Karl Gutzkow
Der Zauberer von Rom. V. Buch
Karl Gutzkow

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

134 19.

Auch diesen beiden aus Witoborn zurückkehrenden Damen war im Vorüberfahren ein Gruß gespendet worden aus dem von Westerhof bereits wieder heimkehrenden Wägelchen jenes gewissen Mannes im blauen Mantel mit dem schwarzen Pudelkragen. Löb Seligmann war es, der in der allerglückseligsten Laune grüßte.

Hatte er auch in verschiedenen Spiegeln der im Lauf dieses Winters und vor dem Frühjahr nicht mehr von ihm zu verlassenden Gegend beim Rasiren seines Barts, beim Kämmen und Ansingen seines wolligen Haars eine nicht gewöhnliche Anzahl von grauen Löckchen bemerkt, so kamen diese doch nur als ein zufälliger Tribut an seine Jahre, nicht als Folge von Kummer und Sorge. Im Gegentheil, er war in einer von so mannichfachen Aengsten und Bedrängnissen erfüllten Sphäre, welche wir schildern, die zufriedenste, frohste, vielleicht die einzige »gesunde Natur«, gesund wenn nicht gerade am Körper, doch an der Seele.

Das Vertrauen, das ihm Terschka schenkte, das sich dann dem ganzen Adel der Gegend mittheilte, gab ihm einen Schwung, der nur von der ihm manchmal eigenen Rührung über sich selbst gemildert wurde. Aber sogar diese Anwandelungen der Wehmuth, wie sonst wol beim Hinblick auf Kocher am Fall, auf den Korb der Hasen-Jette, auf die schwachen Beine David's, auf Veilchen, die »Blüte des Ghetto«, die unter der Geldgier seines 135 ihm so unähnlichen Bruders Nathan schmachtete, kamen ihm jetzt seltener. Nur der hierortige Mangel an Opernmusik, die seiner Seele sonst ein so nothwendiges Labsal war, bildete eine Lücke in seinem Dasein. Musikalisch war er tief überzeugt von der classischen Anmuth der Arie: »Ha, das Gold ist nur Chimäre!« (die Textesworte würde er bei seinen gegenwärtigen glänzenden Einnahmen weniger übereinstimmend unterschrieben haben) – aber singen mußte er sie sich leider allein.

Die Eroberung dieses gewissenhaften Kenners der Ackerkrume, der Ertragsfähigkeit der Güter, der einschmeichelndsten Ueberredungskünste, bald beim Bauer, bald beim Edelmann, verdankte Terschka dem Vormittag auf der Villa des Herrn Bernhard Fuld in Drusenheim. Er ließ Löb nach Witoborn kommen und »schlachtete« bereits im voraus, wie der Kunstausdruck lautet, die Güter des Grafen Hugo ein, noch ehe die Uebergabe in allen Formen erfolgt war. In Terschka hafteten aus den Lebenssphären seiner frühesten Kindheit andere Eindrücke vom Judenthum, als er sie durch Seligmann empfing. Heyum Picard und – Löb Seligmann –! Letzterer mit den rührendsten Gleichnissen und Sprüchen aus dem Talmud, die ihm Gewinn auf Kosten der Ehrlichkeit verboten – Löb citirte sie zuweilen mit einer gewissen jungfräulichen Verschämtheit. »Wir haben ein Sprichwort, Herr Baron – Das war die stehende und mit Erröthen gesprochene Phrase, womit Löb ein solches Citat aus dem Talmud anbrachte, gleichsam einen Traum aus der Menschheit kindlichsten Tagen, eine geheimnißvolle, der Oeffentlichkeit entzogene Familienangelegenheit der Juden.

Eine wunderbare Kunst besaß Seligmann, alle Verhältnisse, in welche ihm das Leben einen Einblick gestattete, bis auf den Grund auszukosten. Selbst einen so entschieden negativen Umstand, wie den, daß Armgart von Hülleshoven, als er sich die 136 Rettung der kleinen Pensionärinnen von Lindenwerth vor Wassersfluten so angelegen sein ließ, unter den zur Villa Dahinwatenden damals nicht anwesend war, benutzte er zur Anknüpfung einer Bekanntschaft mit ihr, ja zu dem seelenvollsten Genuß und Nachgenuß der Thatsache: Also Fräulein, Sie waren damals nicht dabei –! Dazu dann sein Auge –! In seinem Gemüth hallte die Nachbetrachtung mit den schmelzendsten Accorden. Angelika Müller, die kannte er dann auch – aus der Dechanei und die hatte er damals gesprochen und demzufolge besuchte er Püttmeyern – Und Grützmacher hatte einst bei Witoborn als Gensdarm gestanden und demzufolge sah er sich dessen ehemalige Wohnung nebst Stall an und knüpfte die Bekanntschaft seines Nachfolgers an: Also das ist ein Vetter von Ihnen? Und ein einziges seelenvolles Durchempfinden eines solchen Verhältnisses erleichterte freilich auch sein Geschäft, das eben in Couragemachen zu Veränderungen und Expropriationen gemüthlich werthgewordenen Eigenthums bestand. Aber es war das nicht allein, was sein Gemüth bei solchen Anknüpfungen wünschte –! Benno von Asselyn, der ihn als Student für seine Güterschlachterei aus dem Roland »geschmissen« hatte, Benno war ihm eine kocherer Bekanntschaft von einem Heimatsgefühl, von einer Seelenerquickung, als sänge, da er ihn zum ersten mal hier sah, sein ganzes Sein: »Ich komme aus der Normandie –!« Ebenso elegisch betrachtete er Thiebold de Jonge –! Ebenso Hedemann –! »Unbekannterweise«, aber um seines Sohnes willen, auch den Landrath von Enckefuß, dessen Geldverlegenheit ihn um so mehr rührte, als er, gelegentlich von ihm um Hülfe angegangen, bedauerte erklären zu müssen, daß er »Geschäfte dieser Art« nicht mache –! Mit Bonaventura vollends trat ihm die alte Kathedrale von St.-Zeno in Kocher am Fall wie im Mondlicht entgegen; zugleich das Sterbebett der Nachbarin Ley, 137 Trendchen und mit ihr der an jenem Morgen für Veilchen gekaufte Blumenstrauß –! Alles das hob ihm Seele und Gemüth.

Mit besonderer Andacht besuchte Löb das große Dorf Borkenhagen. Von allen Seiten betrachtete er sich jenes Pfarrhaus, wo »denn also« Leo Perl, sein leiblicher Vetter, abgefallen vom Glauben seiner Väter, gelebt hatte und gestorben war –! Er betrachtete die Fenster, die Walleinfriedigung, den Brunnen und die Scheuer dieser Wohnung mit einem so elegischen Rückblick, daß der jetzige Pfarrer das Fenster seines Studirzimmers öffnete und ihn fragte: Wünschen Sie etwas –?! Durch seine Seele zogen bei diesem rauhen Anruf alle Töne des Gefühls unverdienter Kränkung, die nur je sein angebeteter Bellini componirt hat.

Von Veilchen wußte er über Leo Perl so viel Wunderbares – Perl war ein Freidenker und doch – ein Kabbalist –! In Paris hatte er in alten Pergamenten studirt und trotz Voltaire eine schreckhafte Geisterwelt anerkannt. Nun erschien ihm Leo Perl einer jener Rabbis, die durch gewisse Zahlenzusammenstellungen, die sie einer thönernen Figur auf die Stirn schreiben, diese lebendig machen. Eine solche Figur dient dem Zauberer, verrichtet ihm alle Geschäfte, macht das Schwierigste möglich und begehrt dafür keinen andern Lohn, als gut essen und trinken zu können. Wischt dann ein Zufall die Zahlen von der Stirn des »Golem« oder der Rabbi vergißt eine gewisse Formel, so wird das Thonbild zum leibhaften Teufel und hat schon manchen Nachts im Bette erdrosselt. Gott – so immer kam ihm die Erinnerung an Leo Perl –! Das war nun da die Kirche, wo dieser, ein Jude, celebrirt hatte –! Das war nun der Friedhof, wo er begraben lag –! Und das waren die Lehmhaufen, aus denen er sich allenfalls einen Golem hätte bilden können –!

Im Kloster Himmelpfort, hieß es eines Tages im Wirthshause, lebten noch Mönche, die den Pfarrer Perl näher gekannt 138 hätten. Mit diesem Kloster kam Löb in Verbindung durch einen Besuch. Vor ungefähr acht Tagen wurde er in Witoborn »Bei Tangermanns« durch den Küfer Stephan Lengenich überrascht. Der »Gerechtfertigte« kam jedoch jetzt aus dem Gefängnisse, das er aufs neue als Strafe für geheime Verbindungen hatte verbüßen müssen, seiner Betheiligung wegen an jener Versammlung im Roland. Der vierschrötige, feierliche, exaltirte Mann trat bei ihm ein in einem großen kaffeebraunen Mantel und gab sich in so fragwürdiger Schreckhaftigkeit, daß Löb Seligmann unwillkürlich an eine seiner Lieblingsopern, »Zampa«, und zwar an das erste Auftreten des Räuberhauptmanns denken mußte. Der Küfer kündigte ihm an, daß er sein Begehren nach dem Stück Tuch vom Jagdrock des Kronsyndikus (der bei seiner Ankunft noch lebte) zwar für einige Zeit durch Veilchen's Beredsamkeit hätte fallen lassen können, doch nicht für immer und am wenigsten jetzt, wo er seit beinahe einem halben Jahre wiederum die Schwere des Unrechts dieser Welt und der Nichtrechtfertigung vor den Menschen hätte erfahren müssen. Er verfluchte den Verführer Hammaker, der seinen Lohn gefunden. Er bereute den Verkauf des Blutackers in Drusenheim. Es war jene volksthümliche Rachestimmung über ihn gekommen, die bei solchen Gelegenheiten unter welthistorischeren Bedingungen zu Masaniellos, John Hampdens und Andreas Hofers machen kann, in unserm Alltagsleben, wie es kommt und geht, etwa zu – commandirenden Spritzenmeistern. Lengenich wollte nun zu näherer Auskunft über den Tuchstreifen ins Kloster zum Mönch Sebastus. Zitternd und doch zugleich voll hohen Interesses nahm Löb Seligmann den Vorschlag entgegen, ihn dorthin zu begleiten. Die wildesten Racheklangfiguren aus »Norma« und »Lucrezia Borgia« tanzten vor seinem Ohr und Auge.

Glücklicherweise – so kann man hier wol sagen und nun 139 leugnete noch Veilchen die unmittelbare Vorsehung! – starb noch an dem nämlichen Tage der Kronsyndikus und Stephan Lengenich knirschte nur mit den Zähnen; denn er war gekommen, um gegen den Kronsyndikus einen Proceß einzuleiten. Eine festliche Einholung in die Keller der Moppes'schen Weinhandlung, wo ihm seine unterirdische Stellung vorbehalten blieb, hatte er um diesen Proceß verschoben. Nicht eher wollte er, mit Blumen geschmückt, wie Bacchus, auf einem Fasse in die Keller getragen werden unter Männergesangbegleitung – der junge Moppes hatte eine Cantate dazu componirt – als bis er, endlich im Besitz des Tuchstreifens, zum »Tyrannen« gesagt: »Schließ' deine Rechnung mit dem Himmel, deine Uhr ist abgelaufen!« Nun war die Uhr abgelaufen – freilich in anderer Art. Stephan Lengenich sprach mit Advocaten, die ihm keine Ermuthigung gaben. Seine »Entlastung« konnte er nur, wie sein pathetischer Sinn ihn zuletzt überredete, an der Eiche selbst vollziehen.

So besuchte denn Löb Seligmann mit ihm am Begräbnißmorgen das Kloster Himmelpfort, um auf alle Fälle jetzt von Klingsohr den Streifen Tuch zu erhalten. Sie trafen den Pater auf dem Krankenbette. Siech und elend blickte dieser sie an. Vor dem Küfer, gegen den er einst falsches Zeugniß abgelegt hatte, schlug er die Augen nieder. Auch auf Löb Seligmann besann er sich; er hatte ihn einst, trotz seiner Verehrung vor dem Judenthum in der Theorie, in Praxis beim Zinngießer Klingelpeter zur Thür hinausgeworfen. Bekannt war ihm, daß Seligmann die Brieftasche bei Nathan, seinem Bruder, in der Rumpelgasse gefunden und von der Einlage dem Küfer Kunde gegeben hatte.

Seligmann führte das Wort und erzählte, daß der Küfer bisher nur durch Veilchen's Beredsamkeit, dann durch seine neue Haft in seinem Verlangen nach jenem Fetzen Tuch wäre aufgehalten worden, daß er denselben aber nun aufs bestimmteste von ihm 140 begehre. Bereits hatte Klingsohr die Kunde vom Tod des Kronsyndikus erhalten und gab nun gern den Tuchstreifen und ließ geschehen, was da wollte. Er fragte dabei nach Veilchen. Löb erzählte von ihrer Güte und Milde. Klingsohr erwiderte: Euch Juden steht es viel besser an, wenn ihr dem Shylock gleicht! Nehmt, Stephan Lengenich! Macht damit, was Ihr wollt! Auch aus mir – und – meinem falschen Zeugniß! Bringt mich ins Zuchthaus –!

Dumpfe Stille herrschte in dem Kämmerlein. Der Mönch wandte dem Besuch den Rücken und streckte sich, lang wie er war, gegen die Mauer auf sein Lager. Stephan Lengenich kannte das Schicksal dieses Mönchs. Er sah in Klingsohr einen Gefangenen der Regierung, einen gottesfürchtig gewordenen Mann, den man verhinderte, für die Sache der Kirche zu wirken. Ihn seines falschen Zeugnisses wegen jetzt noch zu verklagen verbot seine ganze Stimmung. Seligmann hatte mit der ihm eigenen Rührung schon oft zu ihm gesagt: Der Mann wollte den Mörder seines Vaters, der die That aus Jähzorn that, nicht unglücklich machen! Gott im Himmel, er hatte von ihm Wohlthaten empfangen! Der Schmerz darüber hat ihm das Herz gebrochen und er ist ins Kloster gegangen! Die Kunde auch, Lengenich hätte bei weltlichen Gerichten einen Mönch des Meineids beschuldigt, würde ihn bei gegenwärtigen Zeitläufen daheim um seinen vaterstädtischen Triumph gebracht haben.

Pater, sprach er, Sie haben mir durch das Unterschlagen dieses Tuchfetzens vom Rock des Mörders bitteres Leid angethan, das ist wahr – jahrelang – Aber ich höre, die Regierung hat Sie mit Gewalt hieher geschickt! Sie sehnen sich nach Freiheit!

Löb Seligmann zitterte vor den Wirkungen, die dies theilnehmende Wort hervorbringen konnte.

Seligmann –! wandte sich der Küfer zu diesem.

141 Herr Lengenich!

Sie schwören uns –

Gott im Himmel –! Wenn es nicht anders sein kann –!

In der That – es wurde jetzt eine Flucht besprochen. Warum sollte der fromme Küfer nicht den Pater nach Lüttich befördern helfen zu den Vätern der Gesellschaft Jesu? Klingsohr hatte sich auf die seiner Phantasie vorgespiegelte Flucht wild umgewandt. Seligmann war außer sich, als die Verabredung getroffen wurde, daß an zwei einsamen Pappeln, die Sebastus von seinem Lager aus bezeichnete, in der Dämmerung am heutigen Tage des Leichenbegängnisses der Lengenich'sche Wagen stehen sollte – er war mit eigenem Fuhrwerk gekommen . . . Erst als Klingsohr zu Löb sagte: Sind Sie denn feiger, als ein Mädchen? Meine Flucht war ja von Ihrer – neuen Deborah veranstaltet! gab er nach. Veilchen hatte allerdings etwas vom Geiste der Deborah, selbst noch hinterm Ofen.

Die Flucht scheiterte, wie wir wissen, an der Akustik der Krankenstube des Klosters. Stephan Lengenich hatte seine Rede an der Eiche im Düsternbrook gehalten, hatte, wie sich so leicht an alles Erhabene der Schnörkelstrich des Lächerlichen knüpft, die Unterbrechung durch die Possen Stammer's erleben müssen, hatte die Genugthuung sowol der Unterstützung des Mönches Hubertus, wie der Ohnmacht jener Lisabeth, welche ihre Falschheit entlarvte – zu ihrer goldenen Uhr trug sie schon lange mehr als nur Eine Kette. Alles Wunderbare war geschehen, der Zug vorübergegangen. Löb Seligmann zog den neuen Wilhelm Tell, der den Ruf des »Tyrannen« wenigstens noch mit Pfeilen des Wortes erlegt hatte, aus dem Gewirr des gestörten Leichenzuges. Tangermann in Witoborn wurde nicht erst von dem großen Todten und Weinrichter angeschmeichelt um seine Gelbsiegel, als es galt dem Gelungenen und noch Kommenden zu trinken, 142 vielmehr stellte dieser drei Rothsiegel als »die Sorte nicht« zurück, die ihm allein genügen konnte, seine Zunge zu befeuchten, während er den umstehenden Neugierigen Aufklärungen gab über sein ganzes großartigverschlungenes Lebensschicksal. Im Sturm und zu allen Unternehmungen fähig, fand er sich dann mit seinem Einspänner an den beiden Pappeln beim Kloster ein. Er wartete, wartete zwei Stunden aus den Flüchtigen. Aber Pater Sebastus kam nicht. Dann fuhr er ab, dem Triumphzug in seine heimatlichen Keller entgegen.

Löb Seligmann aber dankte Gott dem Unaussprechlichen, Gott Adonai, als er von diesen Beziehungen zu einem so eigenthümlichen Staatsdemagogen befreit wurde, Beziehungen, worein er sich nur auf das magische Wort »Veilchen« und auf die Hoffnung eingelassen hatte, im Kloster Himmelpfort würde er Bekanntschaften machen, von denen er etwas über Leo Perl erführe.

Selbstverständlich war es, daß er sich einige Tage später die Brandstätte in Schloß Westerhof ansah. Er hatte mit so vielen Adeligen in diesen Tagen zu thun: er mußte vom Neuesten als Augenzeuge sprechen können. Gerade bei einer Bekanntschaft, die er mit besonderem Gewinn gemacht hatte, der mit dem Präsidenten von Wittekind und dessen geschäftskundiger Gattin, der Mutter des Domherrn von Asselyn, konnte ihm ein solcher authentischer Bericht die Bürgschaft eines angenehmen Eindrucks werden, falls er sich, wozu er Veranlassung hatte, gerade heute noch nach Schloß Neuhof begab.

Mit Rührung hatte er den Arbeitern, die den Schutt aufräumten, im Wege gestanden; mit betrachtendem Schmerz hatte er sich dem Strahl einer noch immer arbeitenden Spritze ausgesetzt. Er sah nur, staunte und schüttelte sich die Tropfen ab. Es war ein Einschnitt in die eine Seite des Schlosses entstanden. Man konnte von der Brandlücke links und rechts die offenen 143 Zimmer sehen, wie nach Löb's Phantasie im Theater, wenn »Zu ebner Erde und erster Stock« gespielt wird. Haufen von Büchern, Kissen und Kasten erinnerten ihn an die Rumpelgasse.

Eben trugen Bediente und Arbeiter Körbe voll Schriften nach einem entlegenen Thurm. Baron von Hülleshoven und Baron von Terschka, beide hatten heute kein Auge für ihn. Sie begleiteten die Körbe und hoben auf, was denselben entfiel. Es waren Schriften und Documente und darunter gewiß lateinische und französische – für David Lippschütz würden sie vielleicht »den Ankauf von Schulbüchern ersetzt« haben. Löb sah sich darauf hin schon einige derselben an; sie wurden ihm mit Verweisen aus der Hand genommen. »Dulden ist das Erbtheil unseres Stammes!« lag in seinen wehmuthumflorten Augen. Hatte er diese Bücher denn heimlich einstecken wollen? Heute war auch Fräulein Benigna, den Umständen entsprechend, von mehr abweisendem, als zuvorkommendem Benehmen gegen den Mann der praktischen Ackerwirthschaft. Gräfin Paula schwebte da und dort hinter den Fenstern wie ein verstörter Geist. Er hatte viel von ihren Wundern und Ferngesichten gehört und befand sich darüber, wie seinem Glauben natürlich ist, im Zustande gelinden Zweifels. Ein Gespensterglaube, der sich an das Wunderbare durch Figuren von Lehm gewöhnen soll, die durch ein Zahlengeheimniß die Befähigung erhalten, jeden Freitag mehr als menschenmöglich Schalet zu essen, kann das Gemüth nicht besonders für das Wunderbare empfänglich stimmen. Nur Armgart berücksichtigte ihn plötzlich und sogar mit hohem Interesse. Als sie ihn sah, rief sie ihn voll Schrecken an: Haben Sie wol Neues aus Kocher am Fall?

Mein gnädiges Fräulein –!

Ist mein Vater abgereist? Vielleicht schon in Witoborn? Reden Sie!

144 Mein Fräulein –! . . . Seligmann fand sich nicht sofort in die determinirte Frage. Er genoß zu lange erst die Thatsache der Anrede als solche selbst. Als er sich dann aber in die Begebenheit gefunden hatte, glich sein Antlitz den Gesetzestafeln, wie sie aussahen, als Moses auf den Sinai hinaufging – sie waren leer. Armgart ließ ihn, da sein Schweigen nur ein umständliches Vorbereiten auf das Verschleiern seines Nichtwissens wurde, ebenso schnell stehen, wie sie ihn angeredet hatte.

Das kostete wieder einige Zeit des Besinnens und wieder einige Spritzengüsse. Bei alledem aber doch höchst geschmeichelt und befriedigt von einer so »ehrenvollen Aufnahme«, carriolte er wieder auf Witoborn zurück. Er führte sein halbbedecktes Wägelchen selbst. Es gehörte einem witoborner Kutscher, dem er für die richtige Behandlung des Gauls ein ansehnliches Pfand hatte zurücklassen müssen. Löb verstand sich aber auf alles, was zum Leben des Landes gehört. Er war die seltsamste realistische Natur, die sich zugleich zum Idealen erheben konnte. Sein Wissen und Thun war erfüllt von Thatsachen der Wirklichkeit bis zum Klee und zum Dünger hinab und sein Fühlen blieb dabei ganz Aether. Seligmann war kein Pantheist oder Spinozist (die Einwendung, die er einst gegen Veilchen's Pantheismus gemacht hatte, lautete: »Ei Veilchen, der Geist Gottes schwebte doch über den Wassern! Und Sie sagen: Er schwebte in ihnen –?«) – aber sein Gott blies alle Instrumente und in der Luft klang es ihm wie Sphärenmusik.

Bei Witoborn wieder angekommen (bereits nach dem Gruß an die Dame von Sicking und ihre verschleierte Begleiterin) mußte Löb etwas langsamer fahren, denn die Wallanlagen sind erhöht. Wieder traf er hier mit jenem Mönch zusammen, der an der Eiche sich so nützlich gemacht hatte. Wieder grüßte er ihn aufs verbindlichste. Für die abschreckenden Gesichtsformen dieses resoluten Mannes 145 hatte er kein Auge – Er dachte nur an Aufklärungen über Leo Perl, auch über den armen »Feind von ihm« – über Sebastus –

Hubertus ging eine Weile neben seinem Wagen einher und redete jetzt Löb an. Er ließ sich von der Brandstätte erzählen. Der Verdacht über den Ursprung des Feuers haftete immer noch an dem Kohlentopf.

Im Hören und Gehen verfolgte Hubertus einen Plan. Als Löb Seligmann in die Stadt einbiegen wollte, bat er ihn, einen Augenblick still zu halten. Wollen Sie einsteigen? fragte der gefällige und auf diese Art seinen Absichten wegen Leo Perl so nahe kommende Mann und rückte schon zur Seite.

Hubertus sagte, er möchte so gern einen Kranken, der hier dicht in der Nähe läge – er wäre beim Brande verunglückt – ins Kloster schaffen; er verstünde sich auf das Heilen von Brandwunden besser, als die Aerzte im Spital.

Aber ich muß nach dem Schlosse Neuhof – entgegnete Löb, theils einem an sich unbequemen Ansinnen ausweichend, theils auch gelegentlich die Orientirung des Mönches über seine vornehmen Bekanntschaften unterstützend.

Das ist nur ein Umweg! – sagte Hubertus. Sie werden nicht viel um eine Stunde später ankommen. Freilich, setzte er hinzu, mit einem Kranken muß man etwas langsam fahren –! Diese Worte kamen aber so vom Herzen, so theilnahmvoll und Gemüth auch im Juden voraussetzend, daß schon Löb gewonnen war. Er hörte im Geist seine Schwester sagen: Gott soll dich segnen hundert Jahre!

So stieg Hubertus ein und der Gaul lenkte in einen Seitenweg, auf welchen der Mönch mit seinen knöchernen Fingern gedeutet hatte.

Sogleich gaben die Kirchhöfe den natürlichsten Uebergang des Gesprächs auf die gemeinschaftlichen Erlebnisse am Düsternbrook, auf den Küfer, Pater Sebastus, von dem Löb erfuhr, daß 146 er für seine beabsichtigte Flucht in der Strafzelle sitzen müsse, auch auf den Tod des Landraths von Enckefuß. Hubertus erzählte seine Betheiligung an des Landraths letzten Lebensstunden und mehrte dadurch nicht wenig den Anschluß Seligmann's, der sein Selbander zwischen Jud und Christ zwar nicht ganz mit den Empfindungen genoß, zu denen Andere wol durch Lessing's »Nathan« angeregt werden, doch jedenfalls mit mancher wohlthuenden Reminiscenz aus Marschner's Oper: »Der Templer und die Jüdin.«

Bald war es Mittagszeit. Löb sprach von einem Wirthshause, wo man in einer Stunde würde füttern können. Vor drei, vier Uhr erreichte man beim langsamen Fahren und Einschlagenmüssen von Vicinalstraßen das Kloster nicht.

Hubertus stimmte zu und Löb begann schon von Borkenhagen. Da aber zeigte Hubertus auf das Haus der Mutter Schmeling, in dessen Nähe sie halten wollten.

Sie fuhren nun eine Strecke seitwärts vom Wege ab. Plötzlich stutzte Hubertus. Er entdeckte einen Gensdarmen, der eben ins Haus der Hebamme trat. Unwillkürlich fuhr sein linker Arm auf die Kapuze, die sein kahles Haupt bedeckte, und drückte sie tief ins Gesicht. Er fürchtete sein Erschrecken zu verrathen.

Der Wagen hielt und Hubertus wußte eine Weile nicht, sollte er aussteigen oder bleiben. Ein Halbdach bedeckte beide, ihn und Seligmann. Er drückte sich sogar an die Hinterwand zurück.

Kommt der Mann von selbst herunter? dachte Seligmann, den Grund des Zögerns nicht begreifend, und stemmte seine Peitsche erwartungsvoll auf die Schöße seines blauen Mantels.

Hubertus ermannte sich endlich und stieg aus.

Mit Empfindungen, gemischt aus Theilnahme, allerlei Gedanken über Religionsunterschiede und zugleich etwas Neugier über den Gensdarmen und die ihm unbekannte Hantierung der Frau 147 Schmeling, sah Löb dem Mönche nach, der in die Nebelnässe hinaustrat und den sich verengenden Hohlweg erst nieder-, dann aufwärts schritt. An der Hauspforte blieb Hubertus eine Weile stehen und horchte.

Mutter Schmeling hatte ja schon früher, das wußte er, in ihm unbekannten Angelegenheiten Gensdarmen bei sich erwartet. Seiner Besorgniß aber schien es nun doch entschieden, daß der an den Landrath gegangene Brief in officieller Weise wiederholt worden war. War der Verbrecher erkannt, wie durfte er ihn da noch der gerechten Strafe entziehen –! Schon ergab er sich und dachte: Arme Lucinde! So handelte und fühlte er schon im Bann der bestrickenden Ueberredung dieses Mädchens –! So in Erregung schon durch das bevorstehende abenteuerliche Leben als Eremit und die Flucht nach Rom –!

Hubertus hörte die Stimme der Schmeling und das Säbelrasseln des Gensdarmen, der eben die Treppe hinaufstieg. Je mehr sich der Wächter der öffentlichen Ordnung von der Schmeling zu entfernen schien, desto lauter erscholl ihre Stimme. Jetzt unterschied er deutlich, daß sie hinter ihm herrief: Ja, suchen Sie nur oben! Suchen Sie! Sehen Sie, ob bei mir Katzen entbunden werden! Aber daß Sie sich nur nicht dabei am höllischen Feuer verbrennen! Teufels Großmutter muß böse Katzen haben. Mies, mies, mies –! Komm Mies und nimm dein Wochensüppchen von dem Herrn Gensdarmen! Herr Müllenhoff schickt dir's ja! Komm! Komm! Unser Kindchen hat zwar die Nothtaufe gekriegt, aber sie ziehen's mit Milch und Wasser auf! Großmutters Mieschen –!

Hubertus hatte kaum etwas von einer Katze gehört, als er auch wol annehmen konnte, hier wurde eine andere Fährte, als die des Brandstifters gesucht. Er hatte die Beruhigung, den Gensdarmen, der, als er nun selbst eintrat, schon wieder die Treppe 148 herabstieg, lachend sprechen zu hören: Schon gut, schon gut – Frau Schmeling! Wir thun eben, was uns befohlen wird! Ich höre und sehe und, was die Hauptsache ist, ich rieche nichts von Katzen bei Ihnen! Nämlich Katzen, die hier gejungt hätten! Schon gut! Schon gut! Ei, da kriegt Ihr ja Mittagsgäste! Wir haben heute alle Hände voll zu thun –! Nun, er ist richtig hinüber, Väterchen!

Wer? fragte Hubertus, dessen Gedanken nur an Bickert hafteten.

Der Landrath – Ja so! Den Menschen vom Schloß oben sucht Ihr wol? unterbrach sich der Gensdarm selbst. Wetter, das war gestern Abend Euer Meisterstück! Ich glaub's, daß Ihr ihn nicht weiter habt bringen können, als bis hieher –!

Inzwischen hielt Frau Schmeling schon dem Landrath nicht die erbaulichste Nachrede. Und der Gensdarm schilderte Hubertus' gestrige Rettung des gräflichen Dieners. So lief diesem alles gemüthlich und beruhigend ab.

Inzwischen fiel der doch immer noch nach Katzen spähende Blick des Gensdarmen auf ein junges Mädchen, das in der Küche stand. Ei Lene! sagte er erstaunt und fuhr mit zweideutigem Tone fort: Sie hier? Na! das dacht' ich wol, daß es mit Ihr so weit kommen würde! Geb' Sie nur keinen Unrechten an –!

Frauen, wie Mutter Schmeling, sind immer in der Lage, bei vermöglichen Leuten für Ammen sorgen zu müssen und die Lene war ein schwarzäugiges Ding, das nächstens dazu empfohlen werden konnte.

Ja, sagte die Hebamme höhnisch, auf dem Finkenhof kommt nun bald keine mehr zu Schaden! Der Finkenhof wird ja ein Betsaal!

Bruder, Bruder! fuhr, inzwischen schon wieder dem Mönche zugewandt, der Gensdarm fort. Die Leiter so lange frei zu halten, 149 das hätte keiner fertig gekriegt! Und schon am Morgen bei der Jagd die Noth mit unserm Alten –! Der ist denn also hin. Guter Kerl gewesen, das ist wahr, aber krank war er im Kopf schon lange – vor lauter Ambition! Wir sagten's nur keinem. Als der Kronsyndikus begraben wurde, sagte er noch: Gebt Acht, nun weiß ich, was der arme Tropf mir vermacht hat! Hier vorn auf den »Deetz« zeigte er – Was steht denn da draußen für ein Fuhrwerk? unterbrach sich der Argusäugige, der zum Zeichen der vom Kronsyndikus auf den Landrath vererbten Geisteskrankheit auf den Kopf gedeutet hatte.

Hubertus sprach ohne langes Besinnen, der Mann im Wagen draußen wolle ihm helfen den Kranken ins Spital bringen.

Herr Seligmann –? Das Fuhrwerk gehört Schöninghs . . .

Mit diesen ruhig controlirend hingesprochenen Worten war der Gensdarm in verhallender Rede schon wieder zum Haus hinausgetreten und schon zum Hohlweg hinuntergegangen auf Löb zu, der ihn mit herabgezogenem Hute begrüßte.

Inzwischen hatte das Lachen und Zanken der Schmeling kein Ende. In ihren Reden spielten Staat, Kirche, Welt, Zeit, Sitte, Vorurtheil, das Gleichniß vom Splitter und Balken, der Pfarrer zu St.-Libori und ein junges Kätzchen, dessen Mutter man bei ihr suchte, die Hauptrollen – Sie kicherte höhnisch und hexenhaft.

Hubertus war mit seinem nächsten Vorhaben zu beschäftigt, um sich bei diesem Zwischenfall lange aufzuhalten. Wie geht's denn oben? fragte er, als ihm die Magd den gestern bestellten Speckkartoffelpfannkuchen brachte, dessen Fett- und Zwiebelgeruch das Haus durchduftete.

Suppe hat er und auch ein Stück Fleisch genommen! hieß es.

Nun, dann wird er's aushalten können! Ich nehm' ihn jetzt – ins Spital mit oder –

150 Hubertus murmelte während des Essens und blickte, scheinbar ruhig, nach der vorerwähnten Lene aus, die sich auch vor ihm versteckt hielt. Jetzt trat sie in ihrem Hoffnungszustande vor und stand mit kecken, funkelnden Augen vor dem Bruder und setzte dem Kopfschütteln desselben eine leichtfertige Geberde entgegen. So, so weit also, Lene! sagte Hubertus. Das hätt' ich wissen sollen, als ich dir immer die Briefe an den braven Wachtmeister schrieb, der dich heirathen wollte!

Was Wachtmeister! rief Mutter Schmeling. Die Lene ist heilig! Ja, heilig, sag' ich Ihnen. Wer bei einem Pfarrer gedient hat, der kann gar nicht sündigen!

Hubertus ließ sich auf so leichtfertige Anspielungen nicht ein.

Inzwischen klatschte draußen Seligmann ungeduldig mit der Peitsche. Es fing ihn an zu frieren, zu hungern und – auch zu ihm dufteten die Zwiebeln und der Speck anmuthend hinüber.

Hubertus eilte nach oben und war im Begriff, in das Staatszimmer einzutreten. Als er die Thür öffnete, bot sich ihm ein erschreckender Anblick. Der Kranke stand im Hemde, mit den beiden eingewickelten Händen in abwehrender Stellung, Furcht und Schrecken auf seinen Mienen. Unfehlbar hatte ihn in solche Aufregung das Suchen des Gensdarmen gebracht, den er im Hause gehört hatte. Der Gensdarm hatte zwar nur die Thür geöffnet und den gräflichen Diener scheinbar schlafend gefunden und sich mit leichtem Murmeln ohne weiteres entfernt. Bickert war aber hinter ihm aufgesprungen und stand jetzt da, wie auf Tod und Leben gerüstet.

Jantje, Jantje! rief Hubertus, indem er sich schon zu einem Handgemenge rüstete. Ihr erkältet Euch ja!

Wer ist Jantje! stöhnte Bickert, aber mit gesammelter äußerster Kraft.

Sieh, sieh, du kannst reden! Ich dachte gestern – Bei so 151 großem Schreck hat mancher einen Krampf im Kinnbacken weg – zeitlebens –!

Schreck? Worüber? Wer seid Ihr? Bringt mich aufs Schloß! Zu meiner Herrschaft, sag' ich!

Hubertus wußte nicht, ob ihn der stumpfsinnige Mensch seit gestern nicht mehr erkannte, und noch weniger, ob er eine Erinnerung hatte an seine früheste Knabenzeit, die ihm gestern doch nicht ganz verklungen zu sein schien, oder ob er seinen Absichten mistraute und sich so nur verstellte. Es ist ja ein Kohlentopf gewesen! sagte er mit Schärfe und drängte den vor Kälte Zitternden ins Bett zurück. Jetzt aber ruhig! Eure Stalljacke hält nicht sehr warm – Ich habe aber unten eine tüchtige Pferdedecke. Ein Kohlentopf war's, von dem das Feuer aufkam. Nun, haltet doch Stand! Ich ziehe Euch jetzt an! So war's nicht immer dazumal, wenn Heyum Picard an der Waldecke stand und pfiff und von der Windmühle pfiff's wieder und Abraham kam und seine Gevattern – nein, so können wir nicht Leon Levi und Moses Ocker nennen – die Taufe kam in Brest erst, wo sie einem dann – haha! – gleich so ein hübsches Pathengeschenk mit auf den Arm brannten! Haltet doch nur! So zart hat uns freilich die Hanne Sterz dazumal Sonntags nicht geputzt! . . .

Die Macht aller dieser Worte war niederschmetternd. Der Verbrecher vermochte nicht dagegen aufzukommen. Hubertus würde beim Ankleiden ruhig so haben fortfahren können, die Erinnerungen an das Gewissen des verstockt Niederblickenden zu wecken, wenn nicht vor Ungeduld, Neugier, Nächstenliebe, Anziehungskraft des Pfannkuchens Löb Seligmann auf der Treppe erschienen wäre und sich erboten hätte, den Kranken tragen zu helfen – »Gott! Bei deinen Kräften!« hörte er freilich im Geist die Hasen-Jette sagen. Dem Gaul hatte er die Leine gekürzt und ihn vertrauensvoll stehen lassen.

152 Auf diese Art konnte Hubertus keine weitere Verständigung herbeiführen, als eben nöthig war, um den jetzt Angekleideten zum Folgen zu zwingen. Sich tragen zu lassen widerstand Bickert. Wohin? murmelte er.

Gott im Himmel! sprach Löb Seligmann, staunend über diese Widersetzlichkeit. Der Mann ist noch im Fieber –! Wohl mußte er befremdet sein über die wilde Miene des Trotzes, über den Widerstand gegen eine Hülfe, die dem Kranken so liebevoll geboten wurde.

Hubertus führte Bickert und sprach laut: Daß ich Euch nur da am Arme nicht weh thue! Da, wo Ihr das Brandmal bekommen habt, Aermster! Ich meine, gestern –! Es sieht aus, wie wenn auf dem Arme chinesische Buchstaben stünden – Chinesisch hab' ich lesen gelernt! Ein Jahr später, als wir alle von Mynheer Kattrepel abgeholt wurden – wißt Ihr noch, Vater Kattrepel unterm Dreibein –! Ich meine – als ich unter die Soldaten nach Java ging! . . . Ja Lene! Lene –! Wachtmeister war ich auch einmal. Und betrogen – das wurd' ich auch! Aber so nicht, wie der brave Spikermann bei den Husaren von dir! Leichtsinniges Ding du! . . . Laß dir's nur erzählen von Mutter Schmeling, wie mir's einst ergangen –! Aber eine Vergleichung mit dir wäre eine Sünde! Frau, rechnet Euch all Euer Gutes, das Ihr schon gethan habt, vor Gott an – und auch dies Werk der Barmherzigkeit – ich meine, wenn Ihr einmal zur Rede stehen müßt für Eure lästerlichen Reden über den Pfarrer zu St.-Libori und uns andere Gottesheilige –!

Im Verlassen des Hauses mußte Hubertus dennoch den auf dem glatten Boden bergab Ausgleitenden tragen. Bickert wußte nicht, ging es mit ihm hinter Schloß und Riegel oder zur Freiheit. Wer der Mönch sein konnte, dessen entsann er sich . . . Dennoch, selbst wenn er ein Gegenstand nur der wohlwollendsten 153 Absichten blieb, erbitterte ihn die Entdeckung seiner Thäterschaft, die er so tief verschleiert geglaubt hatte und von welcher er auch jetzt annehmen konnte, daß sie hier niemand außer diesem Mönche wußte – Hammaker, der ihn gedungen und kurz vor seiner Verhaftung mit der Urkunde versehen hatte, war ja todt! Noch einmal erhob er sich, schlug um sich und rief: Ich will aufs Schloß! Zu meiner Herrschaft!

Löb Seligmann fuhr so jählings zurück, daß er fast noch gefallen wäre – zum Dank für all seine Menschenliebe. Nur die Kraft und Geistesgegenwart des Mönchs halfen zuletzt zum Ziel. Hubertus setzte den in die Pferdedecke Eingehüllten entschlossen in den Wagen, wies Seligmann vorn auf den Bock und nahm neben Bickert Platz. So fuhren sie alle drei von dannen. Bickert zusammengekauert in einer Wagenecke. Hubertus neben ihm, voll Grübeln über die Veranstaltungen seiner weiteren Hülfe und hinausstarrend in die winterliche Gegend. Löb vorn, mit zurückkehrender Heiterkeit und Redseligkeit, die sich um so mehr in zuweilen geträllerten kleinen Liedchen kund gab, als beim Ort Borkenhagen die Aufklärungen über Leo Perl beginnen sollten.

An dem von Löb bezeichneten Wirthshause wurde halt gemacht und der Gaul gefüttert. Auch Löb nahm hier mit Auswahl, was vorhanden war. Hubertus verschmähte trotz seines Pfannkuchens nichts, was ihm die Küche hier noch schenken konnte – Bickert lehnte alles ab. Er schien sich inzwischen mit dem Gaule zu befreunden. Hubertus blieb jedoch in der Nähe, um jede verdächtige Bewegung zu beobachten. Kennt Ihr mich also jetzt, Jean Picard? fragte er, indem er mit einem Suppentopf zu ihm herantrat und mit dem hölzernen Löffel, den er immer bei sich führte, aß.

Bickert sagte, düster die buschigen Augenbrauen 154 zusammenziehend und ihn voll Verlegenheit angrinsend: Ich kenne Euch nicht und heiße auch nicht so!

Das wäre schlimm! entgegnete Hubertus. Denn ich bring' Euch in mein Kloster, wo ich gerade für den, dem Ihr so ähnlich seht, eine hübsche Summe Geld liegen habe. Im Bettstroh, Brüderchen, da heben wir Mönche uns manchmal auch was auf –

Der Verbrecher drehte sich vor Unruhe hin und her.

Daß Ihr's brauchen könnt, weiß ich von einem wunderschönen Fräulein – Weiß der Himmel, wie die an Euch gekommen! Ja, es gibt manchmal seltsamen Geschmack! – Amerika ist weit und einen guten Platz wollt Ihr doch auch haben, wenn Ihr zu Schiff geht, nicht einen, wo drei auf zehn immer sterben. Särge gibt's auf dem Wasser nicht, das wißt Ihr doch – Wer draufgeht, muß ins Wasser! Ganz so nackt, so kahl, wie dazumal der Todte war, dem ein gewisser Teufel seine letzte Ruhe störte.

Bickert erhob sich starr.

Rollt ja so die Augen –! Im Mondschein hab' ich vielerlei gesehen, Löwen und Tiger, wie sie Menschen zerrissen hatten – Selbst Hyänen, wie sie Leichen stahlen – Aber noch sah ich keinen Todten, dessen Seele schon im Himmel ist, neben seinem Sarge liegen, worin ein Mensch noch nach Geld sucht! War denn kein heiliges Bild in der Nähe, das dazu zu sprechen anfing? Heyum Picard's Taufe mag freilich nicht tief gegangen sein – Hanne Sterz war aber doch leidlich fromm! Wo steckt die wol jetzt? Auch – unter der Erde –?

Bickert sah bei diesen scharf betonten und fast nach den Silben ihm zugezählten Worten empor wie zu einem Richtschwert.

Inzwischen brachte Seligmann ein Glas Wein, das er dem Kranken anbieten wollte. Die Kunde von dem beim Brand Verunglückten, durch Hubertus so aufopfernd Geretteten hatte 155 sich bereits im Wirthshause verbreitet. Der Wagen wurde von Neugierigen umstanden. Bickert verbarg sich in seiner Decke.

Die Fahrt ging weiter, ohne daß sich Hubertus vollkommener mit Bickert verständigen konnte. Bickert sah ihn wie den Boten seiner Richter an.

Tapfer und frisch ermuthigt schwang Seligmann die Peitsche. Hubertus gerieth ins Erzählen und brachte Dinge zur Sprache, die nach allem, was von ihm erlebt worden war, wunderbar genug sein konnten. Allmählich schien darüber Bickert zur Ueberzeugung zu gelangen, daß es wol am gerathensten sein würde, den guten Absichten des Alten, auf den sich seine verdüstertes Gedächtniß mehr und mehr besann, zu vertrauen.

Schon war es Dämmerung, als die langsam gehende Fahrt bei Borkenhagen und dem dortigen Pfarrhause ankam. Auf Löb Seligmann's Frage nach Leo Perl erwiderte Hubertus in der That: O, den kannt' ich! Ein getaufter Jude war's! Juden – nehmen Sie's nicht übel, lieber Herr – Juden sind die curioseste Nation. In Java hab' ich sie gerad' so gefunden, wie hier. Brave Seelen darunter, wie Sie, Herr, wahre Samaritaner! Aber – auch schlimme – blutdürstige sogar – –! Wo sie unter sich und nach ihren eigenen Gesetzen leben, begreift man, wie sie sonst steinigen konnten, wie sie hinter Propheten herliefen, sie um Wunder fragten und, wenn sie noch soviel Wunder auch thaten, sie doch ans Kreuz nageln ließen. Das ist die alte heiße Sonne Asiens –!

Auch Löb fühlte in den Finales und bei den Chören der heroischen Opern etwas vom Blut der Makkabäer. Gegen Bernhard Fuld hatte er an jenem drusenheimer Sonntage wirklich im Geist nach dem Schwert gegriffen. Doch lehnte er alle diese Ansichten über das Temperament seines Volks ab und sagte lachend: Der Jude ist heiß, das ist wahr! Aber er ist, wie Gott 156 der Herr – ein Busch voll Feuer! Hat Einer Courage und greift zu, immerhin – an einem Juden verbrennt sich keiner!

Bei Erwähnung des Namens »Leo Perl« und des Umstandes, daß Seligmann mit diesem Priester verwandt war, horchte Bickert auf. Auch ihm war ja dieser Name erinnerlich – es war die, allerdings mühsam, von ihm herausbuchstabirte Unterschrift unter dem lateinischen Papier, das er – statt Geld – im Sarge des alten Mevissen gefunden und an Lucinden gegeben hatte zur Uebergabe an den Beichtpriester.

Ich sagte, fuhr Hubertus fort, daß ich den Pfarrer Perl kannte. Eigentlich aber zum Kennen war es kein Mann. Er verrichtete sein Amt, war ein großer Redner, celebrirte wie ein Heiliger, stattlich stand er am Tabernakel. Aber in seine Nähe ließ er niemanden und die Leute fürchteten sich vor ihm.

Warum ist er Christ geworden –?

Aus Erleuchtung – denk' ich –

Da oben hinterm Berg der Kronsyndikus und der Dechant von Asselyn in Kocher am Fall waren die Ursache seiner Erleuchtung!

Auf den Namen »Asselyn« zuckten die Augenbrauen des Verbrechers und auch Hubertus kam von Seligmann's Fragen durch die Erwähnung des Kronsyndikus ab. Seligmann unterbrach jedoch sein Grübeln: Sie haben Leo Perl nicht näher gekannt?

Nur einmal in meinem Leben hab' ich ihn gesprochen.

Was hat er gesprochen?

Gesprochen hat er, um es recht zu sagen, vorher schon ein Jahr lang mit mir, aber nur durch Blicke.

Durch Blicke? Wie so Blicke?

Immer, wenn er mir im Felde begegnete, sah er mich mit seinen großen schwarzen Augen an.

Warum sah er Sie an?

157 Damals war ich kurz zuvor noch Jäger gewesen und eben erst ins Kloster gegangen. Oft war es mir, wenn ich ihn grüßte, als wollt' er mit mir reden. Dann blieb ich stehen. Aber er ging vorüber. Das dauerte, bis seine schwere Krankheit kam –

Welche –?

Die Zehrung.

Der starke Mann die Zehrung –!

Wenn er hustete, krachte es wie ein Gewölbe!

Gott im Himmel –!

Ich ließ ihm ein Mittel anbieten – Ich dokt're ein wenig –

Es half nichts?

Er nahm's nicht!

Aus Stolz auf die Gelehrsamkeit, auf die Wissenschaften –!

Oder er wollte keine Furcht vorm Tode zeigen. Das sagte er mir, als ich mit ihm das einzige mal gesprochen hatte.

Warum sprach er mit Ihnen –?

Er wollte mir für mein Mittel danken!

Wollte Ihnen danken –!

Bruder, sagte er, ich werde sterben – In drei Tagen bin ich todt!

Das wußt' er –?

Wollt Ihr mir einen Gefallen thun?

Sprach der Pfarrer zu Ihnen? Und Sie thaten ihn –?

Finster zuckten seine Augen. Er mußte wieder heftig husten. Als sich die Brust beruhigt hatte und er wieder sprechen konnte, schickte er seinen Vicar hinaus.

Seinen Vicar?

Namens Langelütje –

Langelütje!

Nun sah er sich um und sprach mit seiner heisern Stimme: Bruder Hubertus, ich habe von Euch manches Gute gehört! 158 Aber auch Euch ist's schlecht im Leben ergangen. Auch Euch haben Liebe und Freundschaft betrogen –

Wen hat Liebe und Freundschaft betrogen?

Doch nicht alle, fuhr Hubertus fort, ohne Löb's Uebermaß von Wißbegierde und Einsammlung von Unterhaltungsstoff für Veilchen Gehör zu geben, sind so versöhnlich wie Ihr!

Wer sind die Andern –? Wen hat die Liebe betrogen –?

Andere treibt die Rache –!

Wen hat die Rache getrieben –?

Bei diesem Worte erstickte des Pfarrers Stimme und der Husten begann so heftig, daß es wol eine Viertelstunde bedurfte, bis er sich erholt hatte. Nun erhob er sich von seinem Lager und flüsterte mir zu: Da! Wenn ich todt bin, Bruder, seht – da hab' ich eine Schrift –

Bickert's furchtentstelltes Antlitz bekam einen Ausdruck schärferer Fassungskraft. Hubertus merkte nichts davon – nur sorgen mußt' er, daß Löb nicht sein Pferd aus dem Auge verlor – und fuhr fort: Wenn ich todt bin, sagte der Pfarrer, da hab' ich eine Schrift – Schwört mir zu Gott dem Allmächtigen, daß Ihr diese Schrift nie erbrechen wollt –! Seht, sie ist mit meinem Kirchensiegel versiegelt!

Bickert fühlte in der Erinnerung dies Siegel des lateinischen Briefes gleichsam handgreiflich.

Tragt diesen Brief, sobald ich begraben bin – hört Ihr, nicht gestorben, sondern erst, wenn ich begraben bin – so, wie sich einem Pfarrer geziemt begraben, versteht Ihr – nach Witoborn – hört Ihr, zum Bischof!

Warum zum Bischof –? brach Seligmann erstaunend aus. Er war auf Testamentsgedanken gekommen und suchte im Tone anzudeuten, ob katholische Pfarrer nicht einfach ein Testament bei den Gerichten niederlegen dürften.

159 Zum Bischof! bestätigte Hubertus. Es war dies damals Bischof Konrad. Ein Freund meines gutes Guardians, des Provinzials Henricus. Ein sanfter, milder Greis, der den Pfarrer Perl getauft hatte, ihn im Seminar zu Witoborn unterrichtete, zum Priester weihte. Ein guter, in die Jahre gekommener und sehr vergeßlicher Mann. Immer noch steht er vor mir lebendig – mit einer Nase – so lang –!

Hätten Sie die Nase gehabt und gemerkt, was in dem Briefe stand –! sagte Seligmann.

Das erfuhr ich nie. Der Brief war an die Curie gerichtet und abzugeben an den Bischof. Dem denn gab ich ihn. Der Bischof erbrach, sah eine lange Zuschrift in Latein, legte sie zum spätern Lesen zurück und plauderte mit mir. Nun – und das ist alles, was ich mit Leo Perl im Leben zu thun gehabt habe!

Und plauderte mit mir –? wiederholte sich Seligmann. Und mit einer nur scheinbaren Geringschätzung sagte er dann laut: Was kann er geschrieben haben? Löb wollte verschleiern, daß man hier eine außerordentlich wichtige Entdeckung anzunehmen hätte.

Hubertus zuckte die Achseln und konnte in der That keine weitere Auskunft geben.

Warum war der Brief lateinisch –? fragte Seligmann.

Er hatte ohne Zweifel die Bestimmung, nach Rom geschickt zu werden.

Nach Rom! Warum nach Rom –?

Weil der Heilige Vater alle unsere Wünsche persönlich und deshalb in lateinischer Sprache zu hören wünscht.

Warum schickte Perl seine Wünsche nicht selbst nach Rom?

Der Weg nach Rom geht für einen Pfarrer nur über seinen Bischof!

Wissen Sie was? sagte Seligmann in immer mehr sich 160 steigerndem Verlangen, hinter diesen letzten Willen seines leiblichen Vetters zu kommen. Ich glaube, der Bischof hat den Brief gar nicht nach Rom geschickt! Ich meine – weil er so vergeßlich war!

Nicht unmöglich –!

Und wenn er ihn doch schickte, dann hat er vorher eine Abschrift genommen!

Was für Rom bestimmt ist, muß für Rom bestimmt bleiben . . .

Nein, ich sage, der Brief liegt noch drüben im witoborner Archiv und enthält die Anzeige, daß Perl's Vetter Löb Seligmann oder dessen Neffe, Namens David Lippschütz, ein Sohn von Henriette Lippschütz, alle seine geheimen Ersparnisse erbt, ausgenommen die Bücher, die ein gewisses Fräulein Veilchen Igelsheimer kriegt, deren Liebe und Freundschaft ihn nicht betrogen haben, und die alten Kleider – die sind fürs Geschäft seines Vetters Nathan Seligmann bestimmt!

Fragen Sie die jetzige Frau von Wittekind da oben! sagte Hubertus, erheitert von dieser nicht ganz im Scherz gemeinten Rede. Ihr erster Mann war der Regierungsrath von Asselyn, der Vater des Domherrn von Asselyn. Diese Frau kann vielleicht –

Was kann diese Frau, die ich ja heute noch sehen werde? sagte Löb und wandte sich auf Hubertus' Stocken um.

Hubertus zeigte eben jetzt nach dem Kloster Himmelpfort. Das Ziel seiner Reise war erreicht und nahm nur noch allein seine Gedanken in Anspruch. Wir sind am Ziel, sagte er, ließ halten und setzte nur noch, schon im schnellen Absteigen begriffen, hinzu: Der Regierungsrath hat sogleich nach dem Tod des Bischofs alle Bibliotheken und Archive Witoborns zu ordnen gehabt. Wenn er die Schrift damals noch vorfand, so liegt sie jetzt in der Bibliothek des Königs; sie war wie in Kupfer gestochen!

161 Diese Reden verhallten schon in den Zurüstungen des Aussteigens. Die ernsteste und schwierigste Aufgabe war eben jetzt für Hubertus zu lösen, die, Bickert unbemerkt ins Kloster zu bringen. Er lehnte ein Vorfahren am Kloster ab und weckte erst jetzt in Seligmann's Zügen einen Anflug von Staunen und Mistrauen. Es war dunkel geworden. Das Wetter war durchaus in Regen umgeschlagen. Schwer senkten sich lange schon die Nebel über die nahen Höhen. Einsam und still lag das Kloster. Hier und da blitzte in einer Zelle ein Licht auf. Um acht Uhr ging dort schon alles zur Ruhe. Zwischen sechs und sieben Uhr fand der Imbiß zur Nacht statt. Löb Seligmann fühlte sich jetzt von seiner ganzen Situation hier in der abendlichen Dämmerung unheimlich berührt.

Vorzugsweise hatte Hubertus beim Erzählen die Klosterkirche im Auge behalten, am Zifferblatt der Kirchthurmuhr schien er die Minuten zu zählen, die noch übrig waren bis Fünf. Meistens wurde die Kirche um Fünf geschlossen. Zugänglich war sie überhaupt nur durch einen Nebeneingang, der halb schon ins Kloster selbst führte.

An den beiden Pappeln, wo Stephan Lengenich so lange vergebens geharrt hatte, um den Pater Sebastus in seinem Wagen mitzunehmen, hielt nun auch Seligmann und sah, wie Hubertus, den Schlag öffnend, dem jetzt ruhig folgenden, immer stiller gewordenen Kranken den Arm bot, um ihm hinunterzuhelfen.

Schon läutete es drüben zur Vesper. Hubertus wußte, den Strang zur Vesperglocke zog Pater Ivo. Vor dem konnte er ruhig vorübergehen und sogar Bickert im Arme tragen, der Pater würde nicht aufgeblickt, sondern nur gesungen haben: Maria, Maienkönigin –!

Hubertus wandte sich an den über das Geheimnißvolle im 162 Benehmen des Mönches immer mehr betroffenen Seligmann mit den Worten: Guter Mann! Ich danke Ihnen von Herzen! Aber thun Sie mir jetzt noch einen Gefallen! Warten Sie hier ein Viertelstündchen! Ich muß – erst die Bewilligung – des Guardians – einholen. Ein Viertelstündchen! Dann vielleicht komm' ich zurück – Wo nicht, nun, dann denken Sie: Es ist alles gut! Dann dank' ich Ihnen von Herzen und, wollen Sie mir noch eine einzige Liebe thun, so sprechen Sie von unserer Reise mit niemanden, der nicht darnach frägt oder, besser noch, mit niemanden, der zu fragen kein Recht hat! Vor allem von der Unterkunft des Mannes hier im Kloster zu keiner Menschenseele! Sie wissen, es ist – von wegen der Doctoren. Wir sollen ja in Klöstern nur – die Seelen heilen –! Aber ich verstehe mich auf Brandwunden besser, als alle Aerzte in Witoborn!

Seligmann, der nicht gern auf ungesetzlichen Wegen wandelte, versprach mit merklicher Befangenheit, warten und schweigen zu wollen. Indem Hubertus den Kranken langsam dem Kloster zuführte und mit ihm allmählich hinter Hecken und im Abenddunkel verschwand, bekam erst für sein Samaritanerherz der ganze Vorfall etwas auffallend Abenteuerliches. Zu gewissen ängstlichen Vorstellungen, für welche ihm nur der Name fehlte, gesellte sich Leo Perl's Husten, Begräbniß und der lateinische Brief an den Bischof von Witoborn. Die geheimnißvolle Uebergabe erst nach dem richtigen Begräbniß eines katholischen Pfarrers –! Und die scharfe Betonung der Rache –!

In den ersten fünf Minuten seines Harrens hier im Abenddunkel begnügte sich Löb noch, in allem heute in Erfahrung Gebrachten blos eine reiche Befruchtung seiner Phantasie, seines Verstandes und Herzens zu Mittheilungen an seine kleine Weisheit in der Rumpelgasse zu besitzen. Das Dunkel der Nacht 163 nahm aber zu. Die Einsamkeit wurde gespenstisch. Das Davonschleichen des Mönches mit dem Kranken, der, wie er jetzt bemerkte, sogar seine Pferdedecke als Angedenken mitgenommen hatte – alles das mehrte seine Beklemmung. Und die Viertelstunde verging. Und es verging eine halbe Stunde. Und Hubertus kam nicht zurück.

Die Weisung des Mönches, daß er weiter fahren könnte, wenn er nicht zurückkehrte, hatte Seligmann allerdings für bestimmt empfangen. Aber gab er auch seine Pferdedecke preis – er taxirte sie auf die Zinsen, die ihm die kleine Auslage – vor Gott wieder einbringen würde! – sein gefälliger Sinn bestimmte ihn noch zu bleiben oder wenigstens seinen Gaul nur langsam und auch nur dem Kloster zu sich in Bewegung setzen zu lassen. Er sah sich dabei nach rechts und nach links um und spähte, ob nicht doch noch der Mönch zurückkehrte.

Alles blieb still und einsam. In der Ferne sah er Häuser wie im Nebel schwimmen. In nächster Nähe befanden sich nur Felder, abgegrenzte Gärten, kleine Baumgruppen, keine Menschen.

So erreichte er eine stattliche Allee, die zum Kloster führte, und hielt auch hier noch eine Weile. Da er durchaus niemanden zurückkommen sah, fuhr er langsam die Allee entlang dem Kloster zu und bekam immer mehr Mistrauen über all die sonderbaren Umstände, unter denen Hubertus seinen Pflegling mit sich genommen hatte. Warum alles das so heimlich? sagte er sich. Von jener Vorsicht, die man im Kloster wegen der Aerzte zu nehmen hätte, war er anfangs entschiedener überzeugt gewesen, als jetzt.

Inzwischen stand er schon dicht an der stattlichen Treppe, die zum geschlossenen Portal der Kirche führte. Als es noch immer still blieb, wollte er endlich weiter fahren. Aber sein 164 wißbegieriger Sinn bestimmte ihn, noch einmal einen Versuch zu machen, ob er nicht etwas von den beiden Verschwundenen in der Kirche entdecken sollte. Die Pferdedecke war an sich verschmerzt; er hätte aber doch gern gewußt, wo sie geblieben und wo sie einem Leidenden Gutes stiften sollte.

Dicht neben der stattlichen Aufgangstreppe zur Kirche begann die Einfriedigungsmauer des Klosters. Einige Schritte entfernt lag eine Thür, von welcher er durch den Besuch bei Pater Sebastus wußte, daß sie in einen kleinen Vorhof, dann zur Linken ins Kloster, zur Rechten durch einen Gang zu die Kirche führte. An diese Thür ging er heran und drückte, mit einiger Beklemmung über seinen Antheil an den Ursachen, die den Pater Sebastus in Haft gebracht hatten, auf die Klinke. Die Thür ging auf. Alles war still. Vorsichtig trat er einige Schritte weiter in den Gang zur Kirche.

Da hörte er plötzlich einen lauten, entsetzlichen Schrei. Gellend, markdurchdringend ertönte dieser Schrei, der von der Kirche her kam und wie die Stimme eines Erstickenden war. Unmittelbar darauf hörte er noch ein furchtbares Krachen, das weit im Schiff der Kirche widerhallte.

So bang ihm jetzt zu Muthe wurde und so wenig ihm eine Melodie der Ermuthigung ins Ohr klang – etwa ein »Frischgewagt!« aus dem »Maurer und Schlosser« – er war mit zwei Schritten, die auf dem Steinboden ängstlich widerhallten, vollends der Thür der Kirche – noch – näher getreten –! Der Tollkühne hörte jetzt eine leise Stimme singen, hörte einen Schlüsselbund klirren, sah jemand aus der Kirche kommen und huschte erst jetzt zurück auf den kleinen Vorhof, wo sich die Gänge nach links und nach rechts theilten.

Bei alledem dachte er: Ei was! Du kannst ja ein Verlangen tragen, dir die Kirche anzusehen! So blieb er stehen. Was 165 kann denn auch, dachte er, so Entsetzliches geschehen sein, da ein so ruhiger Zeuge zugegen war –!

Eben wurde die Kirchthür zugeschlossen. Ein Mönch ging an ihm vorüber dem Kloster zu und sang ruhig und friedlich vor sich hin. Wie er Löb Seligmann erblickte, rief er allerdings ein plötzliches: Husch!

Dies Husch! war eigen.

Husch! husch! wiederholte der Mönch und wehte mit seinem Weihwedel durch die Luft und schon ganz dicht unter Seligmann's Nase.

Wie ein Donnerwetter sprang Löb jetzt von dannen, ließ die Mauerthür offen, rannte an seinen Wagen, sprang auf diesen hinauf, ergriff die Peitsche und lenkte den Gaul von der Treppe abwärts. Niemand kam ihm nach. Das Husch! des Paters Ivo war für den, der es noch nicht kannte, so im einsamen Abenddunkel und bei völliger Einsamkeit ausgesprochen, gewiß in hohem Grade entsetzenerregend.

Löb mußte annehmen, daß seine Aufgabe erfüllt war, und fuhr spornstreichs von dannen. Noch einmal fuhr er die ganze Länge der Kirche vorüber – und seltsam! – nun war es ihm, als sähe er an einem vergitterten Fenster der untersten Gewölbe einen Lichtstrahl. Er hielt sich indessen nicht auf. Der entsetzliche Schrei, das furchtbare Krachen, das Husch! Husch! eines offenbar Irrsinnigen und nun wieder das so gespenstisch in den Gewölben hin und her irrende Licht brachten ihn um allen Anhalt gewünschter Beruhigung. Er stockte plötzlich mitteninne in einem »Vorfall«, den er in so geheimnißvoller und wol gar polizeiwidriger Tragweite nicht erwartet hatte.

Noch zwei Stunden brauchte er, bis er, bergauf fahrend, Schloß Neuhof erreicht hatte. Er athmete etwas freier auf, als er die schönen Tannen des freiherrlich Wittekind'schen Parks sah. Dort 166 ließ ihm allerdings die Präsidentin im Seitenflügel ein freundliches, wohlgeheiztes Mansardenzimmer anweisen, ließ ihm ein Essen vorsetzen und ihn auf morgen bescheiden. Aber sein Herz blieb unbefriedigter, als sein Magen.

Vom Brand auf Westerhof war, wie er an der Bedienung sah, auch hier alles erfüllt. Nicht minder von Hubertus und von dem geretteten Diener. Er hätte von alledem als Kenner berichten können und sollte nun schweigen –!

Er hatte vollständig den Muth verloren, sich als einen Eingeweihten der Kirche zu bekennen. Es kam ihm eine Vorstellung, als setzte ihn das Schicksal vielleicht bald einmal selbst in Musik und verwandelte ihm ein Leben, das sich seither so heiter angelassen hatte, in eine Oper mit tragischem Ausgang. Inzwischen riegelte er die Thür zu und entschlief mit gespannter Erwartung auf die kommenden Enthüllungen.

Für die morgende feierliche Aufwartung bei Herrn und Frau von Wittekind faßte er den Vorsatz, durch taktvoll diplomatisches Beherrschen seines Mittheilungsdranges nach allen Richtungen hin der »höheren Sphäre«, in welcher er hier leben durfte, Ehre zu machen. Er hatte sogar gehört, daß morgen ein großer Familienconvent auf dem Schlosse stattfinden sollte. Vielleicht erhielt er Aufträge, deren ehrlich erworbene Procente ihn über das ängstliche Schlagen seines Gewissens beruhigen und trösten konnten.


 << zurück weiter >>