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Einundsechzigstes Kapitel.
Erklärungen


Seit zwei unendlich langen Tagen hatte Baron von Breda den Ton dieser Stimme nicht mehr gehört. Bei dem lieben Klange derselben schrak er ordentlich zusammen, und es dauerte ein paar Augenblicke, ehe er öffnete.

Er trat in das kleine Vorgemach, welches sich zwischen Eugeniens Schlaf- und Wohnzimmer befand. Sie stand an der Thür des letzteren, sie streckte ihm beide Hände entgegen und rief fröhlich aus:

»Ah! Onkel George! Du kommst mich zu besuchen.« Doch plötzlich wiederholte sie das Onkel George mit ganz anderer, trüber, leiser Stimme und setzte ebenso hinzu: »Du willst nach mir sehen.« Dabei ließ sie ihre Hände niedersinken, ehe die seinigen dieselben erfaßt hatten, wandte sich um und trat an ihren Schreibtisch zurück, der an dem Fenster stand, welches George von Breda droben von der Anhöhe gesehen, an demselben Fenster, welches Graf Helfenberg in den Plänen des Hauses so eifrig betrachtete, und von welchem dieser so süß und doch wieder so schmerzlich geträumt. Eugenie saß viel an diesem Fenster, und sie ließ sich auch jetzt wieder neben demselben auf ihren kleinen Fauteuil nieder. Dann sprach sie: »Es ist schön von dir, Onkel George, daß du nach mir siehst.«

Der Baron hatte vorhin mit einem unnennbaren Schmerze bemerkt, daß sie ihre Hände sinken ließ, statt sie ihm, wie sonst, darzureichen. O, er hatte sich darauf gefreut, diese lieben Hände wieder berühren zu können, er hatte auf dem Wege hieher viel darüber nachgedacht. Er wollte sie freundlich an sich ziehen, er wollte in das klare, glänzende Auge blicken und sie dann hastig ohne Vorbereitung fragen: »Nicht wahr, Eugenie, das hast du nicht gethan, was mir Fremont erzählte? Du hattest mit dem Grafen Helfenberg keine Zusammenkünfte, du sahst ihn nicht dort in dem kleinen Hause in der Gasse am Blumenmarkte? – Nein, nein, gewiß nicht, ich glaube es nicht!«

So hatte er zu ihr sprechen wollen, sanft, innig, herzlich, und er war überzeugt, sie würde alsdann lächelnd mit dem Kopfe schütteln, ihn mit ihren wunderbaren Augen anschauen und dann sagen: »Nein, Onkel George, gewiß nicht. Wie kannst du so etwas glauben?«

O, es waren wilde, glühende Träume, die durch sein Gehirn zuckten, die aber nun mit einem Male hohnlachend davon flatterten, als sie sich von ihm abwandte, und eine tödtliche kalte Leere in seinem Herzen zurückließen, – eine Leere, die sich gleich darauf mit grausamen Gespenstern bevölkerte, welche ihm triumphirend zuriefen: »Vorüber ist die Zeit, wo sie sich dir vertrauensvoll, wo sie sich dir liebend genähert; jetzt weicht sie von dir zurück, sie scheut deinen Blick, – das ist die Schuld – die Schuld.«

»Willst du dich nicht setzen, Onkel George?« sagte das junge Mädchen nach einer Pause, worauf der Baron stillschweigend einen anderen Fauteuil herbeirollte und sich ihr gegenüber niederließ.

Beide schauten sich eine Sekunde lang an, und Eines fand, daß das Andere blaß und angegriffen aussehe.

»Es ist doch schrecklich,« unterbrach Eugenie das Stillschweigen wieder, »was mit Andreas vorgeht, Nanette hat es mir so eben erzählt. Es hat dich gewiß alterirt, Onkel George.«

»Was denn? – Ah so! der Gärtner. – Ja, es passiren seltsame Sachen hier im Hause.«

Das junge Mädchen wandte ihren Blick dem Fenster zu, worauf der Baron fortfuhr: »Du warst leidend, Eugenie? Deine Tante hat es mir gesagt. Man sieht es dir auch an. Doch ich hoffe, das ist sehr vorübergehend.«

»Ja, es wird vorübergehen,« antwortete sie mit einem leichten Seufzer. »Ich danke dir, Onkel George, daß du endlich einmal nach mir siehst.«

»Daß du endlich einmal nach mir siehst,« hatte sie gesagt, und diese Worte ließen das Herz des Mannes ihr gegenüber schneller schlagen. Hatte es sie vielleicht geschmerzt, daß er sie zwei lange Tage vergessen? Hatte sie sich vielleicht deßhalb von ihm gewandt und ihm nicht ihre Hände gereicht, wie sie sonst immer zu thun pflegte?

»Wenn ich auch nicht nach dir gesehen, meine gute Eugenie,« sagte er warm, »so war ich doch in Gedanken oft bei dir.«

»O, in Gedanken,« entgegnete sie träumerisch, wie mit sich selber sprechend. »Du hattest doch freundliche Gedanken über mich, Onkel George?«

Sie hatte ihren leichten Sessel so nahe an das große Fenster gerückt, daß sie den Arm auf die Brüstung desselben legen konnte, was sie auch that, worauf sie den Kopf in die Hand legte und nun ihr Gesicht vom Wiederscheine des Abendhimmels leuchtend angestrahlt wurde.

»Gewiß in freundlichen Gedanken,« gab der Baron zur Antwort, »wie immer, wenn ich mich mit dir beschäftige. Mögen auch diese Gedanken anfänglich oft ernst, fast trübe sein, so ändern sie sich doch fast jedes Mal, wenn sie dich zum Gegenstande haben; denn ich kenne dich, mein gutes Mädchen. Nicht wahr, Eugenie, ich habe dich immer gekannt, wie du bist?«

Er hätte in diesem Augenblicke viel darum gegeben, wenn sie ihm ihr Gesicht zugewandt und ihn vertrauensvoll angeschaut hätte. Aber sie that das nicht, sie blickte in die Landschaft hinaus, vielleicht in den dämmernden Himmel, der immer mehr erblaßte und seine trüberen Töne ebenso auf ihren Zügen wiederspiegelte.

Es wollte Abend werden. –

George von Breda bewegte sich unruhig auf seinem Fauteuil; er fühlte, vorüber flog, und vielleicht unbenutzt, einer der günstigsten Momente, um mit Eugenien zu sprechen.

»Ich war ausgeritten,« sagte er, »meinen alten, gewöhnlichen Weg. Dort hinaus, wo es zum Gute deiner Eltern geht. Von der Höhe sieht man mein Haus und, wenn ich nicht irre, auch das Fenster, an dem du gerade sitzest.«

»Ja, man wird es sehen, Onkel George,« erwiderte das Mädchen mit leiser Stimme, »denn durch die fast noch kahlen Zweige der Bäume erblicke ich von hier aus jene Anhöhe.«

Der Baron nickte mit dem Kopfe und fuhr fort: »Dort oben traf ich mich Fremont zusammen, oder vielmehr er kam mir nach. Dann ritten wir eine Strecke mit einander.«

»Das war wohl angenehm für dich, Onkel George, denn der Herr Baron von Fremont kann recht unterhaltend sein.«

»O ja, recht unterhaltend!« versetzte George mit einem so auffallenden Lachen, daß das junge Mädchen den Kopf herumwandte und ihn erstaunt anblickte. »Sehr unterhaltend! Denke dir nur, Eugenie, in dieser unserer Unterhaltung war auch von dir die Rede. Wie kann das für mich anders als sehr amüsant gewesen sein?«

»Du bist in einer eigenthümlichen Laune, Onkel George,« sprach ängstlich das Mädchen. »Solche Worte habe ich noch nie von dir vernommen, und es macht mich fast erschrocken, wie du sie aussprichst.«

»Du hast Recht, ich bin ein wenig aufgeregt,« gab er zur Antwort, indem er sich mühsam bezwang, ruhig zu scheinen. »Das kommt aber daher, Eugenie, weil ich mich fürchte, mit dir über etwas zu reden, was mir schwer auf der Seele liegt.«

»O, sprich darüber, Onkel George! Auch mir ist es gerade zu Muthe, als sollte ich von dir etwas erfahren, was mich tief bekümmerte.«

»Du hast ganz richtige Ahnungen.«

»Sehr richtige Ahnungen,« wiederholte Eugenie mit fast tonloser Stimme.

»Nun gut denn! – Ehe ich dir aber sage, Eugenie, was mich betrübt – o, betrübt ist nicht das rechte Wort,« setzte er leidenschaftlich hinzu – »was mich niederdrückt, was mir das Herz zerreißt, spreche ich meine Hoffnung aus, daß du mir ein paar Fragen mit deiner gewöhnlichen Offenheit und Wahrheitsliebe beantworten werdest. Ich weiß, daß du nicht fähig bist, eine Unwahrheit zu sagen, daß dein Ja ein wirkliches Ja, dein Nein ein wirkliches Nein ist. Und deßhalb zittere ich in Erwartung deiner Antwort.«

»Ich werde dir in Allem die Wahrheit sagen, Onkel George,« entgegnete Eugenie mit fester Stimme.

Es war unterdessen in dem Zimmer so dämmerig geworden, daß Keiner der Beiden die Gesichtszüge des Anderen mehr recht unterscheiden konnte. Der Baron sah gegen das hellere Fenster abgezeichnet die Gestalt des jungen Mädchens in dunkeln Umrissen, während er selbst im tiefen Schatten saß.

»Kennst du den Grafen Helfenberg?« fragte er mit leiser Stimme.

»Nein, Onkel George, ich kenne ihn nicht.«

Er athmete tief auf und sagte dann: »So lange du draußen auf dem Gute wohntest, warst du zuweilen in dem Hause des Jägers Klaus. Sahst du dort nie Jemand, der dir unbekannt war, der dort nicht hinzugehören schien, der sich mit dir unterhielt?«

»Niemand, als einen Neffen des Jägers Klaus.«

»Ein Neffe des Jägers?« fragte der Baron in großer Spannung. – »Wer war das?«

Seine Worte mochten etwas heftig sein, denn das junge Mädchen wandte abermals den Kopf in das Zimmer hinein und schwieg eine Weile, ehe sie zur Antwort gab: »Der Neffe des Jägers war ein armer kranker Mensch; er erregte mir das tiefste Mitleiden, und ich hielt es für ein Werk der Barmherzigkeit, freundlich mit ihm zu sprechen, wenn ich ihn sah.«

George von Breda war hastig von seinem Stuhle emporgesprungen und schien mit Heftigkeit entgegnen zu wollen; doch besann er sich eines Anderen und preßte die Lippen auf einander; dann sprach er, aber erst nach einer Pause: »Und du solltest nicht gewußt haben, daß jener arme kranke Mensch, der in so hohem Grade dein Mitleid erregte, an dem du durch freundliche Reden Werke der Barmherzigkeit übtest, der Graf Helfenberg gewesen ist?«

»Was sagst du, Onkel George?« rief das Mädchen erschrocken. – »O, meine Ahnung!«

»Ah, du hattest also Ahnungen?« fuhr der Baron bitter fort. »Aber deine Ahnungen waren nicht klar genug, um dir, wenn wir von dem kranken Grafen sprachen, die hübschen Scenen im Jägerhause ins Gedächtniß zurück zu rufen und dich auf die Idee kommen zu lassen, als sei der Neffe des Jägers und Graf Helfenberg eine und dieselbe Person. Es fehlt dir doch sonst nicht an Phantasie.«

»Ich verstehe deine Vorwürfe, Onkel George,« erwiderte Eugenie, schmerzlich bewegt, »o, ich verstehe sie sehr, sehr! Aber ich kann dir sagen, daß sie ungerecht sind.«

Der Baron lachte laut auf und machte, um sich zu sammeln, einen Gang durch das Zimmer. Wie angenehm war es ihm in diesem Augenblicke, daß er die Gesichtszüge Eugeniens nicht erkennen konnte, daß er nicht ihr glänzendes Auge sah mit dem so lieben und offenen Blicke! Für das, was er zu sagen hatte, war ihm die Dunkelheit gerade recht, und deßhalb erregte es in ihm sogar ein unbehagliches Gefühl, als er einen Blick durch das Fenster auf die Landschaft warf und bemerkte, wie drüben der Mond aufgegangen sein mußte und mit seinem bleichen Scheine die Bäume vor dem Fenster, ja, dieses selbst streifte. Nur Eugenie saß noch in tiefem Schatten und regte sich nicht.

»Gut,« nahm er nach einer Pause wieder das Wort, »du kanntest ihn also nicht, als du damals mit ihm an dem erwähnten Orte zusammen kamst? – Nehmen wir an, es sei so. Doch muß das Mitleiden, welches du dem Grafen Helfenberg bewiesen, und die Freundlichkeit, mit der du ihn behandelt – auffallender Art gewesen sein. – Ja, auffallender Art,« wiederholte er, als er sah, daß das junge Mädchen am Fenster zusammen zuckte oder ein wenig ihre Haltung veränderte; »denn den Grafen brachten dein Mitleiden und deine Freundlichkeit dazu, dich leidenschaftlich zu lieben.«

»O, Onkel George!«

»Dich so zu lieben,« fuhr dieser mit erhöhter Stimme fort, »daß er dich in einem rechtskräftigen Testamente zur Erbin eines großen Theiles seines Vermögens eingesetzt. – Dazu gratulire ich dir. Uns aber, Eugenie, die wir dir mit so viel Offenheit und Liebe entgegen kamen, kann ich zu deinem heimlichen Wesen nicht gratuliren.«

»Gott ist mein Zeuge,« sprach das Mädchen mit zitternder Stimme, »daß ich nicht daran gedacht, Heimlichkeiten gegen dich zu haben. Du sagtest vorhin, mein Ja sei Ja, mein Nein Nein. So glaube denn auch meiner Versicherung, Onkel George, ich habe nichts davon gewußt, daß ich mit dem Grafen Helfenberg sprach.«

»So galten also deine Freundlichkeiten dem Neffen des Jägers? – O laß mich das nicht glauben, Eugenie!«

»Ich will den Sinn deiner Worte nicht verstehen,« gab Eugenie mit erkünstelter Ruhe zur Antwort. »Aber wenn ich dir etwas werth bin, Onkel George, so fahre nicht fort, mir so wehe zu thun.«

»Wenn du es wünschest, werde ich schweigen,« sprach der Baron in kaltem Tone.

»O nein, so sollst du nicht schweigen!« rief sie leidenschaftlich aus. »Dann sprich lieber; ich will Alles geduldig anhören, und wenn es die härtesten Worte sind. – Rede, Onkel George, ich bitte dich darum!«

Der Baron ging mit großen Schritten auf und ab; er kämpfte mit sich selber, er schien unentschlossen; er war schon im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als ihn das Andenken an die vielen schmerzlichen Stunden, die er in der letzten Zeit verlebt, an die höhnischen Reden Fremont's zurückhielt und ihm die Worte auspreßte:

»Gut denn, bei deinen Zusammenkünften im Hause des Jägers kanntest du also den Grafen nicht? – Wer war es denn, Eugenie, dem du vor zwei Tagen, nachdem ich dich unten im Wintergarten zuletzt gesehen, in einer unscheinbaren Gasse der Stadt, nahe bei dem Blumenmarkte ein Rendezvous gabst? – Galt dieses Rendezvous nicht dem Grafen Helfenberg? – Oder fand sich Fräulein von Braachen dort mit dem Neffen des Jägers Klaus zusammen?«

»Onkel George!« rief das junge Mädchen heftig erregt aus! du sagst mir da entsetzliche Dinge, Dinge, an die du selbst nicht glaubst!«

»Ich werde nicht daran glauben, wenn du mir die Versicherung gibst, es sei nicht so gewesen. Kannst du das, Eugenie?«

Sie antwortete nicht, und der Baron wiederholte heftig seine Frage, indem er näher trat und mit seiner Hand die Lehne des kleinen Fauteuils, auf welchem er gesessen, faßte.

»Kannst du das, Eugenie? kannst und willst du?«

Das Mädchen blickte schweigend in den Abend hinaus, in das Mondlicht, welches jetzt nicht nur auf das Fenster schien, sondern auch ihr Gesicht mit seinem hellen Schimmer übergoß. Sie sah entsetzlich bleich aus und ihre Augen standen voll Thränen.

»Sage mir ein einziges Wort, Eugenie!« bat der Baron dringend und mit bebenden Lippen; »ein einziges Wort, es sei nicht so, und ich will glücklich sein.«

Eugenie bewegte die Lippen und er horchte athemlos auf ihre Worte.

»Was wahr ist, werde ich nie läugnen,« sprach sie leise, aber bestimmt. »Ich war dort in einem Hause jener unscheinbaren Gasse, aber ich ging zu keiner Zusammenkunft, Onkel George.«

»Und du trafst dort nicht den Grafen?«

»Ich traf dort den Neffen des Jägers, den ich nur als solchen kannte.«

»Also dem Neffen des Jägers Klaus,« rief der Baron in leidenschaftlicher Heftigkeit ausbrechend, »gab Fräulein Eugenie von Braachen ein Rendezvous! Einem Menschen zu Lieb, den du nicht kanntest, setztest du deinen Namen, deinen Ruf aufs Spiel! Einem Unbekannten opfertest du dies alles! Und du dachtest nicht an den entsetzlichen Schmerz, den du uns – mir damit bereiten würdest? – einen Schmerz, der nur darin eine Linderung findet, indem ich mir sage, daß ich mich in dir geirrt, daß du – daß du ...«

»Onkel George!« bat Eugenie flehend, denn sie ahnte, daß sie etwas Furchtbares hören würde.

»Daß du –« stieß er mühsam hervor, denn die Schläge seines Herzens drohten ihn zu ersticken – – »daß du,« rief er mit bebenden Lippen, »eine würdige Tochter deiner Mutter bist!«

Das unglückliche Mädchen preßte die Hände vor das Gesicht, sie wollte aufschreien – sie brachte keinen Ton heraus; sie versuchte es, sich von ihrem Stuhle zu erheben – sie vermochte es nicht.

Es vergingen ein paar qualvolle Sekunden, ehe sie die Worte hervorbrachte: »Onkel George, das hättest du nicht sagen müssen, das ist ein Unglück!«

O, wenn er in diesem Moment ihr offenes, ehrliches Auge hätte erblicken können, die guten, lieben Züge ihres Gesichtes, deren Anblick ihn so oft beruhigt, beglückt! – Aber er sah nichts vor sich, als ihre zusammengebrochene Gestalt, einen schwarzen Schatten, dessen Spiegelbild in seinem zerrissenen Herzen stand, bereit, sein ganzes künftiges Leben kalt und nächtig zu umziehen.

»Ich habe es gesagt,« sprach er mit kaltem Tone; »ich habe gesagt, was mich mit Qualen der Hölle erfüllt, und werde fortan schweigen. Aber du hast die Worte hervorgerufen, die du vorhin gehört, du hast dir selbst zuzuschreiben, was du in den letzten Tagen Furchtbares in meinem Hause erlebt. Rechne du mit der Welt ab; sie ist einmal nicht anders. Und wenn der geringste meiner Diener es gewagt, dich zu beleidigen, so hat er vielleicht gedacht, er sei nicht schlechter als der angebliche Neffe des Jägers. – O des Unglücks!« fuhr er mit gebrochener Stimme fort, »o des Unglücks! ich kann den Gedanken nicht ertragen, er könnte mich wahnsinnig machen!«

Eugenie hatte sich von ihrem Stuhle erhoben, langsam und anscheinend ruhig; daß sie das aber nicht war, sah man an der leidenschaftlichen Hast, mit der sie jetzt wieder ihre beiden Hände vor das Gesicht preßte, nachdem sie den, welcher so zu ihr gesprochen, während seiner letzten Worte mit einem angstvollen Blicke betrachtet. Der Schluß dessen, was er sagte, fiel mit einem schmerzlichen gellenden Aufschrei zusammen, den das gequälte Mädchen ausstieß, während sie vorwärts stürzte bei dem Baron vorüber, und dann, als werde sie von jähem Schrecken gejagt, in dem dunkeln Vorzimmer verschwand.

George von Breda starrte ihr nach, er drückte seine Rechte vor die Augen, er athmete tief und schwer; er erwachte wie aus beängstigendem Traume.

Ja, sie war fort, sie saß nicht mehr vor ihm am Fenster; der helle Schein des Mondes drang jetzt in das Gemach und zeigte den nun leeren Fauteuil, auf welchem sie noch so eben gesessen, glänzte auf dem Papier ihres Schreibtisches, den gerade noch ihre Hand berührt, zeigte das weiße Taschentuch, das ihr entfallen war und auf dem Boden lag. Ihm war einen Augenblick zu Muth, als habe er all das Furchtbare, was sich hier begeben, wirklich nur geträumt. –

Und doch – nein, nein, es war nicht so! Dort war sie hinaus gestürzt aus dem Zimmer; ihr Gewand hatte ihn gestreift; es war ihm, als habe er den kleinen Theil einer Sekunde lang den süßen Hauch ihres Mundes gespürt, als sie jenen schmerzlichen Schrei ausgestoßen. – Dann war sie verschwunden. – Ja, verschwunden war sie; er befand sich allein in ihrem Zimmer, allein mit dem Mondlichte, das, gefühllos und kalt, doch mitleidiger als er gewesen war, denn es hatte sanft ihre Wangen berührt, hatte die Thränen ihres Auges geküßt, während er unbarmherzig, ohne Mitleid ihr Herz zerrissen. – Ah, Fluch dieser entsetzlichen Stunde!

Rasch eilte er an die Thür des Zimmers, dann auf den Gang, an die Treppe; er horchte in das Haus hinab – tiefe Stille herrschte überall; doch nur einen Augenblick. Im nächsten vernahm er den Gesang einer weiblichen Stimme, der gedämpft an sein Ohr schlug. Es war das Kammermädchen Eugeniens, die zu ihrer Arbeit sang.

Ach, wenn du wärst mein eigen,
Wie lieb sollt'st du mir sein!

Der Baron eilte nach dem Corridor, nach dem Zimmer seiner Frau –

Wie wollt' ich tief im Herzen
Nur tragen dich allein!

Er öffnete den Salon der Baronin; dort brannte ein Licht, mit dem er durch das ganze Appartement schritt. Es war Niemand da. Dann eilte er die Treppen hinab, um sich in den Wintergarten zu begeben; unten stand der Jäger Brenner an der geöffneten Hausthür.

»Ist meine Frau nicht zu Hause?«

»Die Frau Baronin ist noch nicht zurückgekehrt,« antwortete der treue Diener und betrachtete mit einem eigenthümlichen Blicke die verstörten Züge seines Herrn.

»Hast du,« fragte dieser zögernd, »Fräulein Eugenie gesehen?«

»Vor wenigen Minuten; das gnädige Fräulein gingen hier zum Hause hinaus.«

»Vielleicht nach dem Wintergarten?«

»Ich glaube nicht, denn ich selbst habe die Thüren, die ins Freie führen, verschlossen.«

»Und wohin ging sie?« fragte der Baron, und ein furchtbarer Gedanke überfiel ihn mit so niederschmetternder Gewalt, daß er unwillkürlich seine Hand auf das Schloß der Thür legte.

»Ich kann mich irren,« entgegnete der Diener, »aber es war, als eilten das gnädige Fräulein zum Hofthor hinaus.«

»Bei dunkler Nacht? – Bist du wahnsinnig?«

Herr von Breda biß sich die Lippen blutig und setzte nach einer Pause, sich bezwingend, hinzu: »Ah! es ist möglich. Vielleicht hat sie der schöne Abend ins Freie gelockt; sie wird meiner Frau ein paar Schritte entgegen gegangen sein. – Laß mir ein Pferd satteln!« rief er nach einigem Nachdenken plötzlich mit großer Heftigkeit. »Aber schnell, schnell!«

»Soll ich Lord vorführen lassen?«

»Welches du willst, nur so rasch wie möglich.«

Während der Jäger nach dem Stall eilte, den erhaltenen Befehl auszurichten, und dann als ein umsichtiger Diener den Hut seines Herrn aus dem Eßzimmer holte, lehnte George von Breda an der Thür seines Hauses mit Gefühlen und Gedanken, die in ihrem furchtbaren blitzähnlichen Erscheinen und Verschwinden schwer zu beschreiben sind. Zuweilen raffte er sich auf und machte ein paar Schritte gegen die Treppe, wo er aber auf der obersten Stufe stehen blieb und scharf in die Nacht hinaus schaute, als sei es ihm möglich, durch Häuser und Mauern hindurch etwas von ihr zu erblicken. Aber so emsig er auch spähte, es blieb Alles rings umher still und ohne Bewegung. Auf das Glasdach des Wintergartens warf das Mondlicht helle Strahlen und carikirte die Formen desselben auf den Kies des Hofes in langgestreckten Schattenbildern.

Jetzt kam einer der Reitknechte um das Glashaus herum, ein Pferd im Trabe herumführend. Lord war es nicht; Lord hatte einen seiner Hufe geschont, als man ihn vor einer Stunde in den Stall zog. Es war ein kleineres braunes Pferd, welches Eugenie zu reiten pflegte. George von Breda schwang sich in den Sattel, nachdem er aus den Händen des Jägers seinen Hut genommen, den dieser darreichte, und ritt hierauf absichtlich im Schritt zum Hofe hinaus.

Vor demselben wandte er sich rechts und trabte dann die uns bekannte Anhöhe scharf hinauf, wobei er aufmerksam vor sich hinspähte; er konnte die breite Straße, die in dem weißen Mondlichte so hell vor ihm lag, bis oben übersehen – er bemerkte jedoch nicht das Geringste.

Zuweilen hielt er sein Pferd an und zwang es, Momente lang ruhig zu stehen, wobei er angestrengt in die Nacht hinaus horchte, um irgend etwas zu vernehmen, was er doch wohl nicht hätte vernehmen können – umsonst; es herrschte tiefe Stille, es rauschten nicht einmal die Zweige, es flüsterte nicht das alte erstorbene Gras, denn es spielte nicht das leiseste Lüftchen über Berg und Thal. Dem Reiter kam es in seinen wilden Träumereien vor, als halte die Natur erwartungsvoll ihren Athem an sich.

Der Baron hatte die Anhöhe erreicht, und als er abwärts blickte, wo sich links der Waldweg abzweigte, da war es ihm, als sehe er dort in die Schatten hinein eine helle Gestalt verschwinden. So rasch sein schwaches Pferd den Abhang hinab zu laufen vermochte, ging es dahin, und es dauerte nicht lange, so bog er von der breiten Straße ab in den bekannten verwahrlosten Pfad ein. Hier betraten die Hufe seines Rosses weiches Moos und hervorsprießendes Gras, wodurch der Schall derselben so gedämpft wurde, daß er selbst kaum etwas davon vernahm und es ihm fast unheimlich erschien, so wie ein Schatten dahin zu gleiten.

Das Mondlicht drang hier und da durch die noch wenig belaubten Zweige, warf auf die Straße selbst und an die angrenzenden Gebüsche seltsame Schatten und Lichter, und zuweilen streifte der kalte glänzende Schein das Gesicht des Reiters. Aber er merkte nicht darauf, er ritt vorwärts, so rasch es nur immer gehen wollte, und ihm voraus drangen seine unruhig spähenden Blicke, Schatten und Buschwerk durchdringend.

Jetzt – ja, er täuschte sich nicht – dort vor ihm auf der linken Seite des Weges schwebte eine helle Gestalt; bei der nächsten Biegung des Pfades verschwand sie, um gleich darauf wieder zum Vorschein zu kommen. Doch befand sie sich nicht auf dem Waldwege; er sah sie jenseits des ziemlich breiten und tiefen Grabens, welcher denselben begrenzte; sie schien nicht zu fliehen, sie wandelte oder schwebte vielmehr ruhig dahin. Er wußte selbst nicht, warum ihn ein eigenthümliches Grausen erfaßte, als er die weiße Gestalt vor sich erblickte; es war ihm zu Muthe, als sei er selbst mit dem schnellsten Pferde nicht im Stande, sie zu erreichen, obgleich sie anscheinend ohne große Geschwindigkeit dahin glitt; er fühlte, wie ein Schauder seinen Körper durchflog; er verspürte ein seltsames Frösteln; er sah sich unwillkürlich genöthigt, eine Anstrengung zu machen, um fest im Sattel zu bleiben. Es flatterte wie ein Nebel vor seinem Gesicht, und wenn er auch versuchte, über sich selbst zu lächeln, so bedeckte er doch für ein paar Sekunden lang die Augen mit der rechten Hand. –

Dort war die weiße Gestalt, wie er sie vorhin gesehen, und er bemerkte, daß er sich ihr jetzt rasch nähere. Bald war er im Stande, die Umrisse ihrer Figur zu erkennen – ja, es war Eugenie, die lautlos und ohne aufzublicken, auf wenige Schritte Entfernung neben ihm wandelte. Er versuchte es, ihren Namen auszusprechen, und wenn auch derselbe laut und deutlich in seinem Herzen wiederklang, so schien sie ihn doch nicht gehört zu haben; wenigstens bemerkte man an ihr keine Bewegung, sie setzte auch ruhig ihren Weg fort, den Kopf auf den Boden gesenkt, die Hände herabhängend.

Wieder erfaßte ihn der seltsame Schauder wie vorhin, doch versuchte er es, zu lächeln und näherte sich dem Graben so viel wie möglich. Wohl kannte er denselben von seinen häufigen Ritten; er wußte, wie tief und breit er war, und jetzt maß er ihn noch einmal beim zweifelhaften Lichte des Mondes mit langsam prüfendem Blicke. Lord hätte ihn hinübergetragen; ob auch das schwächere Pferd?

Nochmals rief er ihren Namen, und damit das geringe Geräusch, welches die Hufe seines Pferdes machten, seine Worte nicht übertönen sollte, zog er die Zügel an und bog sich, so weit es ihm möglich war, zu ihr hinüber.

»Eugenie,« sagte er, »ich beschwöre dich, setze deinen Weg nicht so kalt und theilnahmlos fort; laß mich einen Augenblick zu dir sprechen, laß mich dir sagen, wie mein Herz gelitten, wie mich Andere gequält haben und ich mich selbst, ehe ich jene unglückseligen Worte sprach, die dich begreiflicherweise so schwer verletzen mußten.«

Die weiße Gestalt glitt neben ihm dahin, ohne aufzublicken, ohne das geringste Zeichen einer Bewegung.

»O Eugenie!« rief der Baron leidenschaftlich. »Und weiß ich doch nicht einmal, ob du es wirklich bist, du lässest mich dein Gesicht nicht sehen, du schwebst dahin wie ein Phantom. O, bei allem, was dir heilig und theuer ist, wende deinen Blick gegen mich, sage mir nur ein einziges Wort, sei es das härteste; nur ein Wort, nur eine Silbe! laß mich den Klang deiner Stimme hören!«

Und fort glitt die weiße Gestalt, ohne aufzuschauen, ohne Zeichen des Lebens.

»Bist du es nicht, Eugenie, die ich da vor mir sehe? – Ah, thörichte Gedanken! – ja, du bist es! – Ich erkenne deine Gestalt, ich erkenne deinen Gang, wie könnte ich mich täuschen! – Aber ich flehe dich an, Eugenie, sage mir ein einziges Wort. Wie kann sich dein Herz so plötzlich verhärtet haben! Bedenkst du nicht, wo du wandelst, mein armes, liebes Mädchen? kennst du diesen Weg nicht mehr? – O, sprich mit mir bei den freundlichen Erinnerungen, die er auch in dir hervorrufen muß! – Ich gestehe es dir ein, ich habe entsetzliche Reden gegen dich ausgestoßen – ich war im Wahnsinn. Aber laß mich dir sagen, was ich gelitten, wie namenlos elend ich war, und du wirst, du mußt mir verzeihen. – Ah,« fuhr Herr von Breda erschrocken fort, als er sah, wie unbeirrt durch seine Reden die weiße Gestalt vor ihm dahin schwebte, »es ist nicht gut von dir, Eugenie, so zu handeln; du fühlst nicht, wie wild mein Herz schlägt, wie mein Blut tobt. Gib mir ein Zeichen, daß du mich hörst, sei es selbst ein Zeichen, das mich noch unglücklicher macht, als ich es schon bin, eine abwehrende Bewegung mit der Hand. Ich will derselben folgen, ich will umkehren und es deiner Güte, deiner Barmherzigkeit überlassen, was du thun willst. O, nur ein Zeichen – ein Zeichen! – du kannst es mir geben, du sollst es mir geben, du mußt es mir geben!«

Und als die weiße Gestalt hierauf ihren Gang nicht hemmte, sondern ruhig wie bisher dahin glitt, faßte er in furchtbarer Aufregung die Zügel seines Pferdes fester, nahm das schwache Thier zusammen, und nachdem er es ein paar Schritte von dem Graben zurückgezogen, zwang er es zu einem Sprung über denselben. – –

– – Da war es, als stürze der Himmel auf ihn herab und habe ihn unter seinen Trümmern begraben, oder als sinke er in einen tiefen Abgrund, der sich langsam über ihm schlöße. Es umgab ihn finstere Nacht, in welcher mit einem Male unzählige Sterne rastlos umherzuckten; lange, lange rollten die glänzenden Körper wie leuchtende Blitze über ihn dahin, sie strebten sichtbar nach Bereinigung, doch wenn sie sich näherten, um in einander zu fließen, so stießen sie sich wieder ab und begannen aufs Neue ihren wahnsinnigen Kreislauf. Dann, nachdem er in tiefer Betäubung lange darauf gewartet, flossen zwei in einander, dann drei und vier und bildeten eine dämmerige Helle in der tiefen Finsterniß, die ihn umgab. Er athmete wieder sehnsüchtig aufblickend nach dem Schimmer, der sich über seinem Haupte mehr und mehr vergrößerte. Endlich zuckten matte Strahlen von ihm aus; diese Strahlen rissen in zackige Gebilde aus einander; die Finsterniß um ihn her verschwand mehr und mehr, und es war ihm, als schwebe er aus einer tiefen Kluft empor an die Oberfläche der Erde, und er bemerkte, wie die kühle Nacht seine Stirn fächelte, wie das bleiche Mondlicht in seine halb geöffneten Augen drang.

In diesem Momente fühlte der Baron deutlich, daß er nicht mehr, wie er bisher zu thun geglaubt, sanft aufwärts schwebe, sondern daß ihn eine rauhe Wirklichkeit erfaßt und ihn unsanft empor reiße. Doch führte diese Erschütterung seine Besinnung rasch zurück; er hielt etwas krampfhaft zwischen seinen Händen, was ihn gewaltsam empor zog; er öffnete die Augen, er konnte sich erinnern, wo er war, was ihn hieher geführt; er hatte mit seinem Pferde über den Graben setzen wollen, das schwache Thier war gestürzt und hatte ihn heftig zu Boden geworfen. Wie lange er so gelegen, wußte er nicht, jetzt aber bemerkte er, daß es sein Pferd war, welches ihn empor gerissen, und dessen Sattel er niederstürzend mit den Fingern erhascht und krampfhaft festgehalten.

Ah, der heutige Abend! – Dieser trat nun wieder mit all dem Entsetzlichen, was er an demselben erlebt, vor seine Seele; er fühlte wieder, was er vorhin empfunden, aber nicht mehr so wild und schmerzlich wie bisher; es lag wie ein Schleier über seinem Gedächtniß, und wenn er an Eugenie dachte, an die furchtbaren Worte, die er ihr vor Kurzem gesagt, an ihr Verschwinden, an seinen nächtlichen Ritt, an den Waldweg und die weiße Gestalt, so kam ihm das alles vor, als habe er es vor Jahren erlebt, so wollte es ihm nicht das Herz zerbrechen, wie eben noch, so berührte es ihn wie ein sanftes Weh. Es war ihm, als singe ihm Jemand ein trauriges Lied von dem, was er gelitten, und was ihn dabei am heftigsten erschütterte, war der Klang der Stimme, welche das melancholische Lied sang – o, eine Stimme, deren Ton ihn schmerzte und ihm doch wieder so wohl that, – ihre Stimme.

»Onkel George!« tönte es neben ihm; »ich mußte dich verlassen; bei Gott! ich konnte nicht anders; ich mußte den Ort fliehen, wo ich so glücklich, o sehr glücklich gewesen bin, und dann wieder so namenlos elend. Ich durfte dir auch vorhin nicht antworten, als ich dich an meiner Seite sah, – während dessen habe ich innig gebetet, um deine Worte nicht zu hören, um sie von meinem Herzen abzuwehren. O, sie wollten immer eindringen, und wenn sie das gethan, so hätte ich umkehren müssen und dir entgegen fliegen, wie in schönen, glücklichen Tagen, was ja doch nicht sein kann nach dem, was du mir gesagt. Deine Worte haben den Schleier zerrissen, der meine Sinne befangen hielt; ich sehe klar und deutlich in dein Herz, in das meinige. – O Onkel George, starre nicht so entsetzlich vor dich hin; jetzt flehe ich dich an, wende dein Auge, zu mir, ich bin es ja, die zu dir spricht, ich, Eugenie – – – deine Eugenie.«

»So, du bist es wirklich?« sagte er leise, wie aus einem tiefen Traum erwachend, »es ist kein Gespenst, keine weiße Gestalt, die vor mir dahin schwebte und mich verlockend nach sich zog? – – Ja, ich erkenne deine Stimme, deine süße Stimme. – Und – – da bist du wirklich.« Er schaute empor und sah das geliebte Mädchen vom Mondlicht umflossen vor sich stehen; er sah ihr bleiches, so liebes Gesicht, er sah ihre wunderbaren Augen. »Ja, ja, du bist es, Eugenie,« fuhr er fort, nachdem er das Gesicht einen Moment mit der Hand beschattet. »Du bist zurückgekommen, um – – Abschied von mir zu nehmen.«

»Ja, Onkel George,« rief das Mädchen hastig und leidenschaftlich, »um Abschied von dir zu nehmen! Das fühlst du wohl.«

Bei diesen Worten reichte sie ihm beide Hände, die er zögernd ergriff, dann aber, als er deren warmen Druck fühlte, krampfhaft festhielt.

»Ich fühle es,« gab er leise zur Antwort, »daß du mich fliehen mußt; aber der Grund, warum du mich fliehst, ist so schrecklich für mich, und doch wieder so süß – – du fliehst mich, weil du mich liebst, Eugenie. – – O, bestätige meine Worte nicht!« setzte er hastig hinzu, »um alles nicht, was dir heilig ist! Denn wenn du es thust, wirst du mir im nächsten Augenblick entschwinden wie eine herrliche Phantasie, wie ein süßer Traum, wie ein Engel, der in seinen Himmel zurückkehrt.«

»So wird es sein – es muß sich so erfüllen, und ich danke Gott für diesen Augenblick. Ja, ja,« rief Eugenie mit einer furchtbaren Leidenschaftlichkeit, »ja, ja, George, ich liebe dich, wie man auf dieser Welt etwas lieben kann! ich habe dich lange geliebt und nur in dir gelebt, unbewußt geliebt und so gelebt. Und als es mir endlich klar geworden, hat mich ein Schauer überflogen, ein Schauer des tiefsten Schmerzes und doch wieder der höchsten Lust und Seligkeit! – O mein George, und wie gut ist es, daß Alles so gekommen! Es konnte nicht anders kommen; wir hätten uns beide noch unglücklicher, noch elender gemacht, als wir es so schon geworden sind. – Laß mich nicht diesen tiefen Schmerz auf deinem Gesichte lesen! O, glaube mir, auch ich fühle dein und mein Unglück, aber ich fühle auch wieder, daß wir jetzt einen Augenblick durchleben, einen süßen, seligen Augenblick, der eine Reihe von traurigen Jahren werth ist; das ist mein Gedanke, und in ihm will ich leben und wohl lange Jahre mich damit begnügen.«

Sie hatte sich ihm genähert, so mit ihrer weichen, angenehmen Stimme sprechend, er zog sie sanft an sich, und als das junge Mädchen an seine Brust sank, fühlte auch er, daß er einen süßen, seligen Augenblick verlebte, der im Stande sei, sein Leben eine lange, lange Zeit hindurch freundlich auszuschmücken. Er beugte sein Haupt auf ihr Gesicht nieder, da berührte er mit dem Munde ihr duftendes Haar, sie zuckte leicht zusammen, aber sie schmiegte sich fester an ihn. Er küßte ihre Stirn und Augen und preßte seine Lippen auf die ihrigen, lange, lange, – eine Ewigkeit des Glücks und doch wieder ein so kurzer Moment.

Darauf richtete sich Eugenie in seinem Arme empor, nicht zurückfahrend, nicht erschreckt, nein, ruhig und mild, und als er vor innerer Aufregung und gewaltigem Schmerze fast weinend ausrief: »O meine Eugenie, so gefunden und verloren!« und als er sie aufs Neue an sein klopfendes Herz zog, entwand sie sich ihm nicht; ihre Lippen fanden sich wieder und ruhten abermals auf einander im herrlichen Rausche einer kurzen Seligkeit.

Dann ließ sie sanft ihren Arm herabsinken, welchen sie vertrauensvoll auf seine Schulter gelegt, und ihre Hand in die seinige gleiten, worauf er sprach: »So müssen wir uns also trennen, Eugenie; aber noch nicht so bald, aber noch nicht in nächster Sekunde. Du mußt mir schon gestatten, daß ich dich geleite bis ans Haus deiner Eltern. Dort will ich von dir Abschied nehmen.«

»Das habe ich erwartet, George,« erwiderte das junge Mädchen, »und ich freue mich, diesen Weg nochmals mit dir zu machen.«

Und so gingen sie dahin, Hand in Hand; das Pferd des Barons, dessen Zügel er um den Arm geschlungen, folgte.

»Es ist nicht das erste Mal, daß wir im Mondschein diesen Weg machen,« sagte Eugenie, nachdem sie ein paar Schritte gegangen. »Weißt du, George, ich habe dich früher oft bis zur kleinen Brücke begleitet, als ich noch ein kleines Mädchen war und dich mit meinen seltsamen Fragen quälte. – Siehst du dort jenen Baum, dessen Zweige von allen Seiten wie Schleier herabhängen und den Stamm fast verdecken, so daß ihn nur hier und da ein feiner Strahl des Mondlichtes treffen kann? – Der Baum stand damals gerade so wie heute, und ich fragte dich: Warum hängen die Zweige so herab? – Erinnerst du dich?«

»Ob ich mich erinnere!« versetzte George traurig.

»Auf meine Frage gabst du mir zur Antwort: Die Zweige drängen sich so dicht um den Stamm, damit ihnen nichts von den Erzählungen desselben verloren gehe, die er ihnen im Mondschein hält; sie lauschen aufmerksam seinen Worten, wie Kinder und Enkel auf die Worte der Großmutter, die sich auch so um sie her schaaren.«

So gingen sie dahin, Hand in Hand, und das Pferd folgte.

»Später bin ich einmal allein zu dem Baume gegangen,« fuhr Eugenie fort, »und schlich mich hinter die Zweige, um von seinen Erzählungen zu vernehmen; aber er war stumm für mich, ich verstand nichts von dem Geflüster seiner Blätter und Aeste.«

»Das kommt daher,« versetzte gedankenvoll der Baron, daß dein Herz damals noch nicht im Stande war, die Sprache all der scheinbar leblosen Gegenstände zu verstehen. Du hattest noch nicht gelitten, du hattest noch nicht die Sprache des Leides, die Sprache getäuschter Hoffnungen gelernt. Betrachte dir jetzt den Baum, mein gutes Mädchen; spricht er nicht zu dir?«

»O, ich verstehe dich, George,« erwiderte Eugenie mit bebender Stimme. »Ja, jetzt erzählt er mir von jenen vergangenen glücklichen Stunden, wo ich ihn zuerst gesehen.«

»Und nun, nachdem du seine Sprache gelernt, wird er dir immerfort erzählen, so oft du ihn siehst, Angenehmes und Trauriges, vielleicht mehr des Letzteren. Mir hat er schon oft mit dem Geflüster seiner Zweige das Herz zerrissen, und wenn ich ihn noch häufig sehen müßte, ich glaube, es wäre mein Tod – und mein Glück,« setzte er mit dumpfem Tone hinzu. »Aber nicht er allein erzählt mir so Furchtbares, auch dort die beiden halb zertrümmerten Thorpfeiler, die Bank, wo du so oft gesessen, Eugenie, der Weg, den wir häufig gegangen, alles das erfüllt mich mit wildem Schmerz, denn es ruft mir dein Bild zurück.«

»So denke an mich, George, wie ich an dich denken werde, gern, herzlich und ruhig.«

»O, ich habe nicht dein Gemüth!« rief er schmerzlich. »Dein Herz ist groß, gut und rein; ich werde deiner gedenken nicht sanft und ruhig, sondern mit wilder Leidenschaft; ich werde dein Bild sehen bei Tag und Nacht, im Strahl der Sonne und des Mondlichtes, am blauen Himmel, unter dem Grün der Bäume, im glänzenden Thautropfen, in jeder aufblühenden Rose. Und alles, alles das wird mir sagen, daß ich dich verloren.«

»So komme dem zuvor,« gab das Mädchen mit weicher Stimme zur Antwort; »sage es dir selber, George, fest und bestimmt, daß es ja doch nicht anders sein kann. Und nun – lebe wohl! Dort sehe ich Licht zwischen den Bäumen hervorschimmern, es ist im Salon meiner Mutter.«

»Aber deine Ankunft wird sie erschrecken.«

»Gewiß nicht, George,« erwiderte Eugenie kopfschüttelnd; »sie ist darauf vorbereitet; sie sagte mir vor Wochen etwas Aehnliches, was mich damals mit Schrecken erfüllte, da ich sie nicht vollkommen verstand. Jetzt verstehe ich sie; meine Mutter wird glücklich sein, mich wiederzusehen.«

»Und ich soll dich nicht wiedersehen, Eugenie?« rief der Baron in wildem Schmerze, indem er das Mädchen fest an sich drückte.

»Wer sagt das, George? – Das zu denken, wäre mir fürchterlich. Wir werden uns noch oft wiedersehen, ruhiger, heiterer.«

»Vielleicht auch glücklicher, Eugenie!« sprach George von Breda leidenschaftlich.

Sie hob das Gesicht empor und blickte nach den Sternen, die in ihrer milden, beruhigenden Pracht am Himmel funkelten.

»Laß wir meine Fassung,« bat sie alsdann, »die ich mir so mühsam errungen. – Gute Nacht, George!«

»Gute Nacht, meine Eugenie! – Gott sei mir gnädig! Gute Nacht!«

Damit schieden sie, und als Beide den Platz verlassen, wo sie zu einander gesprochen, flüsterte das Gras geheimnißvoll, vom Nachtwinde bewegt, das Mondlicht zitterte darüber hin, die Sterne blickten traulich und gleichmüthig herab, als sei dieser Platz, wo zwei Herzen so unsäglich gelitten, gerade wie jeder andere auf der weiten, weiten Welt.


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