die Leiter anbringen sollte, die an sechszig Sprossen zählte und vor der Macht ihres Gewichts hin- und herschwankte, da stand Hubertus schon und rief: Hinauf! Hinauf! Wer steigt hinauf? Und in seinen knöchernen Armen hielt er die Leiter, daß sie frei schwebend stand, wie an eine Mauer gelehnt. Klettert hinauf! rief er wiederholt und immer dringender redete er den 108 Ablehnenden zu. Habt doch keine Furcht! bedeutete er die, welche zögerten, die nur frei in der Luft gehaltene Leiter zu besteigen.
Endlich wagte es einer der Feuerleute aus Witoborn. Schon berührten die Füße des in der Luft Hängenden die obere Sprosse der Leiter – aber er würde sich nicht haben halten können ohne einen Arm, der ihn umschlang. So kletterte denn der Feuermann empor an der aus freier Hand gehaltenen Leiter. Wie eine Gerte bog sie sich, je höher er kam. Doch Hubertus stemmte sich fest wie ein Athlet und balancirte die ungeheuere Wucht. Hülfe, die hinzusprang, stieß er zurück mit dem Ruf: Gleichgewicht! Das – kann nur Einer oder ihr müßt es subtil anfassen! Und mit den Zähnen knirschte er zum Zeichen seiner äußersten Anstrengung, bis die Umstehenden begriffen und ihn vorsichtig in der von ihm angedeuteten Weise unterstützten.
Jetzt war der Arbeiter oben. Er ergriff den schon Sinkenden, dessen Hände verbrannt sein mußten. Er zog ihn zu sich herüber auf die Leiter. Diese, vom doppelten Gewicht überlastet, bog sich. Ein Schrei des Entsetzens unter allen Umstehenden, von denen einige Kräftige hinzusprangen, um Hubertus zu unterstützen. Doch »Zurück«! rief er ihnen allen aufs neue entgegen und klemmte die Leiter zwischen seine beiden Kniee, die Arme in der fünften und sechsten Sprosse eingeschlungen, sodaß er die gewaltige Last nur wie eine vom Sturm bedrohte schwanke Fahnenstange hielt. Glücklich stieg der Arbeiter mit dem Ohnmächtigen nieder.
Je näher Jean Picard dem Mönche kam, je näher ihm der Anblick des Armes möglich wurde, auf welchem er das verhängnißvolle Zeichen der Erkennung suchen wollte, desto schwächer wurde die Kraft des Bruders, dessen Kutte hie und da an den noch brennenden Trümmern schon sengte. Nun ließ er das Hinzukommen aller geschehen. Als der Arbeiter mit dem 109 Geretteten auf unterster Sprosse stand, sank die Leiter in die Hände der Uebrigen.
Hubertus holte einige Augenblicke Athem, hörte mit lächelndem Kopfnicken die bewundernden Beifallsäußerungen der Umstehenden und folgte dem Arbeiter, der den Bewußtlosen von der Brandstätte wegtrug. Diesem bot man jetzt Hülfe, Erquickung, ein Lager in dem andern Flügel des Schlosses.
Hubertus aber sagte zu dem Träger: Laßt's jetzt gut sein, Landsmann! Ich trag' ihn schon selbst weiter! Mit Brandwunden weiß ich umzugehen! Damit nahm er den Ohnmächtigen und trug ihn aus dem Gewühl und ganz aus dem Schloß hinaus in das inzwischen aufs neue und immer mächtiger vom Menschenstrom belebte Dunkel der Nacht. Während jetzt von allen Thürmen auf Meilen weit umher die Feuerglocken riefen, kamen auch die Theilnehmer der Jagd an. Terschka mit Armgart voraus auf einem leichten Wagen; dann Thiebold und der Onkel. Auch von Witoborn kamen Benno und Hedemann. Armgart machte sich durch alle Bahn. Paula's hohe Entschlossenheit und muthvolle Haltung hörte erst auf, als sie in die Arme ihrer weinenden Freundin sinken konnte.
Bonaventura stand voll Rührung und sprach, als die Gefahr vorüber schien, mit – tiefahnungsvoller, zitternder Stimme ein Dankgebet, in das alle Nahestehenden mit entblößten Häuptern einstimmten. Seine Worte deuteten die Strafe des Himmels an, wenn hier ein Frevel vorläge. Alles war erschüttert. Selbst Müllenhoff, der eine Menge gebrauchter grober Ausdrücke zu bereuen hatte, drückte ihm ergriffen die Hand.
Die Thurmuhren schlugen zehn. Jedes sagte: Wenigstens noch ein Glück, daß der Unfall so zeitig ausbrach –! Für die Nacht wurden Wächter bestellt. Allmählich wurde alles stiller. 110 Die Gruppen lösten sich auf. Man zerstreute sich. Auch die Schloßbewohner bedurften der Ruhe.
Onkel Levinus fand sich in neue Thatsachen, die er gedruckt las, leicht, schwerer in solche, die er selbst erlebte und mit dem Alltäglichen zu vermitteln hatte. Er hatte mehr als gewohnt dem Rebensaft zugesprochen, auch auf der Jagd selbst schon manche Herzstärkung zu sich genommen. Um sich zu finden und im Nichtzuändernden zu orientiren, irrte er mit einem offenen Lichte so lange im Schlosse auf und ab, bis ihn die Wächter aufmerksam machten, er könnte leicht den Brand aufs neue entzünden.
Armgart flüchtete auf ihr Zimmer wie ein verstörter Geist. Terschka, dem man kaum die Anwesenheit des Mönchs Hubertus und dessen gewaltige That erzählt hatte, als er auch schon in seine unversehrt gebliebene Wohnung entschlüpfte, schien am längsten zu wachen. Das Licht an seinen Fenstern erlosch erst nach Mitternacht. Bonaventura war mit Benno, Thiebold, Hedemann und Müllenhoff zu Fuße fortgegangen.
Endlich breitete die Nacht über das Gemälde des Schreckens ihre dunkeln Schwingen. Schauerlich ist es, wenn nach solchen Begebnissen der Schlummerlose auf einsamem Lager so laut und hell und wohlgemuth das Krähen des Hahns hört, wie wenn nichts vorgefallen wäre, und er sich doch sagen muß: Der anbrechende Morgen wird das entsetzlich Neue in seiner ganzen folgenschweren Größe zeigen!