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Vor der Unschönheit des Anblicks, der sich ihren Augen darbot, ergriff Lucinden ein Schauder. Das waren keine Züge, die dem Leben angehörten! Die Chinesenköpfe, die sie einst im verschlossenen Zimmer der Buschbeck gesehen, traten ihr entgegen. So lächeln allenfalls die Mumien.
Was wünschen Sie? fragte sie mit sich sammelnder, ablehnender, hoffärtiger Kälte. Sie erwartete eine Botschaft von Klingsohr und konnte sich darum noch weniger zu Freundlichkeit stimmen.
Mein geehrtes Fräulein – begann mit seinem im wunderlichen Tonfall gesprochenen fremdartigen Dialekt Hubertus und unterbrach sich bereits selbst, um sich erst zu versichern, ob seine Rede unbelauscht blieb.
Lucindens Schrecken mehrte sich. Was wollen Sie? sprang sie voll Furcht und Unwillen auf. Dunkler und dunkler war es geworden. In einem Kamin, das sah erst Lucinde jetzt, leuchteten noch halbglimmende Kohlen.
Mein Fräulein, begann der Mönch aufs neue und mit Milderung seiner auffallenden Hast – Sie wohnen bei Frau von Sicking –?
Ja! Warum –?
Sie heißen Lucinde –?
Schwarz! Was fragen Sie danach?
72 Ich möchte wissen, ob Ihnen der Name – eines gewissen – Jean Picard bekannt ist?
Lucinde mußte sich am Rand des Kamins halten. Das tödliche Wort war gefallen –! Das Geheimniß ihres Innersten ausgesprochen –! Die Welt wußte, ihrer Meinung nach, nun schon alles –!
Der Mönch sah die Vermuthung des Enckefuß'schen Briefes bestätigt. Allmählich zog er ihn aus der innern Tasche seiner Kutte. Vor Aufregung lächelte er selbst. Konnte eine so schöne, junge Dame mit Verbrechern bekannt sein? Bei seinem Lächeln gingen ihm die Winkel seines Mundes bis zum Ohr. Es war nicht zu unterscheiden, ob ihr der schreckliche Mönch Vorwurf oder Theilnahme bezeigte.
Lucinde stöhnte mit schwerem Athem: Jean Picard? Den Namen hab' ich – einmal nennen hören. Ja! . . . Was soll es mit ihm? Er hat auf einem Kirchhof einen Sarg erbrochen –
Derselbe! Ganz recht! ergänzte der Mönch, entfaltete den Brief und prüfte Lucindens Benehmen, die sich erfolglos zu fassen suchte.
Wissen Sie, wo er ist? Sie würden – mit der Angabe – den Behörden einen Gefallen thun! sagte sie kleinlaut.
Hubertus legte die Hand an den Knochen, der sein Kinn war, und betrachtete von unten her, forschend und mistrauisch, die kalte Ruhe, die sich ihm gegenüber als völlig sorglos zu geben suchte. Ob diese Ruhe gemacht war, unterschied er nicht. Der gute Bruder hatte ein edles Herz, viel erlebt, seine Geistesgaben waren nicht die hervorragendsten. Fräulein, sprach er, als Lucinde so erwartungsvoll fragend dastand. Hier ist ein Brief an die Behörden in Witoborn! Der Regierungsrath von Enckefuß wünscht, daß Sie – ja Sie, Fräulein! – von seinem Vater, dem Landrath, um Ihre Bekanntschaft mit diesem Jean Picard befragt werden.
73 Lucinde hatte von Serlo einen Grundsatz angenommen: Droht dir eine Gefahr und du weißt es und sie naht endlich, dann denke dir nur immer gleich die ganze Fülle des Elends! Laß nichts von beschönigenden Mittelstufen, von möglichen bessern Erwartungen zu! Sage gleich: Alles ist verloren! Und bricht dann dennoch nicht alles so herein, wie du fürchtetest, so hast du gleich eine kleine Abschlagzahlung wieder auf Glück –! So sah sie sich jetzt, wo schon die Sicherheitsbehörden ihr Geheimniß wußten, geradezu bereits in Ketten und Banden. Sie sagte sich: So wandelst du hin! So wird dein Loos sich erfüllen! Das wird aus einem Weibe, wenn – »es keine Liebe findet!« So war dir's, als du auf der Bühne scheitertest! So war dir's, als dir in der Dechanei gekündigt wurde! Nun sieh nur zu, was noch alles kommt!
Der Mönch betrachtete das ihm durch Klingsohr so wohlbekannte Mädchen voll Staunen und Mitleid. Kreidebleich, wie der Rand des Kamins, stand sie und bemerkte nicht, daß ihr der Alte mit seiner knöchernen Hand den Brief selbst zu lesen gab. Die Augen gingen ihr tief innenwärts. Lesen Sie's nur selbst! sagte der Greis und sprach dies schon wie strafend.
Es ist zu dunkel! antwortete sie, wollte lesen und konnte nicht. Sie wandte sich, weil ihre Hände zitterten und hauchte: Sagen Sie nur selbst, was drinnen steht!
Hubertus theilte ihr den Inhalt des Briefes im kurzen Zusammenfassen mit. Lucinde hörte ihr Todesurtheil. Sie sah Flammen um sich her und konnte nicht entfliehen. Sie hörte Sturm läuten von den Thürmen und rannte sinnlos mit den andern. Grützmacher, der Wachtmeister aus Kocher am Fall, stand vor ihr mit seinem Signalementbuch und sprach sein: »Na Paschol, Mamsell!« Eine Emissärin hieß sie den Behörden schon lange . . .
74 So stand sie wie eine Statue. Bei alledem sagte sie. Dummheit! Da seh' ich die ganze – blonde – blauäugige – Weisheit des – Herrn von Enckefuß wieder! Wie kommen denn Sie – Sie, ein Klosterbruder, dazu, von diesen Menschen – in – Criminalsachen gebraucht zu werden?
Der Landrath kennt diesen Brief noch nicht! sagte Hubertus. Auch soll er seinen Inhalt sobald nicht erfahren – Darauf geb' ich Ihnen mein Wort – falls Sie mir sagen, Fräulein, wo ich – Jean Picard finde!
Lucinde wandte staunend ihr Antlitz. Und was geschah? Schon lag das Papier auf dem halb im Verkohlen begriffenen Feuer des Kamins. Der Mönch hatte es eben hineingeworfen und das plötzliche Wehen des Kleides, das entstanden war, als Lucinde sich hoffnungsbelebt umwandte, brachte den Zugwind, an welchem sich das Papier entzündete und langsam zu verbrennen anfing. Ich begreife Sie nicht –! flüsterte sie und fühlte bereits jene Serlo'sche »Abschlagzahlung wieder auf Glück« – ihre Augen blitzten, wie aus Regenwolken ein Sonnenstrahl.
Mein Fräulein, begann der Mönch, mag dem sein wie ihm wolle, und was Sie auch zusammengebracht hat mit solchem Volk, ich gebe Ihnen den Schwur beim Patron meines Ordens, daß ich diesen Teufel kneble, binde, geradezu aufhänge, wenn ich ihn finde, um ihn von seinem Lasterleben zurückzuhalten! Sagen Sie mir nur, wo ich ihn entdecke – diesen Jean Picard!
Waren das Worte der Verstellung? War dieser muthige, entschlossene Ton die Sprache eines Feindes oder eines Bundesgenossen? Der Mönch richtete auf sie jene Miene, die, das erkannte sie jetzt, ein Lächeln sein sollte. Sie vertraute dem innigen Ton der heftigen Rede des Alten und fragte im Vorgefühl befriedigender Aufklärungen: Was für ein Interesse haben Sie 75 denn aber nur an solchen Verbrechern, die, wie Herr von Enckefuß glaubt, meine Freunde sein können?
Bei St.-Franciscus! rief Hubertus. Das ist, denk' ich, keine Kleinigkeit, wenn man jahrelang an jemand in Liebe denkt, ihn wiedersehen will und wiedersehen muß und gerade im selben Augenblick von ihm erfährt, ein Dieb, ein Räuber ist's geworden, wie – die andern waren! Sehen Sie diesen Picard milder an, so weiß ich nicht, warum, Fräulein! Ich habe in jungen Jahren ein paar gute Körner in den Schurken gelegt: Sind die so schlecht aufgegangen? Ist so ganz der Apfel beim Stamm geblieben? Zwischen zwei Bäumen im Wald mach' ich aus ihm eine Hängematte und laß' ihn nicht eher zur Erde herunter, als bis er mir vor Gott ein besserer Zeuge wird! Das schwör' ich Ihnen!
Wie kühlender Regen nach wochenlanger trockener Hitze überrieselten diese Worte Lucindens Furcht und Bangen. Sie sah eine Möglichkeit, den Verbrecher zurückzubringen von seinem boshaften Plane, der, trotz besserer Anwandelungen bei dem Gange durch die unterirdischen Gewölbe, doch ohne Zweifel kein andrer war, als Nück zu den höchsten Geldzahlungen zu zwingen. Sie entsann sich seiner Scheu vor einem Madonnenbilde, entsann sich seines Ganges in den Beichtstuhl Bonaventura's. Vielleicht war Bickert nicht nur einer Drohung, sondern selbst einer Mahnung zum Bessern zugänglich. Lebte doch in ihm jene, von der moralischen Milde des Katholicismus in den Köpfen der Masse angerichtete Ideenverwirrung. Sie sündigt und beichtet und beichtet und sündigt. Der Bravo läßt erst den Dolch weihen, der gedungen ist, einen andern zu morden. Die gemachte Beute wird mit der Gottesmutter und mit den Heiligen getheilt.
Um ihre Freude nicht zu verrathen, schwieg Lucinde und redete auch dann noch nicht, als Hubertus mit immer dringlicherer 76 Eile fortfuhr: Sie kennen Jean Picard! Sagen Sie mir aufrichtig, ohne Furcht, wo ist er? Verlieren wir keinen Augenblick! Ich will ein Wort mit ihm reden wie Jüngstes Gericht!
In Lucindens Innern zog es wie eine himmlische Musik auf. Jetzt erschien ihr Hubertus schön. Sie hätte ihn küssen können – aber auch schon lachen vor innerstem Krampf und namenloser Freude. Dennoch verharrte sie schweigend.
Sagen Sie mir es nicht? Mir? Dem Mönch? Was sollte auf Westerhof geschehen?
Lucinde zuckte zusammen.
Reden Sie! Ich bitte! Um Gottes und der heiligen Jungfrau willen!
Ich will Ihnen vertrauen! sprach sie. Auch ich – möchte – den – verirrten – Menschen schonen! Eine elende Vorspiegelung hat ihn bestimmt, hieher zu reisen und ein Verbrechen auszuführen, das ich – Ihnen nicht anzugeben weiß, das aber gute – unschuldige Menschen – ja mich selbst in peinliche Lagen bringen kann! Versichern Sie sich seiner Person! Haben Sie Einfluß auf ihn, so können Sie mir und manchem, der Ihnen dafür ewig danken wird, keinen größern Dienst erweisen, als wenn Sie ihn, wie Sie nur irgend können, unschädlich machen! Ich wünschte, Sie wären nicht so geldscheu, wie Klosterbrüder es sein sollen! Verlassen Sie sich hier auf Geld! Geld scheint das einzige Mittel zu sein, diese wüste Seele zum Bösen oder vielleicht auch noch zum Guten zu lenken – Und wenn ich Ihnen aus meinen Mitteln –
Das lassen Sie nur! unterbrach Hubertus. Sehen Sie, wie sich alles treffen muß – Dem Schurken hielt ich zehntausend Thaler in Bereitschaft –! Sie staunen? Noch mehr! Das ist Geld, an dem Ihre Thränen haften, Fräulein! Ja, Ihre! Geld, das Sie, Sie mit erwerben halfen durch Hunger und 77 Entbehrung! Mir fiel ja jene Erbschaft der ermordeten Frau zu, die auch Sie auf dem Gewissen hat –!
Lucinde war es nicht gewohnt, etwas von ihren Thränen zu hören. Wie sich der ewig Unglückliche des Glücks entwöhnen kann und dessen Annäherung gar nicht mehr mit voller Beseligung fühlt, so entwöhnt sich auch das Herz, das man ewig kalt und empfindungslos nennt, der Anerkennung seiner bessern Gefühle. Sie war mehr erstaunt als gerührt über diese Worte. Sie erschrak sogar über sie: sie erinnerten an Klingsohr. Woher wissen Sie das? fragte sie.
Durch Pater Sebastus weiß ich es! bestätigte Hubertus und musterte Lucinden mit dem vollen Rückblick auf alles, was er über sie wußte und, nach dem Eindruck, den sie ihm machte, jetzt wol für glaublich halten konnte. O wüßt' er, fuhr er mit freundlichem Nicken fort, daß Sie in seiner Nähe sind! Darf ich's dem Armen nicht sagen?
Wem? fragte sie ausweichend und befremdet.
Heinrich Klingsohr!
Wir sprechen von den Gefallenen, nicht von den Erhöhten! sagte Lucinde mit einer devoten Wendung. wie sie ihr jetzt so geläufig geworden. Sie finden den, welchen Sie suchen, auf dem Schlosse Westerhof! Unter dem Namen »Schneid« hat er dort eine Stelle gefunden. Sein Aeußeres – Seit wie lange schon sahen Sie ihn nicht?
Seit länger als dreißig Jahren! Aber ich habe das Merkzeichen meiner Kinder. Also schon in Westerhof! Was wollt' er nur dort?
Warnen Sie ihn!
Warnen? Damit halte ich mich nicht auf! Ich trag' ihn auf einen Thurm und werf' ihn hundert Fuß hinunter, wenn er nicht Ordre parirt! Ist aber noch an ihm zu flicken, so schaff' 78 ich ihn nach Bremen und von da aufs Schiff – mag er dann nach Amerika gehen!
Lucinde sagte sich selbst: Werde nur nicht übermüthig, seit du siehst, daß dich noch der Himmel liebt –!
Hubertus begann eine Frage, die er, die Gelegenheit nutzend, auch noch nach Terschka richten wollte, unterbrach sich jedoch, weil in der Ferne die Jagdhörner ertönten. Also auf Westerhof! wiederholte er. »Schneid«! Und – Sie – Sie Wilde! Warum soll ich nicht den Pater Sebastus grüßen?
Einem Kloster ziemt kein Frauengruß!
Aber der Arme sitzt in Haft! Wie hätt ich ihm gegönnt, nach Lüttich zu entfliehen –!
So vertraut war Hubertus mit Klingsohr . . . In Haft? fragte Lucinde.
Wenn ihn nicht heute der Domherr von Asselyn frei bekommt. Der wollte ein Wort für ihn beim Provinzial einlegen.
Lucinde sah im Geist zwei, drei Räder vor ihren Augen gehen und sich selbst in deren Mitte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – alles rollte rundum – Noch einmal rief sie dem schon Abschiednehmenden und immer vor sich hin: »Schneid!« »Schneid!« Murmelnden und richtete die Frage an ihn: Wissen Sie nicht irgendeinen hohlen Baum? Eine vom Blitz erschlagene Eiche?
Im Düsternbrook! Gewiß!
In einen solchen Baum soll Klingsohr entfliehen!
In – einen – Baum –?
Ja! Ich denke – Wo möchte der Pater am liebsten sein?
Entweder wo Sie sind oder – in Rom!
Nun gut! Der Weg nach Rom führt durch jenen hohlen Baum –! Aber die Jäger kommen – Ein andermal –!
Was Jäger! Auch ich war einmal einer – hier und in den 79 Wildnissen Javas! Was Entbehrung und Anstrengung heißt, das kenn' ich! Ich bin von Schlangen gebissen worden und Malayen sogen mir das Gift aus der Wunde. Selbst lernt' ich dann Gift aus einem frisch gebrochenen Schlangenzahn saugen und keine Schlange mehr hatte seitdem Gewalt über mich. Doch ja! Eine – Eine freilich –! Aber was soll's mit dem Baum? Ich verstehe – nur – erst – halb und halb . . .
Lucinde wiederholte einen von Nück gegebenen Rath. Die Regel Ihres Ordens, sprach sie schnell und wie zwischen Thür und Angel, gestattet Ihnen Veränderungen Ihrer Lage, doch müssen Sie – vom Strengen zum Strengeren übergehen! Flieht der Pater in einen Baumstamm, lebt dort als Einsiedler, erträgt die Härte des Winters, bleibt in Sturm und Regen, hütet sein Crucifix und kümmert sich nicht, wer oder was ihn ernährt, so hat kein Kloster mehr Gewalt über ihn; das Bedürfniß größerer Gottseligkeit ist heilig. Kommt dann aber – der Frühling – kommen die Schwalben –
So entfliehen wir nach Rom!
Auch Sie?
Auch ich!
Nun gut! Aber – ohne Schuhe, ohne Sandalen! Ohne Kapuze! Statt des Stricks – mit dem Stachelgürtel! Nach der Regel des heiligen Petrus von Alcantara, die Sie vorgeben müssen in Rom annehmen zu wollen. Seinen getreuen Alcantarinern wird St.-Franciscus Verzeihung gewähren – die Prüfung ist groß! Aber wo seh' ich Sie wieder? Man kommt! . . . Morgen in der Frühe im Münster von Witoborn!
Im Münster von Witoborn–? wiederholte der erstaunte Mönch. Schon aber drängte sie ihn aus dem Zimmer, zog die Thür schnell wieder an sich und eilte die Reste des Briefes vollends zu 80 zerstören, ihr Haar, ihre Kleider zu ordnen und sich zur Rückkehr in die Gesellschaft zu sammeln.
Ihre Brust athmete auf. Kann denn für dich, riefen ihr tausend frohlockende Stimmen, noch ein Wunder geschehen? Selbst das Gefühl der Versöhnung mischte sich in ihren Jubel. Wurde das Verbrechen unterdrückt, so zog keine unerbittliche Hand Paula von Bonaventura's Seite. Auch das glaubte sie jetzt wünschen zu können! Mit erleichtertem Herzen, hoffnungsvoll kehrte sie in den nunmehr vom Kerzenlicht schon widerstrahlenden Saal zurück.
Inzwischen war das ganze Schloß in Bewegung gekommen. Man hörte Hörnerschall, Peitschenknallen, Hundegebell in nächster Nähe. Die Jagd kehrte heim. Jubelndes Halali wurde geblasen, herein schon bis in den Schloßhof. Im Saale standen die Frauen geschart zum Empfang der Männer. Von Püttmeyer's Künsten waren sie noch wie Traumbefangene; nicht minder behaglich war die Wirklichkeit, in welche sie der Glanz der Lichter, der Duft der Speisen zurückrief.
Zuletzt war der Erfolg der Jagd noch der lohnendste gewesen. Das erlegte Wild kam in einer langen Wagenreihe an, hoch bedeckt mit Tannenzweigen. Sämmtliche Treibleute, die den Tag über und schon gestern meilenweit mitgewirkt hatten, standen im Schloßhof und empfingen ihren Lohn für die gehabte Anstrengung. Man zahlte mit Geld und mit anerkennenden Worten. Der Graf hatte große Treffer von sich zu rühmen und war in bester Laune. Der gefürchtete Terschka hatte weniger geleistet, als man erwartet; er trug an der grünen Mütze seinen Tannenschmuck ohne Berechtigung zur Ueberhebung.
Nun traten auch der Dorste'sche Oberförster und seine Gehülfen, der Wildmeister und die Leibschützen, mit den bisher zurückgehaltenen Glossen der echten Jägerpraktika hervor und erklärten jeden Schuß, wie er hätte sein sollen, berichtigten jedes Misverständniß, deuteten an, wie man jenen Rehbock, diesen Spießer sogleich da oder dort hätte aufs Blatt nehmen sollen. Darin waren alle einverstanden, daß die Freude und das zuletzt dann auch nicht ausgebliebene Glück erst eingezogen, als der Landrath entfernt worden.
Ueber diesen Zwischenfall wurde laut nicht mehr viel gesprochen; der Damen wegen flüsterte man nur davon. Der Landrath mußte für »tollgeworden« gelten. Ueber dabei etwa Versäumtes beruhigte einer den andern, seit man von Hubertus' glücklich getroffenen Anordnungen und von der Abholung des Landraths aus einem Bauernhause durch sein Fuhrwerk und seinen Bedienten wußte.
Der Hinblick auf die Vorgänge im Hof hätte für die Frauen ein abschreckender sein sollen, denn das letzte erlegte Wild wurde hier von den Jägern ausgeweidet. Lunge, Herz, Leber, das Feiste in den Wammen, alles fiel den jagdkundigen Helfern zu, nach Jägerrecht. Sorglichst wurde weder hievon abgewichen, noch von den Trinkgeldern, die man Demjenigen in die Hand drückte, der den Herren das Tannenreis an Hut oder Mütze flocht. Der Anblick, an sich schon wild, machte sich malerisch durch die angesteckten Fackeln. Rings die alterthümlichen Wände und Galerieen. Schon allein das Getreibe der Hunde, die jetzt auch für die lang zurückgehaltene Gier durch ihren Antheil belohnt wurden, war eine Aufgabe für die Vereinigung der Talente eines Snyders und Rubens.
Dann wurde der Rückblick auf die Geschichte des Zusammensturzes dieser Thiere, die mit ihrem Blut den Boden bedeckten, mit einem Stimmeneifer begleitet, als handelte es sich um die größten Begebenheiten der Welt. Jeder stutzende Seitensprung eines Böckleins wurde noch jetzt belacht, nicht etwa gerade weil die 82 »nobeln Passionen« Empfindungslosigkeit mit sich bringen, sondern weil in der That doch der Mensch an der Ausübung seiner Hoheitsrechte über die Natur eine berechtigte Freude haben darf. Die Spottreden waren nicht mehr so scharf gesalzen, wie im Beginn. Hatten doch auch des Tannenzweigs, d. h. Trinkgelds wegen, die jedem Einzelnen mitgegebenen Schützen dafür gesorgt, daß zuletzt jeder auch noch so lateinische Jäger gleichsam wie von Samiel's Hand eine sicher treffende Freikugel bekam, und sollte sie auch nur in der diabolisch vermessenen Sicherheit bestanden haben, mit der unter fünf glücklichen Schüssen, welche auf zwanzig Schüsse überhaupt kamen, einer sicher auf den von jenen secundirten Herrn gerechnet wurde. Dieser glaubte es dann selbst und je dunkler es wurde, desto weniger Widerspruch fand sich auch bei den andern. Onkel Levinus strahlte vor Genugthuung und Zufriedenheit. Auch die Amazonen, selbst Fräulein von »Anflicker«, hatten heute getroffen und zeigten im Hof ihre Opfer. Nur Armgart erklärte mit aller Offenheit, sie hätte nichts erlegt. Sie war auch die einzige, deren Zähne vor Frost klapperten. Sie suchte fiebernd den Ofen und hockte wie ein Wurzelmännlein. Terschka und Thiebold machten sich ständig um sie zu schaffen. Benno sah man nicht mehr. Zu Thiebold's Leidwesen hatte er sich zu Fuß auf den Weg gemacht und war mit lässig übergeworfener Flinte auf Witoborn zu hinausgeschritten in die stille Nacht.
Graf Münnich war der höflichste Wirth. Die Jäger, die jetzt bei der Bewirthung halfen, gingen mit Tellern, Flaschen, Servirbretern geschäftig an ihm vorüber, als wenn er heute früh keinen einzigen von ihnen bei Seite genommen und gesagt hätte: Gegen Baron von Stein, gegen Graf Mengenberg hab' ich nicht die mindeste Lust großmüthig zu sein! Wie sie mir, so ich ihnen! Laßt sie nur immer in Büsche treten, wo sie nicht mehr ein noch aus wissen –! Trotz dieser tückischen Jagdpraktika folgte jetzt Behagen, Genuß, Erholung. Die Gattinnen, Töchter und Schwestern der Nimrods würzten nicht nur das Mahl durch ihre Erzählungen über den allgemein mit Verehrung begrüßten Doctor Püttmeyer, der sich wie ein aufgeschreckter Gnom des Waldgebirges zeigte, vorher sein Hemd gewechselt und das gute Fräulein Huber sogar ohne Dank für ihr Spiel hatte abreisen lassen (sie blieb nicht beim Mahl, trotz der Bitte der Gräfin), sondern sie hinderten auch den Ausbruch allzu wilder Natürlichkeit, die Wahl allzu sorgloser Wortbezeichnungen, das Erzählen allzu derber Anekdoten.
An Gesundheiten fehlte es nicht. Der Graf ließ seine Gäste leben, die Gäste ließen Graf und Gräfin leben. Dann kam der Toast, der immer neu ist, wenn auch der gewöhnlichste von allen, auf die Damen. Unter diesen befand sich jene jagdmuthige Seele, die Freiin von Böckel-Dollspring-Sandvoß, die in ironischer Weise »die Philosophinnen« leben ließ. Diese rächten sich und ließen durch Mengenberg »die Amazonen« leben. Die Amazonen brachten wieder einen Toast auf Doctor Püttmeyer aus. Diesen von Fräulein von »Anflicker« gesprochenen Toast nahm man mit Jubel auf. Er übertönte das Wohl aller andern um so mehr, als inzwischen die Husarentrompeter herausgekommen waren und ihre Instrumente lustig in den Saal herein erschallen ließen. Fanfaren folgten auf Fanfaren, ein Jagdstücklein aufs andere; der grüne Heuschreck Stammer fehlte nicht und machte seine landbekannten Possen. Dann erhob sich der Oberförster, der an der Tafel theilnahm, und hielt eine Rede, die sogar theilweise an Thiebold gerichtet war, eine Rede, die sich bis in die altdeutschen Urwälder verlief, in einigen Sümpfen stecken blieb und endlich nach langen Umwegen, während man wunder dachte wo er herauskommen würde, unter Thränenanflug bei seiner »theuern, liebwerthesten gnädigsten jungen Herrschaft« anlangte, bei Comtesse Paula.
84 Das gab nun einen Sturm von Beifall. Alle Gläser erklangen. Auch das Glas Armgart's, die zwischen Onkel und Terschka saß. Wie ihre Augen sich gefeuchtet hatten, bemerkte niemand. Gräfin Paula auf Westerhof erschien allen wie in der Glorie einer Schutzheiligen des Landes.
Lucinde saß in einem Kreise von Offizieren. Schon fing sie an allgemeines Interesse zu erregen. Terschka hatte sie sogleich erkannt und wollte auf sie Armgart aufmerksam machen. Diese aber redete, um ihr Seelenleid, den ganzen Jammer ihres wahnbethörten Herzens zu verbergen, mit Püttmeyer, der ihr gegenübersaß, und entschuldigte ihre Nichtanwesenheit bei seinem Vortrag, der ja, sie sprach dies Lob im vollen Glauben aus, »so entzückend schön« gewesen sein sollte.
Püttmeyer hörte indessen nur halb. Er wollte den ihm dargebrachten Toast erwidern und es ist ein eigener Zustand im Menschen, wenn er einen Toast, so zu sagen, im Leibe hat. Oder wie anders soll man die Lage nennen, die nicht unähnlich sein soll der Sehnsucht nach einer glücklichen Niederkunft? Sage man was man will, Steckenbleiben ist bitter und Geistesgegenwart ist nicht jedermanns Sache, am wenigsten derer, die grade Geist haben. Da sitzt ein toastschwangerer Mensch und die Speisen werden ihm servirt und er nimmt mit dem Löffel, was er mit der Gabel greifen soll, tief abwesend und nur in der Repetition aller der schönen Dinge lebend, die er sagen möchte. Nun begegnet ihm wol gar noch das Unglück, daß ihm links ein Nebenmann fortwährend die Flammen der Begeisterung schüren will, mit dem Messer an ein Glas zu schlagen droht, zum Zeichen, daß jemand hier sprechen wolle. Um Gottes willen, noch nicht! ruft der verzweifelnde Demosthenes dazwischen, während er wieder, statt sich in Muße sammeln zu können, zur Rechten von einer unglücklichen Plaudertasche ins Gebet 85 genommen wird, die ihn, nichts ahnend, über alles ausfrägt, den Kirchenstreit, den Kirchenfürsten, über Roms Allocutionen, Concordate, über Exercitien, Barmherzige Schwestern, Hoffnungen auf neue Klöster und Jesuiten. Eine Erklärung wie: Beste gnädigste Frau Gräfin, schonen Sie mich, ich habe einen Toast im Leibe! kann ein Mensch von Geist unmöglich abgeben, da ein Toast immer nur die Schöpfung eines fast bewußtlosen, genial improvisirenden Mittheilungsdranges sein soll. Ein verzweiflungsvoller Zustand! Um so mehr, wenn der rechte Moment vorübergehen kann, wo Toaste, die nach vielen andern kommen, bereits ihre Zündkraft verlieren.
Püttmeyer hatte die Gräfin Münnich zur Linken, das Fräulein von »Anflicker« zur Rechten, Armgart sich gegenüber. Klopfte auch jene nicht, einen »Zustand« an ihm bemerkend, vorschnell mit dem Messer an ihr Glas, so glaubte doch die Dame zur Rechten alles aufbieten zu müssen, den hochberühmten Denker so zu unterhalten, wie es einer Dame auch ihres vielseitigen Rufs geziemte; denn Fräulein von Merwig-Anflicker, eine Jungfrau in den Vierzigen, war von einem Unternehmungsgeist, der in allen Gebieten Courage zeigte, in der Jagd, im Musikalischen, in der Plastik, in der Poesie, in der Declamation – nichts fehlte, als der Erfolg. Püttmeyer! Püttmeyer! Wahre deinen Vortheil! Gleiche dem Maikäfer, den der glückliche Knabe über die Hand laufen läßt! Im besten Bewundern seines ob schwarzen ob braunen Halsschildes, seiner behaarten Fußschienen, fliegt er dem Beobachter auf und davon! Fräulein von Merwig-Anflicker reißt die Debatte an sich und dich mit hinein! Sie muß ja streiten, streiten bis zum Unschönen – sie stritt schon sogar einmal bis zu einem nur mühsam beigelegten Pistolenduell. Die Offiziere necken sie heute über den Tisch hinweg mit ihrer Kunst zu reiten und ein feinerer Kopf unter ihnen spricht, in Anspielung auf die 86 ungedruckten Gedichte des Fräuleins – vom Hufbeschlag des Pegasus und vom Riemzeug und vom Geschirr der Sonnenrosse . . . Nun erwidert sie: Dem Huf des Pegasus sind die Hufeisen verkehrt angeschlagen! Wer seinem Wolkenflug nicht folgen kann, wer ihn nur zu würdigen weiß, wie der Aermste mit geknicktem Flügel über die Sandflächen der Erde dahinjagen muß, den führt seine Spur gerade immer nur auf die entgegengesetzte Seite hin, als die ist, wohin ihm die nichtsnutzige Kritik im Sande nachtrottet –!
Das war ein Wort der Kraft und erntete nicht wenig Zustimmung, zerstreute aber leider Püttmeyer'n. Das tief sympathische Wort »Nichtsnutzige Kritik« brachte ihn vollends aus dem Kreisen seines Toastes.
Aber die Sonnenrosse –? rief Onkel Levinus und hob sein Römerglas, heute die ganze Freiheit seiner – ungeschlossenen Ehe genießend. Wie die Sonnenrosse eingeschirrt werden, fuhr er begeistert fort, das kann man nur wissen, wenn man Aurora auf ihrem Gespann von einem Berg der Alpen begrüßt hat oder vom Capitol in Rom oder von einem Vorgebirge Griechenlands aus! Da hört man die Sonnenrosse, wie sie angeschirrt werden! Da sieht man's, wenn die ersten gelben Lichter über die dunkelblauen Wellen im Ost wie von einem Wind heraufgetragen erscheinen, das Meer geweckt wird aus nächtlichem Schlummer, dann sich alles purpurn und violett und blau übermalt! Immer unruhiger jauchzt das Meer der Sonne, wie einem Bräutigam, entgegen! Was Correggio, Guido, Raphael gemalt haben, das sieht man jetzt! Neptun, Io und Jupiter und Europa! Tritonen! Alles bläst und spritzt Wasserstrahlen über sich her und auf Delphinen schwimmt ein Brautzug mit Blumen und flatternden Bändern! Nein, meine Herren und Damen, im Süden haben die Sonnenrosse gar keine Eisen an den Hufen! Nur hier, 87 hier bei uns, wo sie ihren feurigen Wagen über die traurigen Eisschollen des Philisterthums schleppen müssen, hier, hier muß wol – die alte westerhofer Schmiede dran!
Das gab eine Erregung! So konnte Onkel Levinus sprechen, wenn durch sein eigenes Philisterthum einmal der Genius, der ihm nicht fehlte, hindurchbrach. Der Adel wußte, was er an diesem Manne besaß. Er drückte ihm aus, was zu besitzen ihm Beruhigung gewährte, wenn man Schiller und Göthe ablehnte. Da waren ja auch Denken und Dichten, Wahrheit und Schönheit vertreten; wozu brauchte man die protestantische Welt? Auf Freiherrn Levinus von Hülleshoven war die ganze Provinz stolz – nur mußte er nicht von Rom, Griechenland und Jerusalem gleich auch nach Abyssinien und Cochinchina reisen. Deshalb kamen die Hörner gerade recht, die ein lustiges Jagdlied schmetterten.
Schon war das reiche Mahl beinahe zu Ende, schon war der heute so auffallend schweigsame Terschka in die Nothwendigkeit versetzt, sowol auf Rom, wie auf den Hufbeschlag der Pferde Rede zu stehen – hatte er doch die Offiziere durch seine Kenntniß des letztern, wie die Damen durch seine Kenntniß des erstern oft genug gefesselt – als Püttmeyer endlich an sein Glas klopfte. Beim fortgesetzten Gefülltwerden desselben hatte er bemerkt, daß seine Sinne zu schwindeln anfingen und der Augenblick zu kommen drohte, wo der Mensch von Einsicht erkennt, daß er keinen Toast mehr bringen soll. Er wollte daher die Zeit nutzen.
Allgemeines Bravo und Klopfen an die Gläser folgte.
Püttmeyer steht auf. Es war ein Moment, wo ihm der Boden unter den Füßen wankte. Hinter einem Transparent im Dunkeln hatte er stundenlang sprechen können – jetzt aber mußte er seinen ganzen Menschen aufbieten, um sich zu behaupten. Danken wollte er für das ihm gebrachte Hoch, wollte wiederum seiner Philosophie, wie sich's erwarten ließ, eine anerkennende 88 Zukunft prophezeien. Schon sah Armgart durch die flimmernden Thränennebel ihrer Augen hindurch die sonnenbeschienene Warte des Geyerfels, von welcher Angelika Müller einst in einer schönen Stunde gesprochen: Da möchte man predigen! Schon war Püttmeyer's: Hochzuverehrende Damen und Herren! über seine Lippen, die etwas im Tone Schnuphase's sprachen; schon hatte er wiederum zum Beginn seiner eigenen Verherrlichung gelegenheitsgemäß gesagt: »Wie aus dem Wald – hmhm! – in welchem die edle Waidmannskunst vor wenigen Stunden – hmhm! – zum letzten mal, ehe die Axt des Holzschlägers die alten Stämme niederlegen wird, ihr fröhliches Jagen erschallen ließ, sich in kurzer Zeit die Grundlagen einer jener Eisenstraßen erheben werden, welche das Gaslicht – hmhm! – der Aufklärung endlich auch in unser Land – hmhm! – in das Land der Böotier« – – und schon war nach dem stürmischen Jubel auf dies ironische Sichselbstverspotten durch ein Stichwort, womit die fragliche Provinz nicht selten bezeichnet wurde, und nach dem Wehen der Damentaschentücher, die in diesem Augenblick zu Kriegsfahnen wurden für den neueröffneten Kreuzzug gegen Ketzer- und Beamtenthum – schon war Püttmeyer im Begriff, seinem »einsamen Denkstein« und seinem: »Heureka!« auch vor den Männern eine genugthuunggebende Zukunft zu verheißen, als auch in diesem Augenblick wieder – die Lacerte am Riedbruch dahinhuschte, wieder wie zur Flucht Lucinde, die schon Allbeobachtete, aufsprang und die Thür suchte.
Diesmal war aber die Störung das Signal eines allgemeinen Aufbruchs. Im Saal waren die Fenster nicht verhängt gewesen. Durch eine große dreigetheilte Balkonthür hindurch hatte man einen erschreckenden Anblick.
Feuer! riefen draußen schon Stimmen zu gleicher Zeit. Feuer! wiederholte man auf den Corridoren. Ein Nordlicht ist's! rief 89 zwar jemand im Saale, zur Beruhigung auffordernd. So glührother Schein konnte aber nur einem Brande angehören.
Eine Weile herrschte Todtenstille. Der Feuerschein war im Süden. In St.-Libori ist's! riefen die einen. In Heiligenkreuz! die andern. Auf Westerhof! schrie Armgart und stürzte wie aus einem Traum erwachend, der den Tag über dumpf auf ihr gelegen, und mit fanatischer Erregung zur Thür hinaus.
Die Rede und das Fest waren zu Ende. Püttmeyer stand an der Tafel, wie ein kalt gewordenes Gericht. Er konnte sich nicht finden. Es war ihm, als wäre ihm plötzlich sein eigener Verstand davon und zur Thür hinausgelaufen.
Die Beruhigungen des Wirthes und der Diener konnten niemanden mehr zurückhalten. Ein breiter glührother Schein blieb quer über dem schneebedeckten Rücken eines Tannenwaldes liegen. Am Zittern des Scheins sah man, daß die Flamme vom Winde bewegt wurde. Bald war der Schein stärker, bald schwächer; die Bewegung kam wie in regelmäßigen Pulsschlägen. So unheimlich sah es sich an, daß die Frauen die Erscheinung schon fühlten, wie die intermittirende Bewegung des eigenen Herzens. – Die Phantasie der einen machte sich durch Aufschreie Luft, die andern gingen wie in der Irre. Jede Natur, mochte sie sich eben auch ganz in der Beherrschung gegeben haben, die Bildung und Ueberbildung mit sich bringen, warf jetzt die Fesseln ab. Die schweigsamste wurde beredt, die lauteste verstummte. Schluchzen hörte man, Trostworte. Alle aber riefen: Die arme Paula! Und sie hat es vorausgesehen! Levinus, Armgart, Terschka und Thiebold waren längst verschwunden.
Noch ehe diejenigen, die auf das obere Stockwerk und das Dach geeilt waren, zurückkehrten und die Nachricht brachten, es schiene in der That entweder das Schloß Westerhof oder die Liborikirche oder das Stift Heiligenkreuz zu brennen, war der 90 Saal entleert. Im Hof drängte man sich kaum zum Durchkommen. Die Pferde, die Spritzen wurden aus den Ställen und Remisen gezogen. Viele Herren, selbst Fräulein von Merwig setzten sich auf eine der Spritzen, um rasch nur an Ort und Stelle zu kommen. Dabei fehlten gerade die Diener, die Jäger, die Mägde. Viele schon hatte der magische Reiz, den jede Feuersbrunst ausübt, angezogen. trotz der ernsten Warnung des Grafen, die jedem verbot sich ohne Erlaubniß zu entfernen.
Frau von Sicking war unter allen die verlassenste. Ihr Besitzthum war glücklicherweise nicht genannt worden. Sie ließ sich von jedem, der noch nicht im Besitz seiner Pelze, Mäntel, Fußsäcke war, Bericht erstatten von Paula's gestriger Vision und sah sich zuletzt nach ihrer bei alledem fast zu auffallend schreckhaften Begleiterin um. Wo ist mein Fräulein? rief sie.
Ein Jäger sagte, das Fräulein wäre wie ein angeschossener Vogel gewesen und plötzlich verschwunden. Man suchte sie. Lucinde war nicht zu finden.
Mit Verdruß über »diese denn doch merkwürdigen Sonderbarkeiten«, aber mit interessanten Thatsachen für ihre weitverzweigte Correspondenz bereichert, fuhr Frau von Sicking allein nach Hause.