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Etikette – die Tante hatte davon zu Terschka gesprochen – das ist so ein Wort, das uns in Armgart's Welt zurückführt. Etikette war ihr von allen Erb- und Erbsketten schon von frühester Kindheitserinnerung an eine der härtesten und grausamsten Ketten. Auch im Stift wurde noch jetzt der Vorwurf des »Mangels an Etikette« nie anders ausgesprochen als mit einer Geringschätzung etwa, die den Mangel von sechzehn Ahnen begleitete.
Wer in einer reinen, eben vom Kind zur Jungfrau erblühten Natur das Geheimniß der Liebe beobachtet hat, weiß, daß sich die älteste aller Weltbegebenheiten im Mädchenherzen wie das Allerneueste wiederholt. Jede liebende Seele glaubt die Liebe zuerst erfunden zu haben. Allerdings zeigt sich ihr dann bald die Tradition in ganzer Macht und sechzehnjährige Oberflächlichkeiten gibt es genug, die dann auch gleich durch das schnellste Annehmen aller über Welt, Leben, auch die Liebe überlieferten Begriffe die angeborne Nichtsbedeutung ihres Wesens kund geben und ebenso fraubasenhaft von der Liebe fühlen und sprechen, wie jede ihrer Tanten. Aber es fehlen auch Erscheinungen nicht, die sich, wie die Schnecke ihr eigenes Haus, aus ihrem Innersten ihre eigene Welt erbauen, Erscheinungen, die oft erst lange nach den gefahrvollsten, ja das eigene Leben bedrohenden Umwegen auf euern gemeinplätzlichen Entweder-Oders, euerm »Liebe oder 68 Haß«, euerm »Wille oder Zwang, euerm »Natur oder Unnatur«, diesen nun einmal geltenden Gegensätzen angekommen sind. Oft erst kommen sie da an mit gebrochenem Herzen, geknicktem Genius und für immer verbrauchter Lebenskraft.
Weiß nun wol Armgart schon ganz, was Liebe ist? Sie sollte es doch wol empfunden haben, wie es thut, im Arm eines Mannes zu ruhen, der von glühender Neigung ergriffen ist. Sie sollte es doch wol wissen von damals, als sie vom Hüneneck herabstürmend in Benno's Arme sank, der sie auffing und so lange hielt, bis sie den verlorenen Athem wiedergefunden hatte. Sie sollte doch wol Thiebold's »Schmachten« verstanden haben und aus dem Pensionsleben vollends es wissen, wonach sich schon so früh Tausende von jungen Mädchenherzen sehnen.
Aber sie hatte nun eben nicht den Trieb, immer allein in sich selbst zu verharren. Schon als Kind lebte sie nur für andere – sie lebte für Paula, die sie bediente, der sie half, die sie, so klein sie war, vertheidigte. Der Freundin war sie ein Bannerträger, wenn auch nur gegen Sonnenstrahl und Regen. Und die Tante ließ bei ihr das Gefühl, daß sie doch auch selbst etwas war, nie aufkommen. Sie wuchs auf unter Anklagen. Sie machte sich selbst Vorwürfe, daß sie, wie sie's nannte, überhaupt nur in der Welt wäre. Bettina liebte als Kind den schon bejahrten Goethe deshalb, weil sie in Frankfurt von ihm nur hören konnte. Der kalte, herzlose, unpatriotische, fürstendienerische Egoist –! Armgart hörte ebenso nichts, als daß sie einen herzlosen Vater, eine herzlose Mutter hätte. Sie hörte, daß diese eigentlich ein Leben führten, das eine Beschämung der Verwandtschaft wäre. Ein Wildling wäre sie, sie sollte nur sorgen, daß man sich nicht auch ihrer einst noch schämen müsse. Dem alten Grafen Joseph war sie in der That selten bequem. Geduldet wurde sie in 69 Westerhof nur mit einem steten Gemeistert- und Gestraftwerden. Paula schützte sie, soweit Paula überhaupt Kraft und Willen hatte. Aber mit träumerischem Herzen ging Armgart im Schloß wie in der Fremde und mistraute jeder Huldigung, jedem Schmeichelwort, das ihr wurde. Bettina fand doch einen einzigen Freund des verketzerten Goethe, die alte Mutter des Dichters. Mit der »schwärmte« sie für ihn, mit der erfand sie sich eine Idealgestalt und hielt die fest bis auf spätere Enttäuschung. So saß auch wol Armgart auf einem Fußschemel und legte den Kopf in den Schoos einer einzigen theilnehmenden Seele und malte sich den Vater und die Mutter aus – alledem entgegengesetzt, was ihr täglich von ihnen gesagt wurde; nur konnte Paula nicht, wie die Frau Rath, kleine Züge des Herzens von ihren so hart Angefeindeten erzählen, Erinnerungen der Kindheit, die ein Mutterherz bewahrt. Paula war die einzige, die zuhörte, wenn Armgart von alten Dienern und Beamten des Schlosses Erinnerungen an ihre Aeltern und besonders an die Zeit, wo sie ihnen so gewaltsam vorenthalten wurde, ausgetrieben hatte. Der alte Tübbicke hatte ihr den Versteck im Laboratorium, die Krankheit der Mutter, das Ergrauen ihrer Haare erzählt. Der alte Oberförster lobte jeden Soldaten, der sich im Frieden nicht gefalle und es mache wie Herr Ulrich von Hülleshoven und Hedemann, die in fremde Dienste und Länder gegangen waren. Was nur unterhaltend, abenteuerlich, bedeutsam im Leben war, knüpfte sich für Armgart an die Aeltern. Ihre Liebe zu ihnen wurde ihr wie ein angewöhntes Sprichwort, das man nicht ablegt aus Laune und geradezu Menschen zum Trotz, die sich aus Gründen, die uns nicht überzeugen können, darüber ärgern.
Wie dann auf Armgart die Religion wirkte, wissen wir. Die Religion war ihr, wie dem Volk und wie im Mittelalter 70 der ganzen Bildung, ein Anhalt alles Heroischen und Großen. Man führte im Mittelalter die Vorgänge des Evangeliums auf öffentlicher Bühne auf, um zu zeigen, daß Tyrannen, wie Herodes, vor Gott nicht bestünden. Was wollten nun diese bösen Philipps und Ludwigs von Frankreich gegen die vom Christenthum berechtigten Augenspiegel beginnen –? »Hauspapen«, Französinnen aus klösterlicher Region legten den Grund zu Armgart's Bildung. Das Pensionat in Lindenwerth hatte nur auszubessern. An besonders Neues ging es in dortiger Sphäre nicht. Armgart lernte ein wenig zeichnen, aber auch nur aus sich selbst. Nie, daß sie dafür zu einer Ermunterung kam; nie, daß sie angefeuert wurde, überhaupt einen Werth auf sich zu legen. Sie war so anmuthig, so hold und lieblich – aber das war ja ihre Schuldigkeit! Wie würde sie bei ihrer ohnehin so »schiefen Stellung« »gestanden« haben, wenn sie nun gar noch häßlich gewesen wäre! So warm und innig, wie mit ihr Benno sprach, so schwärmerisch, wie Thiebold, das war nicht die Fortsetzung dessen, worauf sie im Leben früh angewiesen war. Euere Liebe, ihr jungen Mädchen, ist nur das stündliche Eintreffen einer sechzehnjährigen Prophezeiung, die Folge des stündlichen Erwartens einer euch von kindischen Aeltern verheißenen männlichen Huldigung! Seht nur die blasse Klavierspielerin, wie sie am Fenster sitzt und hinter den Blumen die Vorübergehenden mustert und berechnet: Der da mit dem goldnen Knopf am Spazierstock und dem Bärtchen geht heute schon zum dritten mal vorüber – gilt das dir? Und galt es ihr, so läßt sie auch gleich für ihn das Leben! Sie sagt es wenigstens den Aeltern. Werden nun aber doch die Annäherungen des jungen Mannes von diesen nicht gewünscht, so verfällt sie in einen Zustand »unglücklicher Liebe«, der ein halbes Jahr dauert und mit dem ersten Winterball endet.
71 In Lindenwerth machte es Armgart, wie sonst in Westerhof. Sie nestelte und bändelte und strickelte den ganzen Tag – für andere. Sonst schnitzte sie den kleinen Kindern – sogar den Bedientenkindern Schiffchen von Borke und machte ihnen Püppchen – Schneiderlappen, die der alte Tübbicke aus Witoborn von seinem Sohn mitbrachte. In Lindenwerth hatte sie dann erst, als sie in Erfahrung brachte, daß in jener Gegend die Aeltern angekommen waren, das Bedürfniß allein zu sein oder zusammen nur mit ihrer Lehrerin Angelika. Benno's Liebe war ihr nur das Erwerben eines besten und einzigsten »Freundes«; Thiebold – war dann nur der dritte im Bunde dieser kleinen Verschwörung gegen die schlechten Menschen und die schlechten Dinge in dieser Welt. Da nun so sagen: In diesen treuen Seelen hab' ich zwei Menschen gefunden, die ich für mich festhalten will und von denen ich den liebsten mir zum Glücklichsein erwähle –! das empfand Armgart nicht. Was gab es denn nicht alles Wichtigeres in der Welt –! »Sie ist kalt!« »entdeckte« eines Tages Thiebold und in der That, ein Kuß war ihr ein Ausdruck der Seele –! Benno, ein halber Verwandter, hätte sie beim Abschied getrost und so lange er wollte küssen dürfen.
Eine so wunderliche Mädchennatur muß sich dann auch noch durch ein Gelübde binden lassen! Ein Gelübde ist in der katholischen Kirche etwas Hochheiliges. Die Kirche will in diesem Auslöschen der Freiheit zunächst eine Huldigung für Gott, dann eine für sich selbst. Jede Entäußerung der freien Verfügung über ein späteres Ja! und Nein! des Willens soll sich treu bleiben; selbst die Erkenntniß der Uebereilung, selbst die bitterste Reue soll nicht die Erfüllung hindern; denn so nur erhalte sich die Würde des Altars, dem die meisten Gelübde gewidmet werden, und vorzugsweise jene Regel und Ordnung im Beten und Fasten und in alledem, was zuletzt dann seine heiligste Gestalt 72 im Klostergelübde findet. So blieb Armgart bei ihrem Wort: Die Stunde ist da, wo meine Aeltern auf mich Ansprüche machen! Jeder will den Vorzug meiner Liebe! Warum soll ich ihnen beiden die Hand nicht festhalten und ihr Priester werden zum neugeschlossenen Bunde! Terschka stört diesen Bund. Nun wohl! Terschka ist sehr zu fürchten – Er ist der Freund des Grafen Hugo und die Mutter des Grafen ist die Freundin meiner Mutter – Sie liebt ihn vielleicht nur noch in ihren geheimsten Gedanken – Ich will sogar Paula glauben, die das Gegentheil versichert, aber Terschka ist voll List – Wohin mich auch mein Gelübde führt, Terschka soll meine Mutter nie beirren. Ahn' ich auch meinen Untergang, lieber opfere ich mich selbst an Terschka und nehm' ihn, falls er mich will. Gott wird schon mein Beginnen »crönen«!
So kam es, daß Armgart neulich zu Terschka sagen konnte: Begleiten Sie mich heute Abend nach Hause –! daß sie unterwegs sprach: Soll ich morgen mit auf die Jagd gehen –? Gehen Sie hin –? So kam es, daß sie gestern früh sagte: Wie lange bleiben Sie auf Schloß Neuhof –? daß sie ihm sogar nachrief: Kommen Sie nicht zu spät zurück! Und daß dann auch noch Terschka einen bestrickenden Zug und etwas Unvermeidliches hatte, that das Uebrige zu einem Entschluß, mit dem sie vielleicht unter Tausenden allein steht. »Ich nehme nur Den, welchen ich liebe!« sagte eine Stiftsdame und that unendlich groß damit. Armgart erwiderte darauf: »Trivial –!«
Bonaventura war am Abend des Tages, als die Urkunde gefunden wurde, gegangen. Paula hatte sich zurückgezogen. Man fand sich immer mehr in den Fund der Urkunde, wie man sich schon in den vorgestrigen Brand gefunden hatte. Armgart flatterte in der tiefen Verschüchterung ihres Seins dahin. Einmal hörte sie das Wort »Etikette« zu Terschka sprechen, der mit 73 Augen saß, die zwei Kratern eines Vulkans glichen. Glaubt nur nicht, rief sie, daß Paula diesen Grafen Hugo jetzt nimmt! Sie geht in ein Kloster –! Die Tante rief zornig: Und du gehst zu Bett –!
Armgart ging, aber sie erschrak vor jedem Fußtritt, der gehört wurde, vor jedem Geräusch im Schlosse. Fräulein von Tüngel-Appelhülsen hatte den Stachel in ihre Brust gesenkt, daß die Mutter schon bei Frau von Sicking wäre. Bei Hedemann würde sie vom Vater hören, hatte es geheißen. In alles, was sie that und sprach, klang das wie ein stürmisches Läuten herein. Hätten nicht Benno und Thiebold bei Hedemann gewohnt, sie wäre schon in aller Frühe zu ihm gerannt.
Der Onkel entließ sie zur Ruhe mit einem auf die Stirn gedrückten herzinnigen Kuß. Die Aufregung des Schlosses machte, daß die Diener nicht sogleich zur Hand waren; in ihrer Weise sagte sie darüber: Es geht jetzt wahrhaftig alles bei uns Hott und Tule! Terschka kannte diesen Ausdruck nicht. Armgart, darum befragt und ohnehin mit »schwarzen Seelen« beschäftigt, leitete ihn von den Hottentotten her; für »Tule« fragte sie den Onkel. Hott und Tule? Angeregt wie er war durch seine archivalischen Studien, hörte dieser die Deutung mit großem Erstaunen, begann von Ultima Thule, als dem äußersten Norden der Alten und ließ »Hott« in der That als äußersten Süden gelten. Auf die Art hatte er noch für die Nacht eines jener Objecte, mit denen er in der Sterbestunde seinen bevorstehenden Tod vergessen konnte.
Armgart ging in ihren Thurm, erschreckend sogar vor dem Fall ihres eigenen Schattens. Spähend suchten ihre Augen, ob sie auch sicher war vor Ueberraschung. Sie riegelte hastig zu, wie auf der Flucht.
74 Eine Viertelstunde später, als sie fast entkleidet war, klopfte es . . . Wer sollte wol anders so spät noch so vorsichtig klopfen, als Terschka? Sie erbebte und meldete sich nicht.
Terschka war es in der That und flüsterte: Fräulein Armgart! Ihre Mutter kommt morgen –!
Sie hörte nur.
Ich bin morgen früh in Witoborn zum Begräbniß des Landraths!
Sie schwieg und zitterte.
Haben Sie keinen Auftrag –? Möglich, daß ich erst zurückkomme, wenn Ihre Mutter schon bereits da ist. Mein Gott! Ich bin so unglücklich, die Mutter nicht begrüßen zu können. Aber ich werd's halt schriftlich thun! Küssen Sie ihr doch in meinem Namen die Hand –!
Teufel! sprach Armgart mit knirschenden Zähnen und sprang vom Bett herab, auf dem sie schon halb entkleidet saß. – »Küssen Sie ihr doch in meinem Namen die Hand«! Es war dies eine jener so unverfänglichen südlichen Galanterieen, die jedoch in diesem tugendhaften Lande mehr etwas Frivoles als Artiges ausdrückten.
Hören Sie denn aber? fuhr Terschka fort.
Ja! sagte sie mit erstickter Stimme, doch laut genug, um vernehmbar zu werden.
Sie wird oben am Cavaliersaal wohnen! fuhr Terschka fort. Die beiden Zimmer rechts; alles ist vorbereitet, ohne daß Sie ein Wort davon wissen sollen! Verrathen Sie mich aber nicht! Einstweilen müssen meine Blumen als Selam für mich sprechen! Von den Gerichten und Justizräthen rundum komm' ich morgen vor Abend nicht frei und einen Kurier muß ich auch noch von Witoborn in erster Frühe nach England expediren! Haben Sie doch ein wenig Mitleid mit mir –!
75 Nach England, wo die Menschen protestantisch werden und fünfmal hintereinander heirathen dürfen –! dachte Armgart.
Vielleicht besaß Terschka nicht ganz das teuflische Raffinement, Armgart's Eifersucht anregen zu wollen, dennoch that er es mit seinen der südländischen Galanterie angehörenden Worten wirklich. Er ließ Armgart im Zustand der Verzweiflung zurück. Nicht nur, daß schon wieder die Mutter vor dem Vater einen Vorsprung hatte – Wie sprach Terschka von ihr! Mit welchem Interesse! War alles, was er Armgart in diesen Tagen an Huldigungen bewiesen, an Freundlichkeiten ihr abgerungen hatte, schon wieder vergessen bei dem Gedanken: Die »seltene Frau«, wie er sie nannte, ist endlich da? Wie konnte dabei das Recht ihres Vaters bestehen? Sie hätte das Schloß wach rufen mögen. Doch wagte sie nicht das Zimmer zu verlassen, aus Furcht, Terschka stünde noch draußen. Die finsterste und abgelegenste Gegend des Schlosses hatte er als zur Aufnahme der Mutter bestimmt genannt!
Ihr Entschluß stand fest, daß sie morgen nicht im Schlosse blieb. Sie wollte auf irgendeine Art nach Witoborn zu entkommen suchen. Erst wollte sie bei Hedemann forschen und dann bis auf weiteres zu den Frauen im witoborner Clarissenkloster flüchten.
So schlief sie spät ein. Im Traum erschienen ihr die Engel und die Teufel im bunten Gemisch. Auch Hedemann befand sich diesmal unter den Teufeln. Er war ihr bei jeder Begegnung strenger und strenger geworden. Verwarf er doch ganz besonders ihre Grundsätze und ihr ganzes Leben auf dem Schlosse. Er nannte die Art, wie man ihn dort empfangen hätte und wie man noch jetzt die bevorstehende Rückkehr des Obersten entgegengenommen, eine für diesen ehrverletzende. Auf ein Urtheil, das sie, um diese Art der Bewillkommnung zu entschuldigen, 76 über und gegen den Vater auszusprechen wagte, unterbrach er sie mit dem Apostel (1. Kor.): »Ihr Kinder seid gehorsam den Aeltern in allen Dingen; denn das ist dem Herrn gefällig –!«
Am Morgen erfuhr sie, daß sie nicht allein es war, die eine unruhige Nacht durchlebt hatte. Im Gegentheil, ihre erschöpfte Natur bedurfte der Stärkung und hatte diese in einem tiefen, wenn auch kurzen Schlaf nach Mitternacht gefunden. So hatte sie nichts vernommen von dem Klingeln, das unterdessen alle Schloßbewohner erschreckte. Paula, erfuhr sie am Morgen, war so unwohl geworden, daß man zum Arzt hatte schicken wollen. Sie war aufgestanden und durch die Zimmer gegangen wie eine Nachtwandelnde, hatte mit sich selbst gesprochen und Dinge thun wollen, deren Zusammenhang niemand verstand. Ihre Dienerinnen hatten die Tante rufen müssen. Diese wieder rief den Onkel. Paula weinte, riß die Thüren auf und hörte keine der liebevollsten Beschwichtigungen. Der Onkel nannte ihren Zustand die natürliche Folge des neuen Erlebnisses, die jetzt freiwerdende langjährige Spannung des Herzens und der Furcht. So wäre es immer im Menschen, sagte er; die Gefühle hätten ihre Gesetze, wie die Mechanik! Es mochte sich komisch machen, wie er das so höchst feierlich im großblumig gewirkten grünseidenen Schlafrock sprach. Sein Anblick störte aber für niemanden den erschütternden Eindruck, den Paula machte, die bis zum Morgen mit sich auflockernden Haaren hochaufgerichtet und geisterhaft dahinschritt und gerade durch ihr Schweigen und das eigene Nichtdeutenkönnen ihrer Thränen alles erschreckte. Gegen Morgen schlief sie ein und konnte dann den Vormittag über nicht gestört werden.
Mit den Zimmern am Cavaliersaal hatte es seine Richtigkeit. Einer der Diener gestand es Armgart sogleich. Man erwartete die Mutter. Mit den Blumen Terschka's sah es ebenso aus. Sie standen in zierlichen Vasen oben auf dem Tische. 77 Auch den Brief an die Mutter hatte Terschka zurückgelassen. Diesen nahm Armgart an sich, um – sagte sie, ihn selbst abzugeben –
Der Tante klopfte sie noch vor dem Frühstück an ihre Thür mit den Worten: Also die Mutter kommt –?
Ja, Armgart! hieß es hinter der Thür. Aber ich sage dir, daß ich Schonung verlange! Wir gehen Tagen entgegen wie zum Jüngsten Gericht –!
Dies starke Wort schnitt alles ab und trotzdem rauchte der Onkel, den Corridor entlang kommend, seine Pfeife und trug unterm Arm große schweinslederne Chroniken, in welche die Urkunde eingelegt war. Richtig, Armgart! Ja, auch das erreicht jetzt sein natürliches Ziel! sagte er. Ordne getrost deine kleine Welt einer höhern unter – heute Abend trifft deine Mutter ein; sei ihr ein gehorsames Kind! Ich bin entzückt von ihren Briefen. Daß sie mit meinem Bruder nicht zusammentreffen will, verdenk' ich ihr nicht – Solche aus dem Verstand geschlossene Aussöhnungen erhalten sich nicht –!
Als der Onkel dies sagte, erscholl in weiter Ferne eine gewaltige Erschütterung der Luft. Sieh, sieh! unterbrach sich Levinus und horchte auf – Das ist die Salve der Husarencarabiner, die dem Landrath ins Grab mitgegeben wird!
Noch eine zweite folgte.
Still! So ehrt man einen ehemaligen Krieger –!
Eine dritte.
Ruhe seiner Asche –!
Der Onkel klopfte die Asche seiner Pfeife aus und ging. Armgart dachte bei diesen kriegerischen Ehrensalven an ihren Vater, den Oberst, und blieb um so fester bei ihrem Entschluß zur Flucht. Nur deshalb schwieg sie zu allem und entfernte sich ruhig.
Im Laufe des Vormittags entwickelte sich die wunderbare 78 Begebenheit der entdeckten Urkunde immer mehr in ihren Folgen und in den Nachklängen, die dergleichen in den Gemüthern hervorruft. Die einen fanden hier einen Triumph der alleinseligmachenden Kirche; die andern beklagten im stillen eine gestörte Aussicht auf merkwürdige und unterhaltende Veränderungen. Mancher aber auch hätte wieder fürchten müssen, in seinem bisherigen Verhältniß wenn nicht zu Westerhof, doch zu den übrigen Besitzungen der Dorstes gestört zu werden. Diese jubelten. Bei wieder andern zeigte sich jener Zug der menschlichen Natur, daß man sich selbst an Unangenehmes zuletzt nicht gern umsonst gewöhnt haben will. Die Tante merkte dergleichen hie und da und sagte einigen der so sonderbar erstaunenden Besucher: Es ist Ihnen wol gar nicht einmal recht, daß wir hier im Besitze bleiben –?
Mit dem geraubten Briefe auf dem Herzen, im Herzen zunächst mit dem Gedanken an eine Anfrage um den Vater bei Hedemann, irrte Armgart im Schloß unter den Maurern und Zimmerleuten umher und ließ sich ruhig die Reden gefallen, die ihr die Tante hielt und die zuletzt sogar ihr freundlich zusprachen, ja ihr schmeichelten. Armgart, sagte sie fast mit Herzlichkeit, liebes Kind, ich wüßte doch gar nicht, was mir Freudigeres begegnen könnte, als gerade in diesen aufgeregten Stimmungen solch eine Beruhigung! Morgen muß ein Hochamt in St.-Libori gehalten werden – Müllenhoff wird sich schon herausreißen und der Domherr ist ja da – ein Hochamt des Dankes für diese längst ersehnte Stunde! Ich hatte ja nur diese eine Schwester! Liebte sie immer! Ach, eine trostreiche Versöhnung –! Auch Angelika Müller hat mir einen rührenden Brief aus Paris über ihre vorjährige Begegnung mit Monika geschrieben! Monika war immer ein seltenes Wesen! Zu jeder Zeit! Ich glaube, ich kann sie nicht mehr von meinem Herzen lassen! Ja und wie freu' ich 79 mich auch dieses Besuchs um Terschka's willen! Der Arme muß doch in der That durch den Fund der Urkunde vernichtet sein! Er verehrt deine Mutter so – Das wird ihn emporrichten! Dazu lächelte die Tante. Aber es war nur Schadenfreude und Ironie gegen Terschka und die so übel abgeführte »ketzerische« Linie.
Ein Tag war es dann, an sich so hold, an sich so freundlich, so hellsonnig, so ganz gemacht zum Empfang von Glückwünschen, die von allen Seiten kamen. Sogar die Leidenden, die bei dem durch die Brandverwüstung ohnehin gestörten Behagen der Schloßbewohner vollends unbequem waren, wurden heute von der Treppe entfernt, um all die vornehmen Besuche durchzulassen. Durch das Begräbniß des Landraths ließ sich in dieser Sphäre niemand stören.
Um elf erschien Paula in den Vorderzimmern, nachdem sie ihr tägliches Amt verrichtet, das darin bestand, beim Frühgebet die Kissen zu segnen, mit denen sie heilte. Aber sie sagte: Meine Kraft ist hin! Diese Mittel helfen nicht mehr –!
Man sprach ihr Muth und Fassung zu.
Nein, erwiderte sie, ich bete auch nicht mehr, wie sonst! Ich habe alle Andacht verloren –!
Schon kamen die Advocaten aus Witoborn. Sowol derjenige, der gegen Nück processirt hatte, wie der, welcher bisher Nück's Bevollmächtigter war. Viele Andere, die an den Angelegenheiten des Hauses betheiligt waren, fehlten nicht. Ein geschäftlich für den Grafen Hugo einstehender Justizrath war der Frommsten einer und beugte sich tief der Urkunde, die ein Gebot der Kirche enthielt.
Der Brand ist hochverdächtig! Die Zerstörung des Archivs hat die Veranlassung gegeben, das falsche Document an einen Platz zu legen, wo man hundertmal es schon hätte finden müssen –! Diese Worte sprach – allein Benno.
80 Er sprach sie aber auch nur, bei sorgfältig von ihm beobachteter Thüre, in Gegenwart Bonaventura's, der ihn in aller Frühe in Hedemann's Häuschen besucht hatte.
Von seinem in Rührung vor ihm stehenden, mit seltsamer Prüfung ihn betrachtenden Freunde erfuhr jetzt Benno mehr und mehr. Bonaventura gestand ihm, was auch er dachte. Er gestand ihm sogar, er wisse aus einer Beichte, die er natürlich nicht nannte, daß ein Verbrechen dieser Art, wie es nun vielleicht in Westerhof stattgefunden, irgendwo – den Ort kenne er nicht – im Werke gewesen. Bickert, der noch lebte, durfte nicht genannt werden; aber Hammaker'n nannte Bonaventura.
Benno ging im Zimmer auf und nieder und rief: Ich sage mich von Nück los! Noch heute reis' ich zurück! Es ist ein Schurke! Ich kündige ihm meine Stellung und – ich sag' es ihm auch, warum –!
Nimmermehr! entgegnete Bonaventura. Wie wäre es möglich? Und wie kann man zudem gegen die Ehre und Würde des Hauses der Dorstes auftreten –!
Terschka wird es doch thun müssen –!
Terschka –?! sprach Bonaventura kopfschüttelnd.
Die Advocaten des Grafen Hugo in Wien –!
Was werden sie beweisen können! Und ändert sich denn auch so viel? Man wird in Paula drängen, man wird sie auffordern, bald – bald zu vollziehen, was lange schon für diesen Fall – die Convenienz angerathen hat –!
Thiebold kam vom Begräbniß des Landraths und drängte mit den Rüstungen zur Abreise. Er störte den vollen Erguß der wehmüthigen und gegenseitig gar wohlverstandenen Empfindungen. Und wenn auch alles sich ausgeklagt hätte, was hier vergebens nach Worten rang, welcher Rest blieb nicht noch im 81 Herzen Bonaventura's ganz allein zurück – beim Hinblick auf den trauernden Freund selbst –!
Als von Armgart die Rede kam, von Terschka's Werbung im sie, erwiderte Bonaventura festen Tones und mit sicherer Bestimmtheit: Darüber geb' ich dir Beruhigung. Hier seh' ich bisjetzt nur das unbedingt Unmögliche!
Benno und Thiebold staunten eines so entschiedenen Wortes. Nach Terschka's durch die Entdeckung der Urkunde veränderter Stellung konnten sich beide in dieser dunklen Antwort einigermaßen zurechtfinden, und doch hatte Bonaventura etwas völlig anderes sagen wollen: – Terschka ist ja ein Priester –! Ein neues düsteres Licht fiel durch Benno auch auf die Erwähnung Lucindens, die nicht ausgeblieben war. Benno betonte ihre Bekanntschaft mit Nück, ihre auffallende Hierherkunft, ihre, wie Benno und Thiebold versicherten, bereits nahe wieder bevorstehende Abreise –
Alles das mußte das Herz der Freunde aufs peinlichste drücken und beunruhigen.
Gegen zehn Uhr fuhr Bonaventura nach Westerhof und fand auf dem noch immer brandig riechenden und verwüsteten Schlosse die ganze Lebhaftigkeit, die erwartet werden durfte. Besuche kamen und gingen. Auch von Armgart's Mutter und deren Nähe wurde gesprochen.
Gerade mitten im lebhaftesten Gespräch von den Klöstern und während man den sich mehrenden Zustrom zum beschaulichen Leben rühmte – eine der Besucherinnen wußte sogar etwas von dem Noviziat des lieblichen Trendchen Ley in der Residenz des Kirchenfürsten – trat Paula ein. Ihr Blick schien ihm sagen zu wollen: Die Mauern eines Klosters nehmen auch mich auf! In deiner Nähe –! Wo Therese von Seefelden den Schleier trägt, da werd' ich anpochen –!
82 Bonaventura versenkte sich ganz in Paula's Anblick. Er hatte für seine Umgebung weder Auge noch Ohr mehr. Er hörte nicht als es hieß, zwei Mönche hätten in letzter Nacht Kloster Himmelpfort verlassen und wären Eremiten im winterlichen Walde geworden. Die Namen der Mönche und den Wald konnte man noch nicht bezeichnen.
Bonaventura kannte das Märchen von der versunkenen Kirche. Ihre Glocke klang und klang und niemand wußte, wo die Kirche gestanden. Am Meer sagen die Schiffer, sie läge im Wellenschoos und wie ein mahnender Zeigefinger gen oben rage ihr Thurm zuweilen bei niedrigem Wasserstand über dem Spiegel auf. Die Jäger kennen eine verlorene Kirche im Walde. Auch da läutet sie unsichtbar. So tönte für Bonaventura jetzt durch alles, was Paula that und sprach und die Welt um sie her that und sprach, nur der Eine Glockenton: Dein bin ich – im Walde – im Meere – im Tode –!
Zu Aller Interesse wurde plötzlich Frau von Sicking gemeldet.
Bonaventura hörte auch das nicht.
Im Walde – im Meere – im Tode –!
Paula hatte den gemeldeten Besuch, der zu gleicher Zeit eine Begrüßung von Seiten Lucindens sein konnte, erwarten dürfen. Sie wollte ruhig bleiben, ruhig sich ergeben und doch richtete sie sich auf. Nicht wie in bebender Erwartung vor Lucinden – schon im physischen Schmerz. Noch ehe Lucinde im Vorsaal sein konnte, fühlte sie wie mit einem elektrischen Schlag die Annäherung ihres Gegenpols. Armgart, die, umirrend wie sie war, Lucinden unten gesehen hatte, war heraufgeeilt, sah schon die Wirkung, die sie kannte, umschlang die Freundin, wollte sie hinwegführen; doch diese blieb und lächelte, wie immer, zu ihrem Schmerz.
Die Anwesenden alle – Frau von 83 Böckel-Dollspring-Sandvoß, Frau von Stein, Gräfin Münnich, Gräfin Styrum-Schorum, Fräulein von Merwig, Fräulein von Absam, alle nun schon über Lucinden unterrichteter und die Verhältnisse annähernd übersehend – nahmen Paula's Lächeln für Takt und große Güte. Sie verwiesen mit strafendem Blick dem Fräulein von Tüngel-Appelhülsen ihren laut ausbrechenden Hohn über die »Person, welche« – Lucinde war eine Büßerin und erschien in Begleitung der Frau von Sicking.
Frau von Sicking, die zu jener Gattung der weiblichen Tartüffes gehörte, bei denen man ihrer Unergründlichkeit wegen besser thut, ihre Gottseligkeit einfach anzuerkennen und sie getrost für das zu nehmen, wofür sie erscheinen wollen, ließ Lucinden in den Vordergrund treten und fand es vollkommen in der Ordnung, wenn Gräfin Paula von ihr auf die Ueberraschung durch ihre ehemalige Gesellschafterin im orthopädischen Institut überging. Sie selbst beobachtete die Mienen Bonaventura's.
Sie sind es, Fräulein Lucinde –! sprach Paula, Lucinden die Hand reichend. Erst so wenig Jahre getrennt und eine Ewigkeit ist's –! Meine Tante Benigna von Ubbelohde das! Meine Freundin Armgart von Hülleshoven! So stellte Paula mit der mildesten Miene die Nächsten vor und erst, als sie an Bonaventura kam, stockte die Rede.
Bonaventura erwachte aus seinen Träumen. Er verfärbte sich über den plötzlichen, unerwarteten Anblick, wurde dunkelroth und verneigte sein Haupt – was die ihn eben anredende Frau von Sicking für eine Begrüßung ansehen konnte. Er sprach auch zu dieser und doch rief es nur in seinem Innern: Paula und Lucinde zusammen –! War es wie Tag und Nacht, die da zusammenstanden, dann drückte nicht die bräunliche, schwarzäugige Lucinde, mit ihren starken Augenbrauen und aufgeworfenen Lippen, die Nacht und Paula, mit ihrem blonden Haar und ihren rosig lichten 84 Wangen, den Tag aus – es war umgekehrt: Paula war die träumerische Nacht, die Nordlandsmaid, die Mondpriesterin – Lucinde der Tag, die Tochter tropischer Zonen, die Sonnenjungfrau. Dort Gefühl und Ahnung in jedem Blick, gestaltungsloses Sehnen, krankhafte Gebundenheit der Sinne; hier Verstand, Wachsamkeit, Willenskraft und Beherrschung der Leidenschaften bis zu schneidender Kälte. Beide in Trauertracht – Paula's Kleid ein glänzender, rauschender Atlasstoff; Lucindens ein hochgehendes, den braunen Hals verdeckendes geflammtes Moirée. Paula's Haar niedergleitend über die Schläfe in langen Locken, im Nacken die Flechten in schwarzen Kreppbändern verloren. Lucinde trug ihren Hut mit der Reiherfeder – Sie gab sich so, daß die adeligen Herrschaften Mühe hatten, aus ihrer »Tournüre« heraus die »Schulmeisterstochter« zu erkennen, als die sie ihnen nunmehr wohlbekannt war.
Frau von Sicking's vorgestern schon beabsichtigter Besuch hatte erst heute zur Ausführung kommen können und Lucinde kam in der That zum Willkommen und Abschied zugleich. Ihre nächste Mission war erfüllt. Wohin Hubertus den Brandstifter geborgen, erfuhr sie nicht. Gestern Nacht aber noch beim Abendgebet im Münster kniete Hubertus hinter ihr und sprach: Alles – geschehen! Seien Sie ruhig, ziehen Sie in Frieden und sorgen Sie nur für die beiden Eremiten, die in der Residenz des Kirchenfürsten und wenn sie mit den ersten Lerchen nach Rom ziehen sollten, dort einen Anwalt bedürfen werden –! Schon im Hof hatte sich Lucinde von ihrem Entsetzen über den Anblick der Brandstätte gesammelt, ihre Empfindungen über »den falschen Isidor«, der auf so fragwürdige und in ihren Folgen entscheidende Weise die junge Gräfin zur reichsten Erbin des Landes machte, leidlich geordnet, ebenso wie über den Anblick einer Ekstatischen, die zur heiligen Hildegard erhoben werden sollte und 85 hoffentlich doch wol nicht im Traumschlaf sah, wo – Dionysius Schneid verborgen war und mit welcher Angst erfüllt Nück auf Lucindens Rückkehr harrte –?
Frau von Sicking war im vollen Strom der Erörterungen. Beileidbezeugend über den schreckhaften Brand, glückverheißend zum folgenreichen Fund der Urkunde. Ihre Sprechweise war außergewöhnlich leise. Alle räumten ihr den Vorrang ein, indem sie schwiegen, um sie besser hören zu können.
Man saß. Nur Bonaventura stand gelehnt am Fenster. Auch Armgart an der Stuhllehne Paula's, die Hand der Freundin haltend, um deren Zittern zu mildern. Bis zu einem so weit gehenden Ueberblick aller Beziehungen, daß Armgart auch Bonaventura am Widerstreit dieser beiden Mädchennaturen aufs mächtigste betheiligt sah, reichte ihr Auge noch nicht. Paula's und Lucindens Liebe zu Bonaventura war ihr ein »Schwärmen« – jene Empfindung, die ein Mädchenherz in alle Himmel versetzen kann und die Entsagung noch immer nicht zum größten Schmerz der Erde macht.
Lucindens Feierlichkeit war ebenso bedingt durch ihre Begleiterin Frau von Sicking, wie durch die Neugier der Anwesenden, die sie musterten. Sie sprach anscheinend harmlos mit Armgart vom letztsommerlichen Begegnen an der Maximinuskapelle und von Benno von Asselyn. Sie erzählte der jungen Gräfin vom orthopädischen Institut, von dessen Vorstand, einigen jungen Mädchen, nach denen Paula fragte, von jenem Curatus Niggl, der die armen Verwachsenen, Blinden und Lahmen bei sich zum Kaffee lud. Sogar Bonaventura wurde von ihr ganz harmlos ins Gespräch gezogen. Mit Niggl und Hunnius war er zum Priester geweiht worden. Auch ein Wort über den Tod Hendrika Delring's konnte nicht ausbleiben, ebenso wenig wie die Kunde über Trendchen, die ins Kloster gegangen war. 86 Bonaventura blieb so erregt, daß er nun selbst zu fragen anfing. Wie hat nicht jener große Staatsintriguant so Recht gehabt, als er sagte: Die Sprache ist erfunden, um unsere Gedanken zu verbergen –!
Jetzt kam das Gespräch allgemeiner zurück auf die beiden Flüchtlinge in den Eichstamm und nun erst hörte Bonaventura die ihn doppelt erschreckende Kunde. Hatte er doch – er machte seiner »priesterlichen Lässigkeit« Vorwürfe – nichts für Sebastus' Befreiung gethan. Man gab als Ursache dieser Flucht einen Streit mit dem Provinzial an. Der Name Hubertus weckte die Erinnerung an die Rettung des Dieners, den man im Spital von Witoborn glaubte.
Lucinde konnte sich sammeln und Kraft gewinnen, um den Namen Klingsohr und das fortgesetzte Anblicken der Damen zu ertragen. Sie behielt ihr bleiches Incarnat, wie immer. Sie zuckte nicht einmal mit den Augenwimpern. Nur Bonaventura's Auge suchte sie zuweilen und dieser schlug dann vor ihr das seine nieder –!
Frau von Sicking sagte dem Domherrn die schmeichelhaftesten Dinge – jetzt auch, als ob sie ihre geheimsten Abneigungen errathen glaubte, aufgetragen Lobendes über seine Mutter. Die Gräfin von Styrum-Schorum kam heute schon von Schloß Neuhof herüber, wo die Kunde von den beiden Mönchen eine nicht geringe Sensation erregt hatte. Der gesetzliche Sinn des Herrn von Wittekind, der sich solcher kecker Nutznießung seines Waldes mit Hülfe der Gensdarmen erwehren wollte, war überstimmt worden durch seine Gemahlin, die aufs dringendste gebeten hatte, dem frommen Verlangen dieser beiden Brüder nichts in den Weg zu legen.
Da man diesem Bericht Beifall murmelte, mußte wol Bonaventura im Namen seiner Mutter danken. Er dankte und bemerkte 87 Lucindens Lächeln. Triumphirend schien diese sagen zu wollen: Das alles, was ich hier sehe und höre, sind schon die Opfer, die mir der Gott der Rache bringt –! Sie ließ sich Klingsohr und wieder Klingsohr ans Ohr schwirren. Ihre Blicke spannen nur lange Fäden und bald war ihr alles wie in einem großen Netz. Mit leiser Stimme flüsterte sie mitten in die Schilderung des Lagers, das sich die beiden Flüchtlinge von Moos und Baumlaub in der Eiche und um diese herum gemacht hatten, ein Bedauern der Tante Benigna zu über den Brand, eine Schilderung des Eindrucks, den ihr schon vom Schloß Münnichhof aus der Anblick der Flamme gemacht hätte. Die Tante sah nichts von dem Blick, der diese liebevollen Worte so begleitete, als wenn sie gelautet hätten: Die Welt soll noch in Feuer aufgehen, und wie ihr hier alle sitzt und lächelt, weg habt ihr's nun doch –! Sie bedauerte, morgen nicht mehr der Dankmette beiwohnen zu können, die in der Liborikirche gehalten werden sollte; diesen alten Bau würde sie erst sehen, wenn die Exercitien begännen. Ueber den Baustyl der Liborikirche und von byzantinischen Rundbögen sprach sie so unterrichtet, daß die Tante dem ihr zu »geistreich« werdenden Gespräch entschlüpfte und Lucinden mit dem Onkel Levinus in Verbindung brachte, der erst jetzt zur Gesellschaft hinzutrat.
Auch der Onkel kam mit Nachrichten von den beiden entflohenen Mönchen und von der Requisition derselben durch den Provinzial – und sogar durch – Gensdarmen.
Gensdarmen –! rief man fast einstimmig.
Das duldet hoffentlich Herr von Wittekind nimmermehr! rief Frau von Böckel-Dollspring-Sandvoß.
In seinem Walde kann er geschehen lassen, was er will! hieß es.
Der Onkel erzählte. was er von den Jägern unten vernommen hatte. Beide Mönche wohnten in der berüchtigten Eiche, 88 wo der alte Klingsohr gefallen. Sein Sohn, der ehemalige Doctor, läge im Innern derselben auf einem Lager und läse sein Brevier. Hubertus hämmere mit der Axt eine Hütte und einen Altar und einen Kochherd. Die Nacht noch wäre eine Kälte von drei Grad gewesen. Jetzt glücklicherweise thaue es. Die Bauern liefen scharenweise in den Wald und hülfen den Eremiten bauen und brächten so viel Nahrungsmittel, daß Hubertus den Scherz gemacht hätte, ob sie hier etwa einen Verkauf halten sollten? Dennoch nahm er den Ueberschuß und schickte ihn ins Kloster, wo sich »nun wol zwei Parteien bilden werden«, sagte der Onkel lächelnd. Zurück wollen sie nicht, fuhr er fort, sich mäßigend, da niemand in seine Ironie einstimmte. Sebastus erbittet sich, für jeden, dem seine Fürbitte von Werth sein könnte, täglich so viel Rosenkranzgebete zu sprechen, als man im Wald bestellt.
So hatte man denn wieder ein Wahrzeichen der Zeit mehr, ein hocherfreulichesThatsächliches. und die kluge Mutter Bonaventura's debütirte durch die Duldung der beiden Eremiten mit gutem Erfolg. Bonaventura sah die Macht, die sie über den Präsidenten übte.
Wenn ihr aber alle wüßtet, an welchen Fäden diese beiden Mönche geführt werden –! Diese Empfindung sprach Lucinde natürlich nicht aus. Jede Erregung ihrer Gefühle niederkämpfend, hob sie sogar langsam den Kopf in die Höhe, als sich Freifräulein von Tüngel-Appelhülsen nicht nehmen ließ, zu sagen: Sie kannten ja wol früher den ehemaligen Doctor Klingsohr?
Nur ein Blick der Misbilligung folgte bei allen, welchen die Schärfe dieser Frage verständlich war.
Lucinde erwiderte aber ruhig und ganz in dem einfachen 89 Ton, der hier üblich: Der Pater ist ein Heiliger geworden –! ich mühe mich ihm gleichzukommen. Es gelingt mir freilich nicht so gut, wie, dem Anschein nach, ihm!
Sie blieb siegreich.
Als man Beifall murmelte, konnte Bonaventura nicht anders als sich sagen: Ja! Da strengt nur euern Witz an! Da muß alles zu Schanden werden –!
Der Onkel war vom Bewohnen der Baumstämme, wie immer, auf die Urwelt und die Troglodyten gekommen und von diesen auf die Katakomben in Rom. Frau von Sicking kannte die Katakomben so genau, wie die Boudoirs ihrer Wohnungen in Deutschland und Belgien. Sie erzählte von einigen neu eröffneten Grabstätten der alten Christen und Lucinde wußte sogar die Jahreszahl der Verfolgung des Diocletian einzuschalten. Levinus rückte ihr überrascht näher und näher.
Da erhob sich Frau von Sicking. Auch Lucinde mußte es thun. Wie gab sie so sicher Paula die Hand und lächelte ihr und sprach vom Wiedersehen, vom Frühling, von Gesundheit und, leiser und demüthig, von ihrer Wunderkraft! Wie versicherte sie, daß sie für Paula bete, und bat, daß Paula dies auch für sie thun möchte –!
Der Onkel unterbrach diesen Abschied und hörte voll Leidwesen, daß das gelehrte Fräulein schon wieder abreise und erst zu den Exercitien wieder zurückkommen würde – Die Commerzienräthin Kattendyk hatte in der That ihren Wunsch erreicht. Lucinde hatte in ihrem Namen eine große Summe für die geheime Thätigkeit der Frau von Sicking versprochen, hatte auch der »Mutter Gottes von Telgte«, einem wunderthätigen Gnadenbild der Gegend, ein neues kostbares, durch und durch mit Silber gesticktes Kleid, eine Prachtschöpfung aus dem 90 Atelier der Damen Eva und Apollonia Schnuphase, angelobt.
Ein unendliches Weh lag auf den Zügen Paula's, Armgart's und Bonaventura's. In dem: »Segne Sie Gott, Gräfin!« Lucindens lag etwas, als wenn ihr für die Zukunft noch die Leiden aller Märtyrer vorausgesagt würden. Bonaventura allein fühlte die Absicht dieses nur ihm kalt und wie ein Fluch erklingenden Tones. Die Hand hätte er zurückreißen mögen, die Paula erstarrt in die schwarzbehandschuhte Lucindens gelegt. Beide Frauen, die Geliebte und die Verschmähte, waren sich an Wuchs gleich; Paula, an sich schön und noch anziehender durch den Reiz der Jungfräulichkeit, der sie wie ein Hauch umwehte, Lucinde wie eine Brunhild – bestrickend durch ihre geheimnißvolle Kälte.
Paula hätte Lucinden festhalten mögen, trotzdem daß sie fühlte: Das ist sie immer noch mit ihrem Haß gegen dich und mit ihrer Eifersucht! Sie ist es immer noch, die sich berufen glaubt, die Einzige zusein, die über Bonaventura wachen dürfe! Sie, die sonst schon nicht ruhte und nicht rastete in Annäherungen und Verhinderungen der Ruhe und des Glücks eines Mannes, der, wenn er lieben dürfte, nach ihrer Meinung seine Wahl doch nicht so getroffen haben würde! Aber Lucinde war das einzige Wesen, das sie vom Traumschlaf heilen konnte –! Seit der ersten Vision beim Eintritt Lucindens in das Institut, seit der ersten Einmischung der Eifersucht damals schon, als Paula, träumend, den geliebten Priester vom Bekennen der ewigen Gelübde abzuhalten suchte und Lucinde in diesem Priester Den erkannte, der ihr eben erst der wiedererstandene und veredelte Serlo erschienen – war nie wieder in Lucindens unmittelbarer Nähe jenes Traumleben eingetreten und sie sehnte sich 91 ja doch gerade von diesen unheimlichen magischen Gewalten frei zu werden –!
War das endlich ein Ausbruch von Urtheilen, als Lucinde und Frau von Sicking gegangen waren! Alle Schleusen waren aufgezogen und Paula und Bonaventura konnten sich eine Weile allein angehören. Die Blumen, die am Fenster blühten, die im Wasserglase gezogenen Hyacinthen, die behenden Goldfischchen in krystallener Schale, all dergleichen lieblich traulicher Vorfrühling, den beide in der Nähe des Fensters genießen konnten, hätte sie fortreißen sollen, das warme blühende Leben auch Athem an Athem zu empfinden und sich leise zu sagen: Wir, wir gehören ins doch –! Aber das lauschte und plauderte und klatschte und lauschte um sie her. Es stand glücklicherweise nichts still, alles schritt vorwärts. Selig wogen durfte wenigstens die Brust und selbst ein lauteres Wort der Vertraulichkeit auf die Lippen treten.
Inzwischen fehlte Armgart, ohne daß man es sofort bemerkte. Sie war Lucinden und Frau von Sicking gefolgt, hatte Hut und Mantel und eine große Tasche ergriffen, die im Vorsaal zu ihrer Flucht schon bereit lagen, hatte in ihrem Busen den Brief Terschka's verborgen und schlich den sich Entfernenden an das Hauptportal nach. Als sie einstiegen, sagte sie rasch: Lassen Sie mich mit, meine Damen! Ich habe in Witoborn zu thun! Vergeben Sie! Ich störe nicht! Ich sitze hier rückwärts –! Schon saß sie.
Frau von Sicking lächelte zerstreut und meinte, sie müßte dann aber einen Umweg machen, denn sie wolle erst nach St.-Libori, um sich nach dem Befinden des Herrn Pfarrers Müllenhoff zu erkundigen.
Das thut nichts! erwiderte Armgart in Hast. Wenn Sie 92 mir nur versprechen, mich von Ihrer Wohnung aus nach Witoborn fahren zu lassen!
Sehr gern! sprach Frau von Sicking, noch immer mächtig ergriffen, wie es schien, von Bonaventura. Demoiselle Schwarz kann dann gleichfalls nach Witoborn mit Ihnen fahren – wohin Sie ja wollten! setzte sie wohlwollend und mit einem Blick auf Lucinden hinzu.
Lucinde saß tiefbrütend und hatte Mühe, ihre Nerven zu bekämpfen. Sie war jenem Weinkrampf nahe, der sie nach langer Spannung zu überfallen pflegte.
Armgart stellte Frau von Sicking über die Ankunft der Mutter zur Rede.
Diese, sich in die Frage langsam findend, sagte: Sie irren sich, mein kleiner Engel! Bei mir war sie nicht! Ich werde die Bekanntschaft erst später machen! Aber Sie haben Recht! Fräulein von Tüngel und Demoiselle Schwarz sprachen von ihr – ich bot ihr schon lange meine Wohnung an und ich besinne mich – Ich hörte ja – eine Grille von Ihnen –! Wie ist es doch damit?
Ein Gelübde, gnädige Frau! verbesserte Armgart.
Frau von Sicking verzog die Miene zum Ernst und besann sich jetzt: Nun wohl, jetzt weiß ich –! Aber – Himmel – ich entführe Sie doch nicht etwa –? Wie war doch das Verhältniß? Richtig! Richtig! Nein, nun lass' ich halten!
Der Wagen flog aber pfeilgeschwind davon und Armgart bat, keine Besorgniß zu hegen – sie hätte in Aufträgen dringend in Witoborn zu thun und die Pferde in Westerhof hätten unausgesetzt mit dem Fahren des Brandschutts zu thun.
Frau von Sicking beruhigte sich endlich und verfiel wieder in ihre eigene Gedankenwelt.
Lange blieb auch Lucinde tiefverloren im Nachklang des Ebenerlebten. Alle andern Gefahren traten ihr gegen einen einzigen 93 mit Bonaventura zusammenverlebten Augenblick zurück. Allmählich jedoch schien sie geneigt, von Armgart Notiz zu nehmen. Sie erzählte einiges von ihrer Mutter, rühmte sie, gestand zu, einen Brief der Commerzienräthin in Angelegenheiten ihrer Mutter empfangen zu haben, wandte sich dann in ihr Brüten zurück und nur noch einmal nannte sie den Namen Terschka's. Sie lächelte dabei.
Armgart hätte sie für dies Lächeln erdolchen mögen. Ihr Blick war so düster, daß Lucinde ihr bemerken mußte, sie erzählte ihr erstes Begegnen mit Terschka in Piter Kattendyk's Gesellschaft.
Armgart's beide etwas vorstehenden Zähnchen blinkten vor Aufregung.
Frau von Sicking rügte mit Strenge die Absicht des »Herrn Obersten«, ihres Vaters, in Witoborn eine Fabrik zu gründen. Und paßte das auch sagte sie, für seinen Stand, was indessen niemand zugeben wird, wie kann er gerade einen Zweig der Industrie wählen, der für Witoborn – ich kann es nicht anders nennen – eine Blasphemie ist! Sie werden ihn jetzt wol bald selbst sehen. Sagen Sie ihm das, mein liebes Kind! Die Gesellschaft ist darüber außer sich! Ein Hülleshoven legt eine Fabrikation von Papier an – in Witoborn –! Denn sage man, was man will, das Papier ist eine Erfindung des Teufels und die Buchdruckerpresse ist es ganz gewiß!
Armgart hörte diese Ansichten nicht zum ersten mal und dachte im Grunde ebenso. In schmerzlicher Ergebung hielt sie den Vater für angesteckt von englischen Einflüssen. Sie verfiel darüber in Trauer.
Lucinde bezeigte für Armgart immer nur noch ein vornehmes und geringschätzendes Mitleid. Solche kleine Welt, die »auch schon mitreden will«, war ihr ohnehin ein Gegenstand der 94 Abneigung. Dennoch fing sie an etwas zu scherzen, als Frau von Sicking am Pfarrhause abgestiegen war, um sich nach dem Befinden des Pfarrers selbst zu erkundigen und ihn womöglich zu sprechen. Sie neckte jetzt Armgart mit den Namen Benno und Thiebold. Dann auch mit Terschka, den sie am Jagdabend bei der Tafel, trotz ihrer Aufregung, scharf beobachtet hatte. Ihr kluger Blick sah sogleich, wie die Augen Armgart's aufleuchteten, als sie, wie mit einem spitzen Messer in dem jungen Herzen bohrend, sprach: Aber was red' ich denn! Terschka schwärmt ja für Ihre Mutter! Und jeder wird für sie schwärmen müssen! Zwar hat sie graue Locken, aber sehen Sie, dort liegt noch der Schnee auf dem kleinen Dachwinkel der Liborikirche und alles rings ist wie belebt von Frühlingsahnung. So auch – bei Ihrer Mutter!
Dich kenn' ich jetzt ganz! hätte Armgart rufen und sich auf sie werfen mögen. Doch zerstreute sie Frau von Sicking's Zurückkunft, denn diese kam, becomplimentirt von Müllenhoff selbst, der zwar noch ziemlich angegriffen aussah, aber doch nicht heute die Berathung mit den Gemeindevorständen in Sachen seines Dorfconcordates hatte aussetzen wollen. Müllenhoff war die Verlegenheit und das Hochentzücken selbst. Er ließ den Bedienten nicht an den Schlag; er wollte Frau von Sicking selbst hineinheben und die beiden andern Damen begrüßen können. Esbouquet und Sammet und Seide thaten es ihm wunderbar an. Ohne Zweifel drückte er die zarten Glacéhandschuhe der Dame, die er in den Wagen hob. Wol fünf Minuten lang sah er dem Wagen nach und würde sich aufs neue erkältet haben, hätte ihn nicht die Kathrein ins Haus – fast zurückgezwungen.
Die weitere Fahrt wurde noch schweigsamer, als die frühere. Lucinde mußte über den Einfluß des persönlichen Priesterthums auf die Ueberzeugungen der Frau von Sicking ihre Satire 95 unterdrücken. Armgart verfiel, je mehr sie sich Witoborn näherte, in Angst und Wehmuth. Sie hatte von Lucindens Wesen auf die Länge nicht ganz die Wirkung, wie Paula. Sie sah sie prüfend an, verglich den Eindruck, den sie ihr im vorigen Jahre machte, mit dem jetzigen. Sie fühlte sich minder durch sie abgestoßen als damals. Sie erzählte bereits am Pfarrhause Lucinden, warum Paula nach ihr so oft ein aufrichtiges Verlangen trüge, und wurde von Lucinden aufgefordert, Paula's letzte Vision zu erzählen.
Als sich Frau von Sicking, nach ihrem Einsteigen, in den Gegenstand gefunden hatte, tadelte sie, daß die Comtesse nicht die reinen Anschauungen vom Kreuze hätte. Sie bestritt ein Vorhandensein des eigentlichen Hochschlafs, von dem sie zu wissen behauptete, daß mit ihm ganz andere Erscheinungen verbunden zu sein pflegten, nicht selten ein Abdruck der Nägelmale des Herrn auf dem Körper einer solchen begnadeten Himmelsbraut.
Man schwieg. Armgart preßte nur den Brief Terschka's an ihre Brust und sah und hörte im Geiste nur die Mühlen Hedemann's und die Klingel an dem Clarissenkloster, in das sie sich einstweilen flüchten wollte. Endlich war man bei dem stattlichen Gitter vor dem Landhause der Frau von Sicking angekommen. Diese stieg aus und bat Lucinden wiederholt, das Fräulein nach Witoborn zu begleiten. Die Angelegenheiten des jungen Herzens interessirten sie nicht.
Lucinde hatte in Witoborn für ihre Abreise Vorkehrungen zu treffen und hoffte auch noch im Münster etwas von Hubertus zu erfahren, falls dieser sich jetzt vielleicht noch aus seinem Walde herauswagen durfte. Sie wollte fort, ehe der Rath von Enckefuß eintraf und die Verdächtigungen ihrer Anwesenheit in dieser Gegend immer bedenklicher hervortreten konnten.
Sie hatte schon, um ihre Besorgnisse zu zerstreuen, 96 angefangen, dem »jungen Kinde«, mit dem sie fuhr, immer mehr Theilnahme zu schenken. Hing doch Armgart mit dem Leben so vieler Personen zusammen, die ihr bedeutungsvoll waren. Offenbar befand sich die Kleine wieder vor ihren Aeltern auf der Flucht; die Gründe dafür waren landbekannt. Allmählich verglich sie Armgart mit Trendchen Ley. Wer ihr unbedingt gehorchte, dem konnte Lucinde schmeicheln. Sie zog ihre Handschuhe aus und fuhr mit den Fingern über Armgart's Stirn. Auch Sie haben schon Sorgen? sagte sie.
In Armgart's Antwortsblick lag: Was gehen dich meine Sorgen an oder bist du vielleicht nicht so schlimm, wie sie alle sagen –?
Lucinde verstand diesen Blick. Man lästert wol recht über mich auf Westerhof? Nicht wahr? sprach sie seufzend.
Auf Westerhof? Da lästert man nicht! Aber in Heiligenkreuz, ja da stehen Sie schlecht angeschrieben. Das kann ich Ihnen sagen!
Lucinde warf verächtlich die Lippen auf. Dann streckte sie die Hand aus und zog Armgart zu sich hinüber – Armgart hatte auf dem Rücksitz bleiben wollen. Sie hielt sogar Armgart's Hand fest, sodaß der Brief, den Armgart zu bedecken suchte, sichtbar wurde; doch beachtete ihn Lucinde nicht. So schlecht also hat man mich gemacht! wiederholte sie. Und gewiß ist es die Unbescholtenste von allen, Fräulein von Tüngel, die mich am meisten lästert! Hassen Sie denn nicht auch die Dummheit? Diese Dame speculirte auf einen armen Phantasten, der sie allerdings um meinetwillen nicht mochte –
Jérôme von Wittekind! Ich weiß alles! Und – Ihr – Ihr Doctor Klingsohr –! Den trägt man Ihnen auch – bitter – und mit Recht nach!
Lucinde zuckte die Achseln und sagte: Den hab' ich nie 97 geliebt . . . Sieh, sie, weißt denn du auch schon, was Liebe ist –?
Dies »Du« flocht sie, mit dem schwarzen Handschuhfinger drohend, so gewandt und listig ins Gespräch, daß Armgart zwar vor dem traulichen Ton erschrak und etwas von ihr abrückte, ihr jedoch nicht zürnen konnte. Armgart kam dies »Du« noch natürlicher vor, als sie jetzt selbst sprach: Ja Lucinde! »Dich« sollte eigentlich jeder meiden!
So! entgegnete diese mit zuckenden Lippen und fiel in ihre kältere Art zurück. Das spricht Armgart! Ihre Mutter kommt heute und Sie fliehen vor ihr –! Wol gar wieder mit zwei jungen Männern –! Sie müßten doch wol schon gelernt haben, wie Frauen so leicht und so unschuldig in einen falschen Ruf kommen können!
Armgart wurde über die beiden jungen Männer roth, fand aber diese Entgegnung ganz in ihrem Sinn.
Alle Welt weiß ja schon von Ihrem Vorsatz! Ich lasse den Wagen halten und verhindere neue Thorheiten, die Sie begehen!
Lucinde –!
Sagen Sie gleich, wo wollen Sie hin?
Zu Hedemann –
Dort finden Sie Ihren Vater!
Wissen Sie das gewiß –? sagte Armgart, sprang auf und sank durch die Bewegung des Wagens auf Lucindens Schoos. Diese hielt sie fest, damit nicht beide das Gleichgewicht verloren. Dann flieh' ich zu den Clarissinnen ins Kloster! Oder in den Wald zu den Eremiten – oder in die weite, weite Welt hinaus –!
Lucinde mußte Armgart, die sich loswand, von ihrem Schoose freigeben. Sie betrachtete das aufgeregte Mädchen halb 98 mit Lachen, halb mit Rührung und ließ sich von Armgart's Gelübde erzählen. Ihre Augen hätten dabei glänzen können vor List und glänzten doch nur vor Theilnahme. Ihr Mund öffnete sich, ihre ganze Erregung machte sie jung und schön, wie in den Tagen ihrer ersten Blüte. Armgart athmete kaum, mit solchem Bangen erfüllte sie ihre Begleiterin und dies Bangen wurde ihr zuletzt ein wohliges. Lucinde, sagte sie tonlos, du kannst Latein, Italienisch, hast unsern Glauben angenommen – aber ich fürchte mich doch vor dir . . .
Weil ich so schlecht bin! erwiderte diese und ihre schwarzen Augen verschlangen mit einer ungewissen Sehnsucht die braunen Armgart's –
Du bist eine Schlange, eine Hexe, sagen sie –
Dann bin ich es auch! Darauf verstehen sich die Menschen und besonders die Frauen!
Armgart kämpfte immer mehr gegen die Bestrickung durch eine so scharfe Ironie, die auch ihrer Lebensauffassung verwandt war.
Seit ich lesen kann, seit Paula in die Anstalt kam, fuhr sie fort, hab' ich dich, Lucinde, fürchten gelernt . . . Paula schrieb zwar immer von dir, ich sage dir das offen, mit Bewunderung. Sie ist so gut, sie verehrt dich –! Wahrhaftig! Und doch weiß ich, daß sie eigentlich nur immer Angst vor dir haben sollte . . .
Auch jetzt noch? sagte Lucinde mit dem Ton der Resignation und in Anspielung auf Bonaventura.
In ihren Visionen sieht sie dich fortwährend!
Und wie dann –?
Nie gut!
Diese Visionen lügen, kluge Armgart! Diese Visionen sind nur Widerspiegelungen aus Paula's eigenem Innern. Glaube mir! Was würden wir nicht alles sagen und verrathen 99 können, wenn wir so plötzlich den Willen und die Selbstbeherrschung verlieren! Paula sieht nichts, was außer ihr ist. Sie sieht nur Bilder der Erinnerung, ihres Wissens und sonstigen Ahnens und Fühlens. Sie spricht nur die Gedanken aus, die sich im Menschen unbewußt sammeln und ihm in den Mund kommen, er weiß nicht wie. Wenn du träumst, Armgart, ist es dir dann nicht gerade ebenso? Daß sie so, ohne es zu wissen, alles herausspricht, das ist freilich eine recht fatale Krankheit!
Armgart dachte allen diesen Worten nach, sagte dann aber doch: Du irrst, Lucinde! Sah sie nicht kürzlich den Vater des Domherrn?
Von Asselyn? Warum nicht? Sie beschrieb ihn, wie man vom Lande der Seligen träumt?
Nein, nein! Das wirkliche Italien war's, wo sie ihn sah! Terschka – bestätigte alles!
Unsere Vorstellung vom Paradiese ist so etwas wie Italien! sagte Lucinde, schwieg dann aber und ließ Armgart Recht behalten.
Dadurch wurde Armgart noch sicherer. Dein armer Klingsohr! fuhr sie fort. Der liebt dich wol noch jetzt! Wie weit hin ist doch der schon berühmt! Noch im letzten Herbst wurden jeden Abend seine Aufsätze bei uns vorgelesen. Alle sagten dann: Das ist der Sohn des Deichgrafen! Der, der um deine Lucinde, Paula, ins Kloster gegangen ist! Die Tante wollte nicht, daß ich erführe, was Liebe ist, und sagte: Ach was! Aus Schmerz um seinen Vater, aus Reue über sein Einverständniß mit dem Kronsyndikus ist er ins Kloster gegangen –!
Da hast du Recht gehabt! sagte Lucinde und fügte träumerisch hinzu: Ein Kloster ist für vieles gut – das siehst du an deiner Mutter und an dir –! Also die Liebe solltest du nicht kennen 100 lernen und nun kennst du sie wol doch? Herr von Terschka liebt jetzt statt deiner Mutter, glaub' ich, dich?
Armgart ergriff Lucindens Hand und sagte mit erstickter Stimme: Was sprichst du da?
Ich sah es neulich bei dem Jagdbanket – Den Augen der Männer sieht man das bald an! Terschka's Augen verschlangen dich förmlich!
Lucinde –! rief Armgart ablehnend – und doch verschlang auch ihr Auge die Augen Lucindens.
Tu as la vogue! Auch Benno von Asselyn und Thiebold de Jonge lieben dich –!
Armgart nannte das Französische die Sprache, welche Gott geschaffen hätte, Dinge zu sagen, die andere Nationen zu sagen sich schämten. Eben das sagte sie auch jetzt. Und als Lucinde darüber lachte, fiel sie, sich von ihr abwendend, doch scherzend ein: Wähle du dir einen davon –!
Lucinde ging auf den Scherz ein. Thiebold de Jonge zum Beispiel? sagte sie. Der ist sehr reich und das ist viel werth. Aber – was hilft mir ein Mann, für den ich den Verstand haben muß! Dein Vater hat ihn aus dem Wasser gezogen. Mir würde er auf die Art – ewig im St.-Moritz liegen! Immer müßte ich ihn an den Haaren halten! Seine Haare sind freilich hübsch. Nun ja, mir recht! Um die Wahrheit zu sagen: ein echter Mann muß ein bischen dumm oder lieber noch ein bischen wild sein, dann ist's eine Lust, ihn ziehen und zähmen können. Wahrhaftig, ich nähme den Thiebold lieber noch als den Benno!
Armgart horchte einer Sprache, die sie – für frivol hätte erklären müssen und die sie doch fesselnd fand.
Benno – der ist schön, interessant, aber – sehr eingebildet! Der ließe keine Frau aufkommen! Immer würde er ihren 101 Verstand mit Ironie behandeln. Nein, nein, diese Männer, die sich so klug dünken –
Armgart hielt Lucinden den Mund zu.
Terschka freilich – fuhr Lucinde fort.
Das Capitel verstehst du nicht!
Lucinde machte sich frei und fuhr fort: Terschka – das denk' ich mir nun so! – Terschka ist Graf Hugo's Freund. Geht deine Freundin Paula nach Wien – denn so kommt es nun ja doch seit dem Fund der Urkunde – so wirst du natürlich folgen wollen und da – macht sich denn alles ganz natürlich –
Nach Wien? unterbrach Armgart. Nach Wien? Wer geht nach Wien?
Paula!
Sie geht in ein Kloster! Wie ich! Nur – daß ich schon heute gehe!
Pah! Ihre Aufgabe, sagte Lucinde, durch Erinnerungen an Paula zerstreut und das »Du« wieder vergessend, die Aeltern zu versöhnen, ist nicht so schwer. Es ist wahr, Ihre Aeltern hassen sich; aber es gibt einen Haß als unmittelbaren Gegenpol der Liebe, der auch wieder bei günstiger Gelegenheit in Liebe umschlägt. Man haßt dann nur, weil man eben nicht liebt. Das ist ein großer Unterschied vom gewöhnlichen Haß. Der gewöhnliche Haß verachtet und will nicht lieben. Wenn man aber weiß: Einer ist nur außer uns im Leben, der uns ganz und gar aufhebt und vernichtet; nun ringst du gerade mit dem und mit keinem andern; weicht er oder weicht er nicht, an ihm allein missest du deine Kraft, an ihm deinen Werth! O, das ist dann ein ganz anderer Haß. Schüttle nur dein liebes Köpfchen – du verstehst das alles noch nicht. Tage und Wochen lang nur immer auf Einen denken, immer nur für dessen Widerlegung, wenn er uns misverstand, leben, Dem zum Widerspruch, aber auch 102 um Den nur allein das Höchste und Kühnste beginnen, malen, dichten, philosophiren, entbehren –! Alles das hat, ich weiß es vom Oberprocurator Nück, auch deine Mutter gethan und keiner ist ihr dabei bei all ihrem Zorn und ihrem Schmerz gegenwärtiger gewesen, als eben immer der Mann, der sie früher bändigen wollte, ehe sie die Lust der Freiheit gekostet oder, wie man auf deutsch richtiger sagt, gebüßt hat. Und wenn ich mir den Obersten vergegenwärtige, den ich kenne, den ich gesehen und gesprochen habe –
Wo –? fragte Armgart und hing an Lucindens Lippen mit bebender Erwartung und hielt krampfhaft ihre Hand. Daß diese ihr eigenes Verhältniß zu Bonaventura beschrieb, wußte sie nicht – so leidenschaftlich konnte sie sich die Liebe zu einem Priester nicht denken.
Dein Vater, fuhr Lucinde fort, erschien mir bei einem allerdings sehr kurzen Begegnen in Kocher am Fall, als ich dort, aus der Dechanei verbannt, umirrte und auf eine neue Stelle wartete, eine Natur wie aus Granit – lieben könnt' ich ihn nicht. Aber – nun kam Lucinde unbewußt wieder in die Anrede mit »Sie« zurück – Ihre Mutter, die sieht nicht, glaub' ich, die Bibliothek, die in seinem Innern aufgebaut ist von zehntausend Bänden Weisheit! Sein Bruder, Ihr Onkel Levinus, hat diese Bibliothek auch im Kopf, ich hörte das heute; aber bei ihm liegt sie wirr und kraus durcheinander, bald orientalisch, bald spanisch, bald kocht er Gold, bald Seife. Der ist nicht einmal das Conversationslexikon, wo es doch wenigstens nach den Buchstaben geht. Aber bei Ihrem Vater – da sieht man keinen einzigen Titel, keinen Einband, kein Schubfach, keine Rolltreppe – in alten Klosterbibliotheken, Armgart, gibt es solche Rolltreppen, mit denen ich schon stundenlang von Fach zu Fach herumgerutscht bin –! von ihm ist alles verdaut und wirklich Fleisch 103 und Blut geworden. Denke dir, Armgart – Lucinde ging wieder in diese Anrede über – denke dir diesen Magen! Diese Gesundheit! Und deine Mutter – die ist dann gerade ebenso. Sie liebt deinen Vater. sowie sie ihn sieht – auf der Stelle! Falls freilich nicht dein höchst leichtsinniger, schlimmer, unheimlicher Terschka –
Armgart hielt gerade Terschka's Brief in ihrer Hand und legte diese mit dem Brief auf Lucindens Mund.
Nein! Nein! sagte Lucinde beruhigend und wiederholte halb spottend das allbekannte Gelübde Armgart's: »In der Rechten die Mutter, in der Linken den Vater und so beide fürs Leben verbunden –!«
Ein Schweigen trat ein. In Witoborn, wo es des Tages nicht blos zu jeder Stunde, sondern im Grunde immer läutet, hämmerte bereits der unruhige Hinkbote, der in der Glocke jedes Jesuitenthurms sitzt. Das ging wie der erste Anstoß an einen Sägemann auf dem Weihnachtstisch.
Armgart bat Lucinden, den Wagen noch eine Weile auf den Wällen langsam dahinfahren zu lassen. Das Wetter war so schön! Sie wollte zu Hedemann, wollte nach der Ankunft des Vaters fragen und dann zu den Clarissinnen ins Kloster.
Lucinde that alles, wie gewünscht, und beugte sich zum Schlag hinaus, um mit dem Kutscher zu sprechen. Dabei entglitt ihrer Brust das Kreuz.
Du bist katholisch geworden! sagte Armgart, es ihr zurücksteckend. Weißt du auch, was katholisch ist –?
Katholisch sein heißt einen geheiligten Willen haben! antwortete Lucinde.
Das ist recht! wallte Armgart freudig zustimmend auf. Wenn ich Hedemann gesprochen habe und ehe ich ins Kloster gehe, beten wir im Dom zusammen?
104 Mir fehlt Zeit – ich reise schon heute! entgegnete Lucinde ausweichend . . . Sie – ins – Kloster! setzte sie nach einer Weile hinzu und gedachte Trendchen's, die gleichfalls nur einen vorübergehenden Schutz im Kloster suchte und dort nun vielleicht für immer blieb –!
Wann reisen Sie denn? unterbrach Armgart ihre Abmahnungen.
In wenig Stunden!
Und kommen nicht wieder –?
Gegen Ostern!
Armgart's Miene war so wehmuthvoll, als wollte sie sagen: Wer weiß, wo ich dann bin –!
Lucinde sah diesen Schmerz, der sich durch ein Blinken der weißen Zähnchen ausdrückte. Jetzt ergriff sie den Brief, den Armgart aus Zerstreuung noch immer in der Hand hielt. Sie wollte vom Gespräch über ihre eigenen Pläne und Absichten abkommen und sagte: Das ist ja ein Brief an Ihre Mutter!
Armgart erschrak und bestätigte es kleinlaut.
Wollen Sie ihr den Brief aus dem Kloster schicken?
Armgart blieb die Antwort schuldig.
Haben Sie diese wunderlich kleine Handschrift?
Nein – Herr – von Terschka . . .
Lucinde nahm den Brief, verglich den Umstand, daß Armgart diesen Brief mit nach Witoborn nehmen konnte, mit allem, was sie aus Armgart's Mienen zu lesen glaubte, und sagte: Dieser Brief sollte wol in Westerhof Ihre Mutter begrüßen – nicht wahr? Und nun sind Sie neugierig, was Terschka Ihrer Mutter schreibt – wie er ihr schreibt – besonders während er auch Ihnen den Hof macht zu gleicher Zeit –? Machen Sie doch den Brief des leichtsinnigen Mannes auf!
Lucinde –! rief Armgart und wie wenn einer Mutter ihr Kind 105 ins Wasser stürzt, griff sie nach dem Brief – Lucinde gab ihn zurück. Aber was hatte sie schon gethan? Mit einer einzigen Bewegung des Fingers hatte sie unter die Klappe des Couverts gegriffen und dies aufgerissen. So gab sie den Brief geöffnet an Armgart zurück. Es war eine Regung ihrer alten Natur.
Für Armgart zu viel. Sie hatte gekämpft und gekämpft – seit Tagen gekämpft, ob sie einen solchen Frevel wagen dürfte, einen nicht an sie gerichteten Brief zu erbrechen! Geschah dies ihr von erster Kindheit an als ungebührlich Eingeprägte, so mußte es wenigstens feierlich, mit einem Gebet zu Gott, mit einem Verzweiflungsgang in einen Beichtstuhl, unter Gelöbniß der größten selbstverhängten Strafen geschehen. Nun war die That geschehen und lähmte ihr die Sprache.
Lucinde lachte.
Abscheuliche! Jetzt erkenn' ich dich! rief Armgart, nur zu einigen Worten sich sammelnd.
Lucinde konnte nicht aus dem Lachen kommen.
Schändliche! Schändliche!
So lesen Sie doch, liebes Kind!
Ich verbitte mir –!
Was?
Sie verdienen –
Einen Kuß!
»Demoiselle« Schwarz! Lassen Sie Ihre Vertraulichkeit! Wie kommen Sie überhaupt darauf!
Armgart rief voll Zorn dem Kutscher, zu halten.
Der Wagen hielt auch. Es war am Eingang in den Witobachgrund. Die Mühlen schienen eben zu rasten. Es war ringsum still. Der Bediente sprang herunter und öffnete den Schlag. Warum haben Sie mir das gethan –! lenkte Armgart wieder zum alten gütigen Tone ein und hielt den Schlag noch zu.
106 Lucinde jedoch, verletzt durch das plötzliche Herauskehren der adeligen Stellung Armgart's, wandte sich ab und that, als verlöre sie mit solchen Possen nur die Zeit.
O, ich sehe es zu gut, sagte Armgart weinend, daß Ihr Uebertritt zu unserm Glauben nur eine Heuchelei war! Ja, – sind eine Schlange, die sich erst warm an unserm Herzen einnistet und dann das Blut aussaugt! Darum flieht auch alles vor Ihnen! Und ich, ich ließ mich doch bethören! Gerade wie die armen jungen Mädchen damals auf den Streckbetten! Nun fühl' ich den fürchterlichen Stich im Herzen wieder wie damals, als ich Sie zum ersten male sah –!
Lucinde zeigte auf den geöffneten Wagenschlag, auf den Bedienten, wandte sich ab und beachtete Armgart nicht länger. Nur den Mantel zog sie fester an sich, da der offenstehende Schlag ihr kalt machte.
Armgart stieg zaghaft aus. Sie wollte noch grüßen, noch etwas auf Verständigung warten. Der Bediente erhielt jedoch einen Wink, der den Kutscher bestimmte, schnell weiterzufahren. Beide Mädchen trennten sich, als wäre eine Melodie mitten in ihrem schönsten Flusse durch das Reißen einer Saite unterbrochen.