Friedrich Wilhelm Hackländer
Erlebtes. Erster Band
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Ein Schicksal.

Es ist eigenthümlich, daß ein hohes und weites Gemach mit braunen Holzwänden, mit einer ähnlichen Decke und dunkel eingelegtem Fußboden, mit einem hohen Steinkamine recht heimlich und angenehm sein kann an einem trüben, rauhen Herbstabend, wo die Sonne schlafen gegangen, ohne daß es ihr, der dichten Wolkenmassen wegen, möglich war, von der Erde mit einem freundlichen Gruß Abschied zu nehmen. Es ist eigenthümlich, aber wahr, daß so ein alterthümliches, finsteres Gemach uns wohnlicher erscheint, wenn draußen um die Ecken des Hauses der kalte Wind saust, während im Kamin ein Paar tüchtige Holzblöcke lustig knatternd brennen, als wenn eine warme Sonne glänzend auf Berg und Thal scheint, hie und da einen goldenen Strahl in das düstere Gemach sendet, so den Contrast von Schatten und Licht um so schärfer zeigt, und wenn der Kamin traurig verlassen da liegt, eine leergebrannte Stätte, wo man vielleicht noch Ueberreste von Kohlen und Asche aus dem vergangenen Herbste findet.

Um den geneigten Leser in eine passende Stimmung zu versetzen, nehmen wir also an, es ist ein trüber Spätherbsttag mit bewölktem Himmel; um die Ecken des Hauses fegt der Wind, und wenn wir uns an eines der großen Fenster stellen, um hinauszuschauen, so blicken wir in die Straßen der Stadt, wir sehen, daß das Pflaster mit Schnee bedeckt ist, ebenso die Dächer der Häuser; wir bemerken ferner, daß die Leute eilfertig dahin schreiten und sich bemühen, recht bald aus der kalten Luft in das warme Zimmer zu gelangen. Die Equipagen machen es ebenso, und wenn wir sehen, wie die zitternden Wagenlaternen, so ängstlich eilfertig ihren rothen Schein auf den weißen Schnee werfen und der warmen Remise zustreben, so begreifen wir vollkommen, warum sich die Gasflamme in ihrem gläsernen Gehäuse so mißmuthig schüttelt: sie muß allein zurückbleiben in der kalten Nacht, ohne das Glück zu haben, anderen freundlichen und lebenden Wesen leuchten zu dürfen, als solchen, die sich von ihr wegsehnen. Es ist das einmal ihr Schicksal; sie seufzt eine Weile, flackert betrübt hin und her und brennt dann in stiller Resignation wieder ruhig in die Höhe.

Blicken wir in das Gemach selbst hinein, von dessen Fenstern wir eben hinaussahen, so bemerken wir, daß es weit und hoch ist, daß die untere Hälfte der Wände aus fast schwarzem Eichenholz und die obere aus einer dunkelblauen Seidentapete besteht. Hiezu paßt die Decke vollkommen: sie ist schwer, geschnitzt, in Quadrate eingeteilt, deren Mittelpunkt eine Höhlung bildend sich hoch emporzieht, während an den Rändern seltsam geformte Zapfen tief herabhängen; noch tiefer aber als diese hängt ein schwerer Kronleuchter mit aufgesteckten Kerzen, welche indessen nicht brennen. Gleichförmig mit Wänden und Decke ist auch die ganze Zimmereinrichtung; in der Mitte steht ein massiver Tisch, über den eine violettsammetne Decke herabhängt und mit ihren schweren Fransen den Boden berührt; die Stühle sind breit, mit hohen geschnitzten Rückenlehnen, gepolsterten Armen, ebenfalls mit violettem Sammet überzogen; alle Geräthschaften stehen aber so willkürlich durcheinander, daß man glauben könnte, es mache sich hier Jemand das sonderbare Vergnügen, sie beständig von ihrem Platze zu schieben. Eine gleich auffallende Unordnung herrscht auch bei den vielerlei Gegenständen auf Tischen, Stühlen, Bänken, sowie auf dem dicken Teppich des Bodens; da liegen und stehen überall umher zerstreut Bücher, Sophakissen, Cigarren-Etuis, Bronzestatuetten, namentlich prachtvoll ausgeführte Thiergruppen, seltsame Krüge; aber alles das ist, wie bemerkt, nur so hingeworfen. An einem Tabourette lehnt eine prachtvoll eingelegte spanische Laute, während nicht weit davon die neun Kegel eines Kegelspiels durcheinanderliegen, von den Kugeln aber, die dazu gehören, ruht eine behaglich in einem neumodischen, mit schwerem Seidenzeug überzogenen Fauteuil und die andere auf dem Rand eines kostbaren venetianischen Glaspokals, wo sie so unbeholfen und schwer aussieht, daß man jeden Augenblick glaubt, sie müsse den feinen Krystall zerdrücken. Auch alte Waffen befinden sich in einer Ecke des Zimmers: ein schöner Brustharnisch, ein paar Mailänder Helme, große Stoßdegen, Schwerter und Streitkolben; doch wollen wir dem Leser nicht verheimlichen, daß alle diese Waffen und Rüstwerkzeuge künstliche Erzeugnisse aus Steinpappe sind, und daß ein Knabe von sechs Jahren die scheinbar schwerste Streitaxt mit Leichtigkeit handhaben könnte. Nicht weit von dem Tische in der Mitte befindet sich ein anderer kleinerer Tisch, er ist mit einem weißen Tuch bedeckt, und aus unordentlich durcheinander stehenden Tellern und Gläsern mit den Resten von Speisen und Getränken, sowie aus den darüber hingeworfenen Servietten sehen wir, daß dort vor kurzer Zeit Jemand vom Souper aufgestanden ist. Auffallend ist es, daß wir auf diesem Tische weder Messer noch Gabeln sehen, sondern nur elfenbeinerne Löffel von verschiedener Größe.

Dieses Gemach ist erhellt von mehreren Carcelllampen, die da und dort stehen, sowie von einem tüchtigen Feuer, welches im Kamin brennt. Vor diesem Kamine zeigt sich ein großer geschnitzter Lehnstuhl, und in demselben sitzt ein Mann von ungefähr vierzig Jahren mit einem runden, fetten Gesichte, in dem sich lebhafte Augen befinden, und das fast immer von einem angenehm sein sollenden, aber in der That widerwärtigen Lächeln erhellt ist. Der Mann hat es sich bequem gemacht; seine Füße stecken in Pantoffeln, welche behaglich auf einer vorspringenden Stange des Kaminrostes ruhen. Auf dem Schooße dieses Mannes liegt eine Serviette ausgebreitet, und während er mit der linken Hand einiges Backwerk verspeist, hält die Rechte einen zierlichen Glaskelch, den er jetzt langsam emporhebt, worauf ein anderer Mann in der einfachen Livree eines vornehmen Hauses, der neben ihm steht, das Glas mit rothem Wein füllt, das jener dann gegen die Kaminflamme hält, zum Munde führt und langsam ausschlürft.

»Und Ihr mögt sagen, was Ihr wollt, François, der Bordeaux, den wir seit zwei Tagen bekommen, ist nicht mehr der gleiche wie früher; es hat dem Hausmeister wieder einmal beliebt, zu wechseln. Aber ich mag das nicht, und wenn ich das dem Doctor sage, so kann das dem da drunten eine gewaltige Nase einbringen.« Der Bediente betrachtete aufmerksam die Etikette der Flasche, roch einmal in diese hinein und zuckte die Achseln. »Ihr seid noch zu neu im Hause, François,« fuhr der Andere fort, »um darüber ein Urtheil abgeben zu können, wer aber wie ich nun schon anderthalb Jahre lang dieses saure Brod essen muß, der kennt sich leider aus.«

Nach diesen letzten Worten steckte er ein großes Stück Kuchen in seinen Mund und spülte dasselbe mit einem frisch eingeschenkten Glase Wein hinunter. »Die ganze Wirthschaft da drunten,« fing er nach einer Pause wieder an, während er sich behaglich den Leib strich, »taugt den Teufel nicht, Hausmeister, Kammerdiener, Kutscher und Koch – will sich doch all das Gesindel in mein saures Amt mischen; verlasse ich einmal einen Augenblick das Zimmer und komme zurück, so finde ich diesen oder jenen neugierig hereinlugen oder gar in Unterredungen mit dem Herrn. – Du lieber Gott!« setzte er scheinheilig hinzu, während er gen Himmel blickte, »wenn ich Unterredungen sage, so meine ich Worte, die man an ihn hinspricht, und worauf er leider Gottes keine zusammenhängende Antwort geben kann. Deßhalb habe ich auch Euren Vorgänger entfernt, und ich hoffe, François, Ihr werdet Dankbarkeitsgefühl genug haben, oder wenigstens auf Euren Vortheil bedacht sein, um so fest als möglich an mich zu halten.«

Der Bediente verbeugte sich ehrerbietig und neigte dabei den Kopf so tief gegen den Andern herab, als wollte er die Füße oder wenigstens die Hände küssen, dann sagte er: »Was das Festhalten anbelangt, Herr Krämer, so werden Sie von mir überzeugt sein, daß wo ich einmal im Dienst bin, ich auch treu diene.« Damit legte er die Hand auf sein Herz und blickte mit einer ehrlich sein sollenden Miene an die Zimmerdecke. Dieses Gesicht schien aber nicht zum Ehrlichaussehen geschaffen zu sein, es war vielmehr eine wahre Gauner-Physiognomie, aber kein ehrlicher Spitzbubenkopf mit trotzigem Mund oder zusammengekniffenen Lippen und bösen, stechenden Augen, sondern dies Gesicht hier war so nichtssagend und schlecht, schlaff und feige, daß ein Menschenkenner augenblicklich wußte, er habe es mit einem Subjecte zu thun, welches vielleicht vor offenem Raub und Einbruch zurückschaudere, dagegen zu feigem Betrug, zu Fälschung und Schwindeleien aller Art stets bereit sei. Das Gesicht des Bedienten war lang, schmal und bleich, und das einzige Besondere in demselben waren so hochgewölbte Augenbrauen, daß es schien, François betrachte alle Dinge umher stets mit der größten Verwunderung. Herr Krämer schüttelte ruhig die Krumen von der Serviette auf seinem Schooß und reichte dann dieselbe François, welcher sie in ehrerbietiger Haltung zusammenfaltete und dann lispelnd sagte: »Wäre es vielleicht unbescheiden von mir, wenn ich den Herrn Krämer um einige Aufschlüsse über das ersuchte, was ich seit acht Tagen hier vor mir sehe und nicht recht begreife? Vielleicht könnte es für meinen Dienst nicht schaden, wenn ich erführe – was ich erfahren soll,« setzte er mit gesenktem Kopfe hinzu. – »Gewiß,« erwiderte der Andere, »ich habe schon daran gedacht. – Was macht der Herr?« François warf einen Blick in den Spiegel, der sich über dem Kamin befand, und da dies uns ebenfalls nicht verwehrt ist, so bemerken wir, daß dieser Spiegel aus mehreren Stücken besteht und kreisförmig auswärts gebogen so aufgestellt ist, daß man von demselben nicht nur das ganze Zimmer übersehen konnte, sondern auch noch ein Nebenkabinet, eigentlich einen Alkoven, dessen Oeffnung gerade so breit als das Kabinet ist.

»Er sitzt im andern Zimmer am Fenster an seinem gewöhnlichen Platze,« sagte der Bediente nach einer Pause; »er stützt den Kopf auf die Hand und schaut in die Nacht hinaus.« – »Gut,« entgegnete Herr Krämer, »du weißt, François, daß der Besitzer dieses Hauses, der alte Baron von Breda, vor einem Jahre starb.« – »Aus Kummer,« seufzte François. – »Allerdings aus Kummer,« bemerkte der Andere, »und dazu hatte er Ursache genug. Es ist keine Kleinigkeit, das zu erleben, was über den alten Herrn so plötzlich hereinbrach. Wie stand er in der Welt! Aus einem der besten Häuser des Landes, reich, angesehen bei Vornehm und Gering, hatte er einen einzigen Sohn, seinen Stolz, seine Freude, einen der prächtigsten und lebenslustigsten Cavaliere, die je zu Pferde stiegen, und dem alten Herrn schien ja alles nach Wunsch zu gehen. Wie oft hat so ein Vater von allerlei verliebten und anderen Launen seines Sohnes zu leiden, muß hie und da mit Geld nachhelfen oder alles Mögliche thun, um irgend eine Mesalliance zu verhindern. Derartige Geschichten kamen eben hier nicht vor; alles wickelte sich ab, wie ein gut gesponnenes Garn; daß der junge Herr der Tochter eines befreundeten Hauses, der liebenswürdigen Gräfin Elise von Heeren, den Hof machte, wußte der alte Baron und rieb sich schmunzelnd darüber die Hände. Nur Eins war ihm nicht ganz recht: die kleine Gräfin – schön, sag' ich Euch, François, wie Ihr nie was gesehen – hatte einen einzigen Fehler, der eigentlich für ein Mädchen kein Fehler ist, – sie war noch zu jung, erst vierzehn Jahre alt, als der Baron sie kennen lernte. Und wer seine Liebe zu ihr, sowie seinen leidenschaftlichen Charakter kannte, der begriff leicht, daß er nach zwei Jahren des Wartens überdrüssig war und, da Elise jetzt Sechszehn geworden, hartnäckig auf die endliche Verbindung drang.« –

Obgleich François immer sehr erstaunt aussah, nickte er jetzt doch auch noch beipflichtend mit dem Kopfe.

»Umsonst baten die Eltern der Braut, namentlich die Mutter, um Aufschub von wenigstens noch einem Jahre, die beiden alten Herren hatten längere Unterredungen mit einander, nahmen auch in Folge davon den jungen Herrn ernstlich vor, dessen ganze, aber einigermaßen heftige Antwort war: »wenn Elise noch warten will, so liebt sie mich nicht und dann – kann auch ich warten.« – Seht Ihr, François, darauf hin hätte ich alles gut sein lassen; Gott! so ein junges Mädchen stirbt nicht am Heirathen. Aber nein, da hatten sie keine Ruhe, namentlich die Gräfin Mutter, sie meinte, ihr würde es gelingen, den jungen Herrn nachgiebig zu machen. Ja, gehorsamer Diener! was sie erreichten, war, daß sich bei ihm die fixe Idee festsetzte, Elise liebe ihn nicht mehr, und als deren Mutter nun auch das Mädchen selbst bestimmte, mit ihrem Verlobten darüber zu sprechen, hätte es bald einen Eclat gegeben; er rannte wie wahnsinnig nach Hause, sie stürzte der Gräfin weinend in die Arme, und da war nichts Andres zu machen, als den Hochzeitstag so bald wie möglich zu bestimmen.«

»Man hätte Eines oder das Andere auf Reisen schicken sollen,« meinte François. Herr Krämer zuckte mit den Achseln, ließ sich ein neues Glas Wein eingießen, um seine vom mühsamen leisen Sprechen trocken gewordene Kehle anzufeuchten, und sagte dann nach einer Pause: »Unsereins sieht freilich oft schärfer als die da droben, aber sie glauben´s nicht; wäre ich nicht damals noch ganz fremd im Hause gewesen, hätte ich mir schon ein vernünftiges Wort erlaubt. – Nun der Hochzeitstag kam heran, – doch ehe ich von demselben spreche, muß ich noch des andern jungen Herrn im Hause erwähnen.«

»Ah, des Neffen von Herrn Eugen, des Herrn Paul!« – Herr Krämer nickte mit dem Kopfe, dann fuhr er fort: »Geschwisterkind des alten Herrn Baron, und nun, da es Gott so gewollt, muthmaßlicher Erbe des ganzen ungeheuren Vermögens.« – »Ein braver Herr!« sagte François begeistert. – »Ein vollkommener Cavalier, freigebig, und weiß seine Leute nach Verdienst zu behandeln.« – Der Bediente neigte demüthig seinen Kopf, der Andere schaute mit vielsagendem Blicke in die Höhe und bemerkte ruhig, aber ausdrucksvoll: »jetzt unser Herr! – Jugend hat nicht Tugend,« fuhr er nach einer Pause in leichtem gefälligem Tone fort. »Herr Baron Paul war allerdings weniger lebhaft und wild, als der junge gnädige Herr, aber er ist auch um mehrere Jahre älter, hat sein Leben genossen und, wie er sagt, die Weiber kennen gelernt. Wir Beide, François, wollen es ihm nicht übel nehmen, daß er sich den Wunsch der Gräfin Heeren auf seine Art auslegte. Er zuckte die Achseln darüber und lachte so vor sich hin; wenn ich mich unterstehen dürfte, über einen Angehörigen unseres Hauses meine offenherzige Meinung zu äußern, so würde ich sagen, er hätte das allenfalls bleiben lassen können, aber du mein Gott! man sagt etwas und meint es nicht so böse. – Genug, der Hochzeitstag kam heran. Seht Ihr, lieber François, ich, der ich zum Haushofmeister für das junge Paar angenommen war und schon seit einem halben Jahre mich damit beschäftigte, alles in den gehörigen Stand zu setzen, ich hätte mir nicht träumen lassen, jetzt mein gegenwärtiges Amt versehen zu müssen. Die Stelle eines Haushofmeisters ist ein schöner, angenehmer Posten, man kann sich überall umthun, man lebt frei und behaglich, kann ohne Scheu von der Gabe Gottes essen und trinken, allen möglichen Leuten gefällig sein und darum auch wieder auf die Gefälligkeit Anderer rechnen. Ach, es ist traurig, hier nun den ganzen Tag eingesperrt zu sein! Freilich bin ich nicht schlecht gestellt, Ihr könnt das an Euch abmessen, lieber François, aber die Freiheit! die Freiheit!«

François legte sein Mitgefühl für den unmittelbaren Vorgesetzten dadurch an den Tag, daß er seine Unterlippe betrübt herunterhängen ließ; weil aber die Augenbrauen trotz seiner Anstrengung nicht aufhörten, höchst erstaunt auszusehen, so bekam dadurch der Kopf etwas ungemein Komisches. »Was nicht ist, kann noch werden,« meinte er nach einer Weile. »So können die Sachen hier doch nicht fortgehen, und wenn der Herr Baron Paul,« setzte er flüsternd hinzu, »das Haus antritt, so kann es Ihnen nicht fehlen.«

Herr Krämer antwortete mit einem tiefen Seufzer, und nachdem er vorsichtig in den Spiegel geschaut und sich überzeugt, daß der junge Herr im Nebenzimmer noch immer in derselben Stellung verharre, fuhr er in der Erzählung fort und sagte: »Alle diese Reden von der Aufschiebung der Hochzeit hatten auf das Gemüth der jungen Gräfin sehr nachtheilig eingewirkt; ich kann Euch das nicht so erklären, aber ich hörte später den Doctor mit dem alten Baron darüber reden, und der sagte was von ahnungsvollem Bangen, was ein junges Mädchenherz bewege, von Gemüthsbewegung und gewaltigem Nervenreiz, kurz von einem Zustande, den man durchaus nicht steigern dürfe, um nicht die nachtheiligsten und schrecklichsten Folgen zu verleben. Am bestimmten Tage nun fuhr unser Herr mit dem Baron Paul, der sein Brautführer war, zu Heerens. Wie war er so vergnügt, als ich ihm beim Anziehen half, ja vergnügt, aber doch schrecklich aufgeregt. »Siehst du,« sagte er zu mir, »wie meine Hand zittert, und doch halte ich nur ein Glas Wasser, – diese Hand, die sonst nicht die geringste Bewegung machte, wenn ich den schwersten Säbel minutenlang in ihr ausgestreckt hielt. Das thut die Freude.« – So kam er nun bei seiner Braut an, oder vielmehr im Hause derselben, aber statt lachender, freudiger Gesichter, wie sie einen Bräutigam empfangen sollen, bemerkte er zerstörte Mienen, ängstliches Hin- und Herlaufen; statt zu Elisen führte man ihn in ein Zimmer des Parterrestocks, wo der alte Graf Heeren mit dem Hausarzte erschien. – Daß ich den Jammer mit wenig Worten sage: die junge Gräfin hatte während des Ankleidens einen Anfall gehabt, sie war zusammengeschaudert, als man ihr Schleier und Kranz brachte, sie hatte geweint und gefleht, sie nicht zum Tode zu schmücken, dann war sie ohnmächtig geworden, und jetzt lag sie still brütend in einem Fauteuil und fuhr jeden Augenblick erschreckt in die Höhe, indem sie fürchtete, ihn, den sie so sehr geliebt, kommen zu hören. Er durfte sie nicht einmal sehen und fuhr in schrecklicher Bewegung nach Hause. Der Herr Baron Paul, obgleich er ihn zu trösten versuchte, war doch anfänglich sehr karg mit seinen Antworten auf die stürmischen Fragen seines Vetters, dieser wollte des Andern Vermuthungen hören über den furchtbaren Vorfall, und je verschlossener derselbe blieb, desto mehr drang der junge Herr in ihn. Was sie eigentlich zusammen gesprochen, das hat nie Jemand erfahren; so ein heftiger, aufgeregter junger Mann wie der Baron war wohl im Stande, den ruhigeren Vetter so lange zu quälen, bis er vielleicht seiner Ansicht, seiner Befürchtung, seiner fixen Idee, Elise liebe ihn nicht mehr, beitrat. Was weiß ich, genug, ein Wort gab das andere; laß dich zehn- und hundertmal von einem Exaltirten fragen: warum liebt mich dieses Mädchen nicht mehr? so wirst du ihm auch zur Antwort geben: vielleicht hat sie dich nie so recht von Herzen gemocht, vielleicht zieht sie einen Andern vor, – der Blitzstrahl in ein Pulverfaß. Was half alles Vernunftpredigen! Der junge Baron hatte nur einen Gedanken: wer? wer? wer? Und wenn man eifrig sucht, so findet man. – Wohl hatte vielleicht der Baron Paul,« setzte Herr Krämer nach einer kleinen Pause mit kaum vernehmlicher Stimme hinzu, »mit suchen helfen, wer weiß das? Vor dem alten Herrn wurden diese Sachen natürlicherweise heimlich betrieben, genug, an einem schönen Abend brachte Baron Paul unseren jungen Herrn schwer verwundet nach Hause. Mit einem Herrn von W. hatte er sich auf Säbel geschlagen, hatte seinen Gegner tief in die Brust gehauen, selbst aber einen Hieb in den Kopf erhalten, an dem er Monate lang zu Bette lag, Die Wunde heilte endlich zu, als aber der unglückliche junge Herr zum erstenmal wieder aufstand, war er in dem Zustande, in dem er sich jetzt befindet. – Doch ruhig, er steht auf.« – »Und Gräfin Elise,« flüsterte François, »was ward mit ihr?«

»B–s–s–st!« machte Herr Krämer, wobei sein Gesicht plötzlich einen ganz andern, sehr ernsten Ausdruck annahm, während er sich in seinem Lehnstuhle gerade setzte und, wie es schien, unbefangen vor sich hin blickte. Ein aufmerksamer Beobachter aber hätte deutlich sehen können, daß dieses unbefangene Wesen erkünstelt war, daß er vielmehr häufig forschende Blicke vor sich in den Spiegel warf und daß er mit ungetheilter Aufmerksamkeit auf ein kleines Geräusch im Nebenzimmer, sowie auf sich langsam nähernde Fußtritte lauschte.

Unter der Thüre des Nebenkabinets oder Alkovens, von dem wir vorhin sprachen, ward die Gestalt eines jungen Mannes sichtbar, der gegen das Kamin zuschritt. Er mochte ungefähr vier oder sechsundzwanzig Jahre haben, war hoch und schlank gewachsen, und wenn er etwas vorn übergebeugt ging, so mochte das wohl daher kommen, weil er den Kopf tief herabsinken ließ, ihn nur scheinbar mit der linken Hand unterstützend, welche er an die Stirne gelegt hatte. Zwischen seinen weißen Fingern drängte sich sein lockiges blondes Haar hervor, welches seine hohe edle Stirne umgab. Sein Gesicht im Ganzen war angenehm, ohne schön zu sein, es mußte früher einen unbeschreiblich gutmüthigen Ausdruck gehabt haben; jetzt aber gaben ihm die zusammengekniffenen Lippen und ein seltsamer Glanz in den hellbraunen Augen, sowie ein unsteter Blick etwas Abstoßendes, ja Unheimliches. Nachdem er einige Schritte in das Zimmer hineingethan, ließ er die linke Hand herabsinken, richtete den Kopf hastig in die Höhe und blickte um sich, anfänglich mit aufmerksamem Gesichtsausdrucke, dann zuckten seine Lippen wie ungeduldig, und wenige Minuten nachher flog eine tiefe Trauer über seine Züge.

Mittlerweile war er vor den Kamin getreten, hatte sich neben den Stuhl gestellt, in welchem Herr Krämer saß, und sagte mit einer tiefklingenden Stimme: »Es ist schon so lange dunkel da draußen auf den Straßen, daß ich's endlich genug habe. Es könnte wieder Tag werden, – o ja, Tag werden, – ich liebe die Nacht nicht. – Ah!« fuhr er nach einer Pause fort, während welcher er den Bedienten mit zusammengezogenen Augenbrauen angesehen, »wie kann es auch Tag sein, wo solche Figuren sind! Ich habe ja schon oft gesagt, daß du ein Kind der Finsterniß bist. Nun, du hast das Recht dazu; aber du hast kein Recht, dich hier einzudrängen und ein Stück Dunkelheit hereinzuschleppen in meine hellen Zimmer. – Hebe dich weg, Ver –«. Ehe er aber dieses Wort aussprach, drückte er beide Hände mit einem schneidenden Seufzer an die Stirne und sagte, als er sie nach einer Weile wieder herabsinken ließ: »Doch wozu dich wegschicken, Kamerad? Sind wir doch alle verdammt, der Eine ein bischen mehr, der Andere ein bischen weniger; ich vielleicht am wenigsten, dann kommst du meinetwegen. Wer aber die Qual der Verdammniß am verdientesten trägt, das ist da unser Freund, der vor dem Kamine sitzt, – der behaglich sitzt,« sprach er nach einer Weile, wobei seine Augen anfingen zu blitzen und der Ton der Stimme immer heftiger wurde, »der da sitzt, wenn ich stehe. Erhebe dich, Hallunke, ich dein Herr, stehe vor dir!«

Obgleich Herr Krämer mitleidig und höhnisch lächelte, beeilte er sich doch, dem erhaltenen Befehle auf das Schnellste zu willfahren, dann aber, als er den schweren Sessel zwischen sich und den unglücklichen jungen Mann gebracht, veränderte er auf einmal seine Physiognomie, seine Augen blickten starr vor sich hin, wie um den Gegenstand, den sie erfaßt, zu bannen. Dabei kniff er die Lippen auf einander und streckte den Hals so weit als möglich vor. »Also so weit wären wir wieder!« rief er nach einer Pause, »das ist der Dank für meine Mühe, daß man mir nicht einmal einen Augenblick Ruhe am Kamine gönnt! Habe ich darum Ihren Kopfschmerz aufhören lassen und so viele schöne Lichter angezündet? Ah! das Ding kann sich ändern,« setzte er grob und pöbelhaft hinzu; »bin ich vielleicht Ihr Narr, oder sind –«. Glücklicherweise sprach er diesen furchtbaren Satz nicht aus. »Jetzt ist mir schon alles einerlei. Allons, François, löschen wir die Lichter aus, der Herr Baron lieben die Dunkelheit.«

Es war schmerzhaft anzusehen, wie der unglückliche junge Mann in diesem Augenblick sich zu einem Lächeln zwang, zu einem Lächeln so voll furchtbaren Schmerzes, daß ihm unwillkürlich während desselben zwei Thränen über die Wangen hinabrollten; aber das Lächeln siegte und als nun gerade von der Glut im Kamine einer der Holzblöcke auseinanderborst und unzählige Funken herumsprühten, wurde das Lachen sehr laut, natürlich und herzlich, und die Augen des jungen Mannes folgten mit offenbarem Wohlbehagen dem Feuerregen, der übrigens nur eine Sekunde währte.

»Wie viel Uhr ist es?« fragte Herr Krämer ruhig den Bedienten. »Mir scheint, es ist schon spät.« – »O nein, es ist noch sehr früh!« rief hastig der junge Mann, »für mich noch sehr früh; ich will noch nicht schlafen, ich kann noch nicht schlafen. Oh, Gerard,« wandte er sich an den Hüter, »wenn du einmal so furchtbare Träume hättest, wie ich, dann gingst du gar nicht mehr zu Bette.« – »Und was thäte ich dann?« sprach der Andere. – »Du bliebst am Fenster sitzen und schautest in die Nacht hinaus lange, lange, lange und betrachtetest dir den dunklen Himmel und die schwarzen Wolken, bis es allmälig heller würde und immer heller und der helle Tag anbräche. Denn wenn du ruhig abwartest, Gerard, so kommt doch der Tag zuletzt immer wieder, und darauf habe ich meine Hoffnung gebaut. – Einen Stuhl!« – Diese letzten Worte galten dem Bedienten, der sich auch beeilte, einen Fauteuil aus der Ecke herbeizuholen, in den sich der junge Baron niederließ. Er stützte den Kopf in die Hand und blickte eine Zeit lang düster in die Glut des Kaminfeuers, lächelte dann eigenthümlich und sagte: »Glaube mir, Gerard, ich habe in meinem Kopf viele gute Gedanken, das fühle ich wohl; aber verflucht! ich weiß sie nie auszusprechen. Ist mir doch gerade, als habe ich hinter meiner Stirne ein eisernes Gitterwerk, einen Käfig, ein Gedankengefängniß, und darin toben sie oft wild durcheinander und ringen nach Freiheit, daß es mir schwindlig und Angst wird. In solchen Augenblicken drücke ich meine beiden Hände an den Kopf, um die toll durcheinanderspringenden Ideen zu beruhigen. – Gibt es kein Mittel, Gerard, dieses Gitter aufzusprengen? Du solltest sehen, was für prachtvolle Gedanken dann zum Vorschein kommen. – Gibt es kein Mittel?« fragte er nach einer längeren Pause abermals.

»Nein, es gibt keins,« erwiderte der Hüter ziemlich barsch, und als der junge Mann bei dieser Antwort den Kopf tief in seine Hände verbarg, sagte jener flüsternd zu dem Bedienten: »Gott sei Dank, daß das eiserne Gitter da ist; wenn wir all diese Gedanken hören sollten, das wäre um selbst närrisch zu werden.« Dabei bemerkte er übrigens nicht, wie schon bei den ersten Worten, die er aussprach, der junge Mann einen Blick herüberwarf, einen Blick, der schrecklich war, und wie er darauf die Zähne zusammenbiß; doch lehnte er sich im nächsten Augenblick ruhig in den Fauteuil zurück, faltete die Hände und sagte mit weicher Stimme: »Lies mir etwas vor.« – »Es ist schon so spät,« versetzte Herr Krämer mürrisch. – »Lies mir vor!« wiederholte heftig der Kranke. – »Auch habe ich Brustschmerzen,« fuhr der Hüter fort; »François, bring das große Bilderbuch her.«

»Und ich will kein Bilderbuch!« rief nun der junge Mann mit ausbrechendem Zorn. »Verflucht sei dein Bilderbuch, deine Hunde und Affen, selbst Hund und Affe! – Das Buch! ich will das Buch! Du weißt schon, was ich meine, und kennst auch, was ich will, daß du mir vorlesen sollst. Ja, schaue mich nur mit deinen giftigen Augen an und winke deinem Henkersknecht.« – »François!« sagte der Hüter mit einer unangenehmen Kälte, »lösche die Lichter aus, es ist kein gut Wetter heute Abend.« – »Ja, lösche die Lichter aus!« schrie der unglückliche Kranke, indem er mit den Zähnen knirschte; »aber wenn es auch finster ist, will ich dich doch treffen; ich sehe dich auch in der Nacht.« Und bei diesen Worten griff er mit sicherer Hand in den Kamin, ergriff eine kleine Schürstange von polirtem Eisen, die an der Seite lehnte, und schwang sie drohend gegen Gerard.

Dieser aber, dem dergleichen Auftritte schon zuweilen begegnet sein mußten, und dem nichts der Art unerwartet kam, ergriff ruhig eine andere Stange, die an seiner Seite lehnte und sagte: »Nur zu; das wird ein artiges Duell geben, eine Quart auf die Brust hieher und eine Prim in den Kopf dahin.« Bei diesen letzten Worten fuhr er sich mit dem Nagel des Daumens über die Hirnschaale, genau an derselben Stelle, wo der Baron Breda damals jenen fürchterlichen Hieb erhalten. Und als ob er so eben erst den Schlag bekommen, sank der unglückliche junge Mann in den Stuhl zurück, ließ die Stange fallen und fuhr mit beiden Händen an seine Stirne.

Herr Krämer blickte triumphirend lächelnd zu François auf, der jetzt seine Augbrauen noch höher emporzog und in Wahrheit ein Bild des Erstaunens abgab. »Da wir nun wieder Freunde sind,« fuhr der Hüter nach einem längeren Stillschweigen und mit einem fatalen Lächeln fort, »so soll auch François das Buch holen, dort auf dem Tische das kleine rothe.« Der Bediente that wie ihm befohlen, Herr Krämer öffnete es, suchte eine Weile und las dann:

»Du bist wie eine Blume,
So hold und schön und rein.«

»Ja, sie war wie eine Blume!« seufzte der Unglückliche, »so schön, so hold und auch gewiß so rein. Ich habe sie lange angeschaut – und sehe sie noch vor mir,« sagte er träumerisch; »ich kann jedoch ihr Bild nicht mehr erkennen. Aber wenn ich nur daran denke, fließt Wehmuth in mein Herz.«

»Mir ist, als ob ich die Hände
Aufs Haupt dir legen sollt',

las Herr Krämer weiter.

Betend, daß Gott dich erhalte
So schön, so rein, so hold.

»So das ist's,« schloß der Wärter.

Betend, daß Gott dich erhalte
So schön, so rein, so hold,«

wiederholte der Unglückliche mit leiser, vor Wehmuth zitternder Stimme, wobei er seine Hände aufhob, als wollte er sie sanft Jemand auf das Haupt legen. Dann stand er auf, warf einen vielsagenden Blick auf seinen Hüter und fing darauf an, im Hintergrunde des Zimmers mit großen Schritten auf und ab zu gehen.

»So, das gilt für den Abendsegen,« sagte Herr Krämer jetzt wie zu sich selbst, indem er seine Stimme, die ohnehin beim Vorlesen nicht viel Schwung bewiesen hatte, zum allergewöhnlichsten Gesprächston herabstimmte und als er bemerkte, daß der Kranke hastig hin und her ging, fuhr er fort: »Das kann er zehnmal des Tags hören und ist hernach ruhig wie ein Lamm.« – Und er meint seine Braut damit?« fragte der Bediente flüsternd. »Aber was sagte er vorhin? er könne sich kein Bild von ihr machen? das ist in der That sonderbar.« – Eigentlich nicht so sonderbar, als Ihr glaubt, François,« meinte wichtig Herr Krämer. »Die Aerzte und Gelehrten sagen: jeder Theil des Gehirns von Thier und Menschen habe eine bestimmte und absonderliche Funktion, man hat darüber an Tauben Versuche angestellt, das Gehen eines solchen Geschöpfes z. B. an irgend einer gewissen Stelle verletzt, und es ging nun beständig rückwärts, an einer andern stürzte es unaufhaltsam vorwärts, bei einem dritten und vierten drehte es sich in Einem fort rechts oder links herum. Das soll bei einem Menschen nun gerade so sein, und der Hieb dort,« sagte er so leise, daß es nur für den Bedienten verständlich war, »muß gewissermaßen, wie sie es nennen, einen Theil des Gedächtnisses getroffen haben, denn wenn sich der Herr auch gewisser Sachen, die früher vorfielen, außerordentlich gut erinnert, so hat er dagegen alle Personen seiner früheren Bekanntschaft total vergessen, sogar den alten Herrn erkannte er nicht wieder, ebenso wenig mich, den er doch früher täglich gesehen. Und was nun seine Braut anbelangt, so hat er wohl eine Ahnung von der ganzen Geschichte und blättert oft dort in dem großen Buche, wo die schönen Mädchenköpfe abgezeichnet sind; da kann er stundenlang überlegen und suchen, ohne zu finden, denn das sieht man an der Trauer und dem Unmuthe, mit dem er das Buch jedesmal von sich wegwirft.«

»Also weiß er, daß er eine Braut gehabt und sie verloren?« – »Gewiß, aber gerade, daß er fort und fort nachgrübelt und ihr Bild wieder zu finden sucht, wird seiner Genesung, wenn überhaupt eine möglich wäre, sehr hinderlich sein.« – »Und die junge Gräfin?« fragte flüsternd der Bediente, »hat sich ihr Zustand geändert, oder ist sie schwermüthig geblieben?« – »Wir wissen nicht viel von ihr,« entgegnete Herr Krämer nach einer Pause. »Die Aerzte riethen ihr Luftveränderung, sie machte mit ihren Eltern eine Reise nach Südfrankreich und Italien, und ich weiß in der That nicht, ob sie zurückgekehrt ist.« – »Also sind die beiden Häuser durch die Geschichte ein wenig auseinander gekommen?« – »Schon vor dem Tode unseres alten Herrn; und doch, seit Herr Baron Paul die Sachen verwaltet, hat es sich wieder gut gemacht. Nur als vor einem halben Jahre die Aerzte zu einer Zusammenkunft der beiden jungen Leute riethen, welche vielleicht auf das Gemüth des Kranken heilsam einwirken könnte –« – »So widersetzte sich der Herr Baron Paul dieser Zusammenkunft?« fragte François mit einem seltsamen Lächeln; »ich verstehe.« – »So, Ihr versteht?« erwiederte der Andere mit einem kurzen und raschen Kopfnicken. »Nun, das freut mich, und da Ihr nicht ganz ohne Verstand seid, so werdet Ihr auch hoffentlich einsehen, wie die Geschäfte hier geführt sein wollen.«

»Aber eins begreife ich nicht,« meinte der Bediente, »warum Ihr mit dem Kranken hier in der Stadt und dem Hause bleibt? Da gibt es doch stille und ruhige Aufbewahrungsorte, wo man glücklicherweise nicht so viel Umstände zu machen braucht.« Herr Krämer schüttelte verächtlich mit dem Kopfe, dann deutete er achselzuckend auf seine Stirne und sagte hierauf: »Es ist ein Unglück, wenn man nicht weiter sieht, als Einem die Nase gewachsen ist. Meinet Ihr vielleicht, man stecke den einzigen Herrn eines großen Namens und ungeheuren Vermögens nur so mir nichts, dir nichts in irgend eine Anstalt hinein? Das will zart behandelt sein. Das ist ein Grund; der andere aber ist der, daß unser Kranker in eine wahre Wuth geräth, wenn er nur aus irgend etwas zu merken glaubt, mau wolle ihn aus der Stadt entfernen.«

»Also hat er sehr lichte Momente?« fragte der Bediente. – »Viel zu viel, um ein Narr zu sein, und zu wenig, um vernünftig leben zu können. Ich sage Euch, François, es gibt Tage, wo wir Beide so ruhige Conversation führen und wo er so gescheidt fragt und antwortet, daß ein Dritter, der uns zuhörte, wahrhaftig kaum im Stande wäre, zu sagen, wer von uns Beiden der Gescheidteste ist. – Jetzt aber geht hinaus, ich habe schon ein paarmal bemerkt, daß er unwillige Blicke herüberschießt; mir scheint, ei will allein sein, vielleicht schlafen. Du grundgütiger Herrgott!« setzte er mit einem scheinheiligen Seufzer hinzu, »dann wäre dieses mühsame Tagewerk auch wieder vorüber! Ist noch ein Tropfen in der Flasche?« Statt aller Antwort füllte der Bediente den dargereichten Kelch nochmals, schlug dann den Pfropfen mit der Handfläche in die leere Flasche und entfernte sich mit leisem Schritt.

Der Baron Breda stand am Fenster und hatte die Stirne an die kalten Scheiben gedrückt, nun wandte er sich mit einemmale rasch herum. »Wissen Sie was, Gerard,« sagte er mit lauter Stimme, »ich habe das Leben hier in dem Zimmer satt und will hinaus. Teufel auch! ein junger Mann von meinem Alter braucht nicht gehütet zu werden wie ein kleines Kind, und keinen Wärter wie Sie sind.« Statt aller Antwort zuckte Herr Krämer mit den Achseln und blickte lächelnd vor sich hin in die Kaminglut. Der junge Mann schaute ihn ein paar Sekunden mit weit geöffneten Augen an, dann seufzte er schmerzlich aus, legte die Hand an die Stirne und ballte sie gleich darauf wie im heftigen Zorn. Doch ging das wieder vorüber, wie es gekommen, worauf sich der Kranke abermals ein paar Schritte dem Kamin näherte und dann mit sanfter, schmeichelnder Stimme sagte: »Lieber Gerald, wir kennen uns doch schon ziemlich lange, ich glaube seit jenem unglücklichen Tage, wo ich zu Bette liegen mußte. Ganz richtig, mir wird es so schwer, eine Erinnerung festzuhalten,« fuhr er nach einer kleinen Pause fort, während welcher er seine Augen mit der Hand bedeckt hatte. »Sie sagten mir öfters, Sie seien mein ganz ergebener Diener.«

»Allerdings habe ich das oft gesagt und meine es auch ehrlich; Ihnen fehlt auch nichts, ich bin ja besorgt für Sie, wie man es nur sein kann.« – »O ja, zu viel,« murmelte der junge Mann, »aber – was wollte ich doch sagen? das Gitter, das verfluchte Gitter! es läßt meine Gedanken nicht hinaus. O, ich habe schöne Gedanken, Gerard, gute Gedanken, und auch für Sie.« Bei diesen Worten war er ganz nahe an den Lehnstuhl getreten, an welchem der Hüter saß, der vollkommen gleichgültig schien und auch nicht eine Miene machte, den Kopf herumzudrehen. Dagegen blickte er aufmerksam in das Spiegelglas vor sich, auf welche Art er die geringste Bewegung des Kranken zu überwachen im Stande war. – »Gerard,« fuhr dieser fort, »ich bin der Herr dieses Hauses, laßt dieses elende Spiel aufhören. Warum bewacht man mich? Warum läßt man mich nicht frei ziehen? Wissen Sie was, Gerard,« setzte er flüsternd hinzu, »wir wollen zusammen fliehen in die weite Welt hinaus; Sie machen mich frei, ich mache Sie reich. – O hinaus! hinaus! immer weiter! durch Thäler über Berge, daß ich den weißen, garstigen Schnee nicht mehr sehe. Denken Sie, Gerard, welches Entzücken, welch' Vergnügen, wenn des weißen kalten Schnees immer weniger wird, wenn sich dazwischen grüne Streifen zeigen, liebe grüne Streifen, unendlich farbige Blumen, weiße Glocken und blaue Veilchen, und davon machen wir einen Kranz und ziehen damit immer weiter und weiter hinaus, bis wir sie wieder finden, die Blume aller Blumen, so schön, so hold, so rein!« – Diese Worte hatte er wie in steigender Angst gesprochen und dabei seinen Kopf tief herabgesenkt, um besser in das unbewegliche Gesicht seines Hüters blicken zu können, ob vielleicht aus demselben eine kleine Hoffnung zu schöpfen sei. – »Willst du, Gerard?«

Doch hatte sich in der Physiognomie des Herrn Krämer durchaus nicht das Mindeste verändert, höchstens schien er gelangweilt, eine Sache abermals hören zu müssen, die nach seinen Begriffen, vollkommen kindisch, ja verrückt war; er schien auch gar keine Lust zu haben, sich in Erörterungen einzulassen, sondern erwiderte einfach: »Es ist wahrhaftig schon spät, wir müssen die Lichter auslöschen, alle Welt geht zu Bette, und das wollen wir auch thun.« – Das Gesicht des jungen Mannes zeigte in diesem Augenblicke einen verzweifelten Kampf, eine Stufenleiter von der höchsten beseligendsten Hoffnung zur tiefsten schmerzlichsten Enttäuschung. – »Nein, nein!« sagte er zähneknirschend, »nur Licht! Licht! – ich will nicht schlafen, Gerard!« rief er darauf laut, indem er an das Fenster eilte und den Vorhang zurückriß. »Siehst du wohl, daß nicht alle Welt schläft; dort fahren sie herum mit schnellen Pferden und glänzenden Livreen. Glückliche, frohe Menschen!« Die heftige Aufregung, welche in dem Tone der Stimme des Kranken lag, bewogen Herrn Krämer, langsam aufzustehen und sich ebenfalls dem Fenster zu nähern. »Bah!« sagte er, »wie kann man wieder so aufgeregt sein! Es ist wahrhaftig besser, wenn wir ruhig zu Bette gehen. Denken Sie an was Anderes! man muß das alles vergessen.«

»O wie kann ich sie vergessen!« sprach der junge Mann leise zu sich selber, »sie vergessen, da sie einmal mein war! Nie! – nie! – nie!« Nach diesen Worten blickte er eine Weile starr zum Fenster hinaus, wobei seine Züge sich augenscheinlich beruhigten, dann blitzte sein Auge eigenthümlich, und momentan schien es, als zucke ein seltsames Lächeln um seinen Mund. Nachdem er noch eine Zeitlang die heiße Stirne an die kalten Scheiben gedrückt, wandte er sich ruhig um und trat zum Tische, wo die schwere Kegelkugel auf dem venetianischen Glase lag. Er nahm sie leicht in die Hand und rollte sie mit so großer Kraft über den Teppich weg nach den Kegeln, daß sie an der Wand hoch emporfuhr. Herr Krämer schüttelte den Kopf und bat, das Spiel jetzt zu unterlassen, da es bereits neun Uhr sei und zu spät, um jetzt noch Derartiges zu treiben. »Ich will aber noch nicht schlafen!« entgegnete der Kranke, »meinetwegen will ich die Kugeln liegen lassen, aber dann eine andere Unterhaltung haben.«

Der Hüter, welcher zufrieden war, daß der Paroxismus von vorhin so glücklich und leicht sich gelegt hatte, mochte nun auch nicht darauf bestehen, den Kranken in's Bett zu bringen, und sagte: »Nun, mir soll es auf eine Stunde weiter nicht ankommen; ich will Sie sogar noch eine Zeit lang unterhalten, wenn Sie gut und ruhig sein wollen. Wünschen Sie etwas zu spielen?« – Der junge Mann, der hoch aufgerichtet im Zimmer stand und jede Miene seines Hüters aufmerksam betrachtete, fragte mit einem lauernden Blicke: »Wo ist das Schachbrett?« – »Dort auf dem Nebentische,« entgegnete Herr Krämer. – Der Kranke zuckte mißmuthig mit den Achseln. »Ach nein,« sagte er, »warum mit den Schachfiguren spielen? Das sind arme Gefangene wie ich, sie können nur ihre vorgeschriebenen Schritte thun und dürfen nicht rechts noch links; das eckelt mich an. Wo sind meine Federbälle? Das fliegt, wohin es Lust hat.« – »Ah!« meinte der Hüter, »wie kann man Ball schlagen bei Licht! Warten Sie bis morgen früh!« – »Wo sind meine Federbälle?« fragte der junge Mann mit demselben eigenthümlich lauernden Blicke wie vorhin. – »Dort in dem Wandschranke, glaube ich.« – »So will ich damit spielen!« Bei diesen Worten preßte der Kranke die Lippen heftig aufeinander.

Herr Krämer, der es vorzog, lieber eine halbe Stunde Ball zu schlagen, als eine ganze unruhige Nacht durchmachen zu müssen, wie das schon bei ähnlichen Veranlassungen vorgekommen war, ging nach der Ecke des Zimmers, wo sich der bezeichnete Wandschrank befand. Derselbe war sehr tief und in einem Winkel angebracht, den die Mauern des Nebenzimmers, mit dem dieses Gemach verbunden war, bildeten; verschlossen war er durch eine Thüre mit einem kunstvoll gearbeiteten festen Schloß. Der Hüter öffnete denselben und bückte sich brummend nieder, um Bälle und Raquette herauszulangen.

Der Baron stand in der Mitte des Zimmers und hatte die rechte Hand auf den großen Tisch gestützt, während er die Nägel seiner linken aufmerksam zu betrachten schien; – schien sagen wir, denn in Wahrheit verfolgten seine Blicke mit größter Aufmerksamkeit die Bewegungen seines Wärters. Kaum hatte sich derselbe niedergebückt und befand sich mit dem Oberkörper in dem Wandschrank, als der junge Mann mit einem einzigen Sprunge hinter ihm war, ihn mit Riesenkraft in den dunklen Raum warf, die Thüre zustieß und den Schlüssel umdrehte. Das alles war das Werk einer Sekunde und der Ueberfall so plötzlich und unerwartet gekommen, daß Herr Krämer während demselben nicht einmal einen Schrei ausstieß. Nachdem die schwere Thüre aber einmal verschlossen, war sein Rufen selbst in dem Gemache nur dumpf zu vernehmen.

Einen Augenblick blieb der junge Mann wie überrascht vor der Thüre stehen, dann lächelte er eigenthümlich und sagte zu sich selber: »Ruhig, ruhig – ruhig,« während er, wie um seine Gedanken festzuhalten, beide Hände fest an den Kopf drückte. Indem fing der eingeschlossene Wächter an zu rufen und zu poltern; man vernahm deutlich seine grobe Stimme: »Was soll das heißen? – Wollen Sie augenblicklich öffnen? – Nehmen Sie sich in acht, das soll Ihnen theuer zu stehen kommen! Auf meine Ehre schwöre ich Ihnen! vier Wochen lang sollen Sie nicht Sonne und Mond sehen, auch nicht den geringsten Lichtstrahl.«

Kopfnickend horchte der Baron auf die Stimme seines Feindes, und statt aller Antwort drehte er den Schlüssel in dem Schlosse nochmals herum, zog ihn dann ab und warf ihn in die Kaminglut; dann besann er sich einen Augenblick und verschloß darauf auch die Thüre, die auf den Korridor führte und zu welcher François hinausgegangen war. Nun fühlte er sich frei und sagte sich das zehnmal nach einander mit tiefen Athemzügen. »Frei! frei! frei?« jubelte er aus voller Brust; dann begann er zu überlegen, wie die gewonnene Freiheit am besten zu benutzen sei, und um darüber nachdenken zu können, setzte er sich in den Lehnstuhl seines Wärters am Kamin und blickte in die glühenden Kohlen, wobei aber seine Gesichtszüge auf eine erschreckende Art beständig wechselten. Jetzt schien er zufrieden mit dem, was er gethan, gleich darauf schaute er überrascht um sich und schien erschrocken, sich so allein im Zimmer zu sehen; dann versank er wieder in tiefes Nachsinnen. Am räthlichsten erschien es ihm nach einer Weile, Stühle und Tische zusammenzutragen und ein Feuer darunter zu machen, um in dem Tumulte, der dann nothwendig entstehen müsse, das Haus zu verlassen. Gleich darauf wollte er das Fenster öffnen und auf die Straße hinaus um Hülfe rufen, doch verwarf er das kopfschüttelnd und lauschte dann wieder aufmerksam nach dem Wandschranke hin, wo der eingesperrte Hüter schon längst angefangen hatte, gelinde Saiten aufzuziehen und freundliche Worte zu geben. Dazwischen hörte man ihn aber wieder fluchen und toben und mit aller Kraft auf den Fußboden klopfen, indem er dadurch Jemand zu seiner Hülfe herbeizuziehen hoffte.

Der junge Mann schien unterdessen einen andern und bessern Entschluß gefaßt zu haben, und die Idee hiezu war ihm offenbar beim Anblick des Schlüsselbundes gekommen, den Herr Krämer auf dem Tische, wo er soupirt hatte, liegen gelassen; er nahm ihn zu sich und ging zu einer Thür neben dem Eingang zu dem erwähnten Schlafkabinet. Nachdem er mehrere Schlüssel probirt, fand er endlich den richtigen, öffnete und ging, nachdem er sich ein Licht angezündet, in das anstoßende Zimmer. Die kleine Flamme der Kerze drohte vom Luftzuge zu verlöschen, als der junge Mann in das Nebenzimmer trat, weßhalb er einen Augenblick stehen blieb, um die Flamme mit der Hand zu schützen. Auch Erinnerungen, die mächtig auf ihn einstürmten, schienen ihn auf der Schwelle zu fesseln; er blickte um sich, und nach und nach, als das Licht heller brannte und die ruhig aufsteigende Flamme mehr und mehr leuchtete, schien es auch in ihm klarer zu werden; aber zu gleicher Zeit lagerte wieder ein Zug tiefen Schmerzes über seine Züge, er erkannte das Zimmer wieder, wo er sich befand; es war ja sein eigenes, ganz in demselben Zustande geblieben, in welchem er es vor anderthalb Jahren verlassen. Da waren all die ihm wohlbekannten Geräthschaften, und es war ihm zu Muthe, als kehre er von einer langen Reise zurück und trete nun zum erstenmal wieder bei sich ein.

Doch leuchtete die einzige Kerze zu schwach, weßhalb er zurück in das große Gemach ging und dort ein paar Carcelllampen holte, nicht ohne nach dem Wandschranke hinzulauschen, wo er aber nichts vernahm als ein schwaches Geseufze. Er trat zurück in sein Zimmer und überließ sich der Freude des Wiederfindens. Von einem Tische eilte er an den anderen, betrachtete und befühlte alle Gegenstände, die um ihn herumstanden. Ach! und es wollte ihm fast das Herz zerreißen, wenn er irgend etwas fand, woran sich eine süße Erinnerung knüpfte, und er fand viel dergleichen: Bücher, die er ihr zum Lesen geschickt und die sie ihm zurückgesandt, kleine, zierliche Sachen, die sie ihm bei verschiedenen Gelegenheiten zum Geschenk gemacht; und vor allem das Kostbarste, was er gierig empornahm und an seine Lippen riß, waren verwelkte, vertrocknete Blumen in einem Glase. Etwas aber suchte er vergebens: ihr Bild. Dort an der Wand, wo es sonst hing, hier auf dem Schreibtische, wo eine kleine Kopie davon gestanden, war nichts mehr davon zu sehen. – Obgleich die Gedanken in seinem Kopfe heftig tobten und wütheten und an dem eisernen Gitter rüttelten, so daß es ihm war, als ströme über ihn hinweg ein brausender Wasserfall, dessen Getöse er nur zuweilen zu dämpfen vermochte, wenn er den Kopf recht fest mit beiden Händen drückte, so fühlte er doch, wie beim Anblick all der bekannten Gegenstände auch ihr Bild langsam bei ihm auftauchte und wie so nach und nach einzelne Züge desselben wie leuchtende Blitze durch die Nacht zuckten, welche sein Gedächtnis umgab. Umsonst aber versuchte er diese einzelnen Züge festzuhalten, um ein Ganzes daraus zu formen; er brachte es trotz der unsäglichsten Mühe nicht zu Stande, und da er das fühlte, faltete er seine Hände und hob sie wie flehend in die Höhe.

Ein lautes Klopfen an die äußere Thüre des Nebenzimmers, dem der Hüter im Wandschranke mit doppelten Schlägen und Rufen antwortete, ließ ihn zusammenfahren und brachte ihn aus süßen und schrecklichen Träumen in die Wirklichkeit zurück; er blickte rasch um sich her und als er auf einem Nebentische ein kleines Kästchen bemerkte, nahm er dieses zu sich und ging damit in das äußere Zimmer zurück. Dort stellte er es auf den Tisch, und da er keinen Schlüssel fand, um es zu öffnen, so drückte er das Ende eines elfenbeinernen Lineals so kräftig in den Spalt unter dem Deckel, daß das schwache Schloß nachgab und das Kästchen aufflog. In demselben befanden sich zwei Doppelpistolen der feinsten englischen Arbeit; der junge Mann lächelte eigenthümlich, als er sie betrachtete; dann horchte er einen Augenblick auf das Geräusch an der äußern Thüre, an der noch zuweilen geklopft wurde, und wo sich alsdann ein paar Stimmen vernehmen ließen, die zusammen sprachen, worauf er vorsichtig, aber eilig die Schußwaffen herausnahm, sie mit einem guten Schusse lud, dann auf jeden Lauf eine Zündkapsel setzte und hierauf die beiden kleinen Pistolen vor sich auf den Tisch legte. Nachdem dies gethan, schien der Kranke einen Augenblick zu überlegen und schritt dann gegen die äußere Thüre, an welcher wiederholt geklopft wurde und vor welcher er immer noch sprechen hörte, ohne etwas verstehen zu können. »Wer ist draußen?« fragte der Baron nach einer kleinen Pause, wobei er seine Hände an den Drücker und den Riegel der Thüre lehnte. »François!« erklang es von draußen; »er will herein.« – »François wird hereinkommen, wenn es mir gut dünkt.« – »Oho!« hörte man die Stimme des Bedienten. Und dann rief er lauter: »Ich bin's ja, Herr Krämer, machen Sie doch auf!«

Einen Augenblick schaute der junge Mann im Zimmer umher, nach der Thüre des Wandschranks, vor allem aber nach dem Tische, wo die Pistolen lagen, dann zog er den Riegel zurück, öffnete die Thüre und ging rückwärts gegen den Tisch, wo er stehen blieb und die rechte Hand aufstützte, so daß er die Schießwaffen leicht erreichen konnte. François trat hastig ein und blickte nach Herrn Krämer umher; als er ihn nicht sah, blieb er erstaunt an der Thüre stehen, und dieses Erstaunen wuchs, als ihm der Baron den Befehl gab, näher zu kommen und die Thüre zu schließen; ehe er aber diesem Befehl Folge leistete, winkte er einem andern Mann, der draußen stand, und erst als dieser, ebenfalls in der Livree des Hauses, in das Gemach getreten war, drückte er die Thüre hinter sich zu.

»Du wunderst dich, mich hier allein zu finden,« sagte der junge Mann mit einem durchdringenden Blick auf den Bedienten, der sich scheu und schüchtern umsah und nicht begreifen konnte, wo Herr Krämer eigentlich bleibe. Plötzlich aber schlug dieser heftig an die Thüre seines Gefängnisses und man hörte seine Stimme kaum vernehmlich hervordringen: »François, öffne die Thüre des Wandschrankes, öffne geschwind, oder es geschieht ein großes Unglück.«

»So öffne denn,« sagte der Kranke. Und als sich der Bediente hastig dem Wandkasten näherte, ergriff er eine der Pistolen und ließ die Batterie knacken. Bei diesem Tone wandte sich der Bediente plötzlich um, und als er sah, wie der junge Herr langsam die Pistole erhob, bedeckte sich sein Gesicht mit einer erschreckenden Blässe, die Knie schienen ihm ihren Dienst versagen zu wollen, und er hielt sich an der Wand, um nicht umzufallen. Der andere Bediente, der mit eingetreten war, machte große Augen, in denen sich übrigens weniger Schrecken als vielmehr ein freudiges Erstaunen zeigte: auch machte er gar keine Miene, sich zum Schutz seines Kameraden zwischen Beide werfen zu wollen, so verzweiflungsvoll auch François zu ihm herüberblickte.

»Du siehst, ich bin wieder der Herr,« sagte nun der junge Mann. Dann wandte er sich an den Andern mit den Worten: »Dein Gesicht erinnere ich mich noch nicht gesehen zu haben. Was willst du?«

Der Angeredete war ein älterer Mann von gutem Aeußern; sein Kopf hatte eine Vertrauen erregende Physiognomie, und als er entgegnete: »O Euer Gnaden sollten mich kennen! ich bin schon lange Jahre im Hause,« klang das so herzlich, daß es dem Kranken in der That vorkam, als habe er diese Stimme schon früher gehört, und daß er sich, obwohl vergeblich abmühte, in seinem umflorten Gedächtniß die Gesichtszüge dieses Mannes hervorzurufen. Als ihm dies nicht gelang, schüttelte er mit dem Kopfe und erwiderte: »Nun gut, wenn du schon lange in diesem Hause bist, so wirst du auch wissen, daß ich der Herr desselben bin, was dieser da und der Andere vollkommen vergessen haben. Denn, solltest du es glauben? sie haben mich hier eingesperrt, sie haben das Licht von mir abgehalten und mich lange Tage in schrecklicher Finsterniß gelassen, blos weil ich ihnen gesagt, ich wolle hinaus in's Freie, und ich wüßte wohl, was sie mit mir vorhatten. Das Gitter in meinem Kopfe habe ich ja nie geläugnet; es hält meine schönsten Gedanken fest, und – und – und –.« Dies hatte er mit sehr trauriger Miene gesprochen, dann aber wurde seine Stimme heftiger, und zornig fuhr er fort: »Jetzt bin ich aber frei und will frei sein. Es soll mich nichts hier zurückhalten, ich will hinaus.« – »Aber wohin wollen Sie, gnädiger Herr,« sagte schüchtern der ältere Diener. »Es ist schon ziemlich spät, auch dunkle Nacht draußen.«

»Wo ich hin will?« fragte der junge Mann erstaunt. »Zu ihr! sie sehen und ihr sagen, daß ich nicht der bin, für welchen man mich ausgibt. O ich denke recht klar, und wenn ich an meinen Kopf fasse, so ist mir's gerade, als fange das Gitter an ein wenig nachzugeben und als schlüpfe hie und da ein prächtiger Gedanke hindurch. – Laß doch einmal sehen! Draußen liegt der Schnee, es ist kalt, also Winter; ich höre einen Wagen nach dem andern vorbeifahren; in dem Wagen sitzen Menschen, lebende Wesen, grade solche wie ich, die sich freuen wollen, grade wie ich. Und wo jene Wagen hinfahren, da wird man auch mir die Thüre öffnen, mir – dem Baron Hugo von Breda,« setzte er stolz und hochaufgerichtet hinzu.

François hatte sich durch Zeichen mit dem andern Bedienten in's Vernehmen setzen wollen; doch schien dieser geneigt, seinem Herrn beizustehen, sei es auch nur aus Haß gegen François und Herrn Krämer, die von dem ganzen Hause verabscheut wurden.

»Aber, gnädiger Herr,« erlaubte sich François, dem ein vortrefflicher Gedanke gekommen zu sein schien, mit unterthäniger Stimme zu sagen, »wir sollten die Sache ruhig überlegen, namentlich aber den Herrn Baron Paul von Ihrem Wunsch in Kenntniß setzen lassen, der gewiß nichts dagegen einzuwenden haben wird.«

»Ah, mein Vetter Paul!« rief der Kranke mit einem schrecklichen Lachen, »er, der mir alles Entsetzliche zugefügt, der mir von ihr gesprochen und der mich veranlaßt zu thun, was ich gethan; der mich hier eingesperrt und gefangen gehalten! – Ah, beim Teufel, laßt ihn kommen! Ich habe Kugeln genug in meinen Pistolen. – Aber dir,« wandte er sich heftig gegen François, »dir befehle ich, kein Wort mehr zu sagen. Bei der nächsten Silbe, die ungefragt aus deinem Munde kommt, liegst du zu meinen Füßen. Glaube mir, meine Hand zittert nicht mehr.« Damit hob er langsam die Pistole in die Höhe und zielte in der That fest und sicher auf den Bedienten, der fast zusammenknickte und in der Angst sein Gesicht abwandte. – »Bah! mit dem schlechten Kerl,« fuhr der Baron fort und ließ die Hand mit der Pistole wieder sinken. »Sprechen wir von Geschäften,« wandte er sich an den andern Bedienten. »Du wirst mir die Wahrheit sagen. Wohin fahren jene Wagen? – Nun?« – »Zum Herrn Grafen Heeren,« erwiderte der Gefragte nach einer kleinen Pause; »es ist dort ein Ballfest.«

»Ein Ballfest?« rief schmerzlich der junge Mann. »Ein Ballfest bei ihr und ich bin nicht eingeladen? Und ich soll hier bleiben in dunkler Nacht bei verschlossenen Fenstern, bei diesen beiden Elenden, die mir so lange vorgesagt haben, ich sei wie ein kleines hülfloses Kind, daß ich es fast selbst geglaubt. – Aber es ist noch Zeit, alles das wieder gut zu machen. Fort! gehen wir ans den Ball. Ich will dort als Teufel oder Tod erscheinen und alle zur Rechenschaft ziehen, welche jenes Gitter geschmiedet, das meine Gedanken zurückhält.«

François schien sich vor der Ausführung dieses Entschlusses ebenso sehr zu fürchten, wie vorhin vor den Kugeln; er rang seine Hände flehend gegen den andern Bedienten, ja seine Rechte griff sogar nach dem Schloß des Wandschrankes, glitt aber kraftlos herab, als er fand, daß dort der Schlüssel abgezogen war.

»Ich habe mich so lange nicht mehr angekleidet,« sprach der Kranke nachdenkend, »daß ich vergaß, was dazu gehört. Du,« – wandte er sich an den ältern Bedienten, »der du mich schon seit vielen Jahren kennst, wirst mir helfen. – Komm! – Doch halt! Wir können diesen nicht allein lassen.« Damit zeigte er auf François. »Das ist ein gefährlicher Narr, sage ich dir; er wäre im Stande, uns das Haus über dem Kopf anzuzünden, daß wir verbrennen müßten und nicht hinaus könnten. Er soll vorangehen, du, riegle die äußere Thüre und dann vorwärts! O ich habe meine Zimmer wieder erkannt.«

Nachdem François noch einen verzweiflungsvollen Blick auf den geschlossenen Wandschrank geworfen, ging er wankend voran, machte aber sehr kleine Schritte, wozu ihn der Baron freundlichst ermahnt, indem er ihm gesagt: »Nimm dich in acht, daß du für meine Absichten nicht zu schnell gehst; es könnte dein Unglück sein.«

So durchschritten sie das anstoßende Zimmer und wieder schaute der junge Mann an die Wand und auf den Tisch, wo ehedem ihre Bilder waren, und schüttelte darauf betrübt mit dem Kopfe, während er leise vor sich hin sagte: »Was ich fürchte, ist, daß ich Sie nicht wieder erkenne. Denn wenn ich meinen armen Kopf noch so sehr anstrenge, so kann ich doch ihr ganzes Bild nicht mehr zusammenbringen vor meiner Seele. Wie Blitze sehe ich wohl hie und da ihre süßen dunkeln Augen, umflort und fast verdeckt von den langen Wimpern, – die lieben Augen, nicht hell und glänzend wie andere, aber mit träumerischem Blick, der zu Herzen dringt, wie eine weiche Musik, wie ein süßes, süßes Lied. – Auch ihr Mund lächelt mir zuweilen, die feinen Lippen, die sie so komisch trotzig aufwerfen konnte; ja komisch und trotzig, ein süßer Zorn, wenn sie mir sagte: »Ach, du bist kalt, du hast mir heute ja erst hundertmal gesagt, daß du mich liebest wie nie ein Mädchen geliebt worden sei. – Ja,« fuhr er fort und drückte die Hand an die Stirne, »wenn ich Auge und Mund nicht mehr zusammenfände! Das ganze liebe Gesicht nicht wieder erkennen könnte! O Gott im Himmel! dann wäre es doch wahr, was jene Beiden oft zusammengeflüstert. – Ich sei – – ah, gräßlich!«

So durchschritten die Drei einige Zimmer, François mit ängstlicher Genauigkeit, in derselben Entfernung voraus bleibend, der ältere Diener neben seinem unglücklichen jungen Herrn, den er zuweilen kopfschüttelnd betrachtete, und dessen Auge sich sogar mit Thränen füllte, wenn er die halblauten Selbstgespräche hörte, die jener von Zeit zu Zeit hielt. Das Schlafzimmer war ebenfalls geblieben, wie er es damals verlassen. Dort stand sein Bett, vor demselben das Fell eines Bären, den er einstens geschossen; an der Wand gegenüber hingen alte prächtige Waffen, deren falsche Kopien wir im ersten Gemache bemerkt. Auch hier blickte der unglückliche junge Mann eifrig nach Bildern von ihr, deren er damals eine große Menge besessen; aber auch hier war keines derselben mehr zu finden.

In kurzer Zeit war die Toilette beendigt, und François, der ebenfalls mithalf, hatte Zeit gefunden, seinem Kameraden zuzuflüstern: »Aber wo soll das hinaus? Das muß ja nothwendiger Weise ein furchtbares Unglück geben. Der Herr Baron Paul werden auch bei Graf Heeren sein oder doch hinkommen; er hat seinen Wagen auf zehn Uhr befohlen, es geschieht ja dort etwas Wichtiges.« Der Andere zuckte mit den Achseln und meinte, man könne nicht wissen, was geschehe, er habe nicht Lust, sich gegen die Gewalt oder gegen den Befehl seines Herrn aufzulehnen.

»So,« meinte dieser, als alles beendigt war und er sich nun im Spiegel beschaute, »jetzt sind wir fertig; aber wenn ich fürchten muß, daß ich sie nicht wieder kenne, so bin ich ebenso überzeugt, daß auch sie nicht wissen wird, wer der bleiche Mann ist, der vor sie hintritt. – Und meine Augen! – Wie ich mich selbst so seltsam anstarre. O mir kommt der schreckliche Gedanke, daß man meine Augen vertauscht hat, und daß man mir statt der meinigen die eines Verrückten gegeben. – Das wäre ungeheuer komisch.« Dabei zwang er sich zu lächeln, lachte aber so furchtbar und verstört, daß François zusammenschrak und der Andere mit der Handfläche über seine Augen fuhr.

In derselben Art, wie sie in das Schlafzimmer gegangen, schritten sie auch in den großen Salon zurück, und der Kranke vergaß nicht, jede Thüre hinter sich abzuschließen und die Schlüssel zu sich zu stecken. Dann öffnete er die äußere Thüre, die auf Korridor und Treppe führte und horchte in das stille Haus hinab. Nach einiger Zeit schlug eine Uhr im Hause die zehnte Stunde, dann hörte man den Klang der andern aus verschiedenen Zimmern; gleich darauf wurde eine Thüre geöffnet und eine Stimme rief: »Der Wagen des Herrn Baron soll vorfahren!« – »Meinen Mantel!« befahl nun der Kranke mit Heftigkeit. Der ältere Bediente gab ihm denselben um und trat auf eine drohende Miene des jungen Mannes in das Zimmer zurück. Die Thüre zu demselben verschloß der Letztere ebenfalls und dann glitt er lautlos die Treppe hinab, nicht ohne seine Pistole, die er unter dem Mantel in der rechten Hand hielt.

Die breite Steintreppe mündete auf ein rundes Vestibül, rechts befand sich die Loge des Portiers, geradeaus die Hausthüre. Vor derselben fuhr in diesem Augenblick ein Wagen vor, ein Lakai, der auf der Außentreppe gewartet, öffnete den Schlag, als er den Baron die Treppe herabkommen sah. Dieser hatte das rechte Mantelende so um die linke Schulter geworfen, daß sein Gesicht fast ganz verdeckt war. Er schritt leicht über den Vorplatz und sprang, ohne sich umzusehen, in das niedere Coupé. »Du weißt wohl, wohin?« fragte er, »zu Graf Heeren.« – »So ist es dem Kutscher befohlen,« erwiderte der Bediente, indem er die Wagenthüre schloß. Doch wiederholte er den Befehl noch einmal: »zu Graf Heeren! – fort!« Die Pferde zogen an.

Doch hatten sie erst wenige Schritte gethan, als der Wagen plötzlich hielt, der Schlag an der rechten Seite geöffnet wurde und ein junger Herr hereinsprang, der sich mit dem Ausrufe: »Aber zum Teufel! Paul, das heiße ich die Pünktlichkeit zu weit treiben!« in die weichen Kissen warf. »Die Glocken von den Kirchenuhren brummen noch vom Schlage der zehnten Stunde; du hättest mich um ein Haar sitzen lassen. Nun, daß es dir pressirt, begreife ich.« – »Ja, mir pressirt's,« erwiderte der Andere mit leiser Stimme. – »Uff! bin ich deinem Wagen nachgelaufen; und das sag' ich dir, wenn ich die Idee von einem Spritzer an meinen Stiefeln habe, so verklage ich dich vor der ganzen Gesellschaft bei deiner Braut –« – »Bei meiner Braut?« entgegnete der Baron, und der Ton seiner Stimme mußte etwas Erstaunen oder Ueberraschung zeigen, denn der Andere lachte laut hinaus und rief lustig: »Das ist in der That schön! Du willst wohl auch gegen mich den Geheimnißvollen spielen! Und doch hast du eigentlich recht: heute Abend soll ja erst einem kleinen Kreise deine Verlobung mit der Gräfin Elise proklamirt werden.«

»A – a – ah!« machte der Kranke, und es war gut, daß die Räder auf dem Pflaster rasselten, sonst hätte der Andere unfehlbar hören müssen, mit welch' fürchterlichem Zähneknirschen das Ah! begleitet war. Dabei preßte er beide Hände an die Schläfe und drückte den Kopf noch tiefer in die Ecke des Wagens, als er es bisher gethan. Der Andere, welcher glaubte, das Uebermaß von Glück mache seinen Freund einsilbig, blickte zum Wagenschlag hinaus, und erst, als sie ein paar Minuten, ohne zu sprechen, fortgefahren waren, sagte er: »Apropos, wie geht es dem armen Hugo? Schlimmer als je, wie ich höre.« – »O nein,« erwiderte der Gefragte, »es geht ihm besser; ich glaube, er ist auf dem Wege, daß es ihm sogar ganz gut gehen kann.« – »Aber du sprachst doch gestern ganz anders, du sagtest, er tobe und es sei lebensgefährlich, sich ihm zu nahen.« – »Nicht für alle, nur für Einzelne,« versetzte der Kranke mit dumpfer Stimme, wobei er seine Pistole in die Höhe hob.

Mochten nun die langsam gesprochenen Worte oder der Ton der Stimme dem Andern endlich auffallen, genug, er wandte den Kopf herum und suchte seinem vermeintlichen Freunde in's Gesicht zu sehen; doch lehnte dieser zu tief in der Wagenecke, hatte sich auch zu fest mit dem Mantel drapirt, als daß es bei der herrschenden Dunkelheit möglich gewesen wäre, etwas von seinem Gesichte zu erkennen. Was aber der Andere sah, als der Wagen bei einer Straßenlaterne vorbeifuhr, war das Leuchten eines der Pistolenläufe. Seine Nachbarschaft kam ihm verdächtig vor, und er überlegte einen Augenblick, ob er nicht den Kutscher halten lassen solle. Doch wozu konnte das nützen? Als umsichtiger Mann dachte er: ist da Jemand neben dir, der Uebles vorhat, so wäre es unklug, eine Katastrophe zu beschleunigen; seien wir auf unserer Hut; wir sind bald am Ziele und da wird sich zeigen, was zu machen ist. Glücklicher Weise für ihn mußte der Wagen so anfahren, daß er selbst zuerst hinausstürzen konnte; das Beste war auf jeden Fall, ruhig und unbefangen fortzusprechen. Das that er auch, sprach über das Wetter und den bedeckten Himmel, sang zuweilen ein paar Takte dazwischen oder pfiff eine Melodie. Dabei unterließ er nicht, zuweilen einen Blick auf seinen Nachbar zu werfen.

»Jetzt sind wir da!« rief er endlich. Und bei diesem Worte warf der Baron Hugo seinen Mantel von der Schulter und beugte sich vor, um auf die Straße zu sehen. – Nichts hätte übrigens den jungen Mann neben ihm so erschrecken können, als das bleiche Gesicht des Verrückten, das er nun augenblicklich erkannte, des Tobsüchtigen, von dem man ihm gesagt, daß es lebensgefährlich sei, sich ihm zu nähern. – Eben dieser Tobsüchtige saß nun neben ihm und hatte, als ob das zum Anzuge gehöre, eine artige Pistole mit zwei Läufen in der Hand. Unangenehme Situation! Da mußte plötzlich ein Entschluß gefaßt werden, und der kam auch zur rechten Zeit. Der Wagen hielt, er öffnete den Schlag, sprang hinaus und als der Kranke folgen wollte, rief er ihm zu: »Wart einen Augenblick, Paul, der Esel von Kutscher hat das Haus verfehlt, er muß noch zwei Schritte fahren; ich werde es ihm sagen.« Mit diesen Worten drückte er den Schlag zu, sprang zum Kutscher und flüsterte ihm in die Ohren: »Wenn dir das Glück deines Herrn und dein Dienst etwas werth sind, George, so fahre, was die Pferde laufen können, nach Hause, du hast statt des Barons Paul den Baron Hugo im Wagen.« – »Alle Teufel!« entgegnete der Kutscher, warf einen schüchternen Blick hinter sich und hieb hierauf seinen Pferden eins über, die, an eine so schlechte Behandlung nicht gewöhnt, mit einem tüchtigen Satze das leichte Coupé vorwärts rissen und dann im vollen Galopp durch die dunklen Straßen dahinjagten. –

»Die zwei Schritte sind lang,« dachte der Unglückliche im Wagen, da dieser so dahinschoß; als sich aber nach einigen Minuten dessen Geschwindigkeit nicht verminderte, sondern vermehrte, als er erstaunt sah, wie Häuser, Laternen, Bäume und Querstraßen eilfertig vorüberhuschten, da schüttelte er zuerst mit dem Kopfe, biß sich die Lippen blutig und rief endlich dem Kutscher zu: »halt! halt!« Doch dachte dieser nicht daran, dem Befehle Folge zu leisten; bald rechts, bald links sauste der Wagen um die Ecken und wilde, finstere Gedanken fingen an, in dem Kopf des Kranken aufzusteigen. Er hatte von einer Braut gehört, und dann hatte man auch ihren Namen genannt. »Elise – Elise!« Zwischen dem Rollen und Rasseln der Räder glaubte er eine klagende Stimme zu hören, die ihm nachrief, aber sie verschwand in dem Lärmen, den die Räder auf dem Pflaster machten. War jener klagende Ruf hinter oder vor ihm erschallt? Ja, ja, gewiß vor ihm; dort schleppte man sie mit Gewalt davon und sie rief um Hülfe. So dachte er und blickte wild um sich. Dann aber war es ihm, als verdichte sich das Gitter in seinem Kopfe zu einer undurchdringlichen Wand, und dann rasten und tobten seine Gedanken wie wilde Wasser an einem hohen Wehr, und sie tobten fort und überflutheten sein Gehirn, bis er einige Sekunden gar nichts mehr denken konnte und sich dann wieder besinnen mußte, wo er eigentlich sei und wohin der Wagen mit ihm fahre.

Jetzt glaubte er dagegen, es sei Herr Krämer, sein Hüter, der hinter ihm dreinjage, dann aber dachte er, der Teufel in eigener Person sitze auf dem Bocke und fahre mit ihm der ewigen Finsterniß zu. Bei dem ersteren Gedanken wollte er die Pferde antreiben mit Zuruf und Zungenschlag, bei dem andern aber stemmte er die Füße gegen die Wagenwand vor sich, als könne er das Coupé zurückhalten. Da sprang bei dem wilden Fahren die nur schlecht eingeklinkte Thüre auf, und dem unglücklichen jungen Manne war es, als haben sich ihm draußen hülfreiche Arme geöffnet und als winkten ihm unzählige Hände zu, hinauszuspringen und sich zu retten. Noch einmal rief er dem Kutscher »halt!« zu, und als dieser statt aller Antwort wieder auf die Pferde hieb, warf sich der Kranke aus dem Wagen und schmetterte begreiflicherweise mit einem furchtbaren Schlage auf das Straßenpflaster nieder.

Wenige Schritte davon hielt der Wagen; – an dem elterlichen Hause lag der einzige und rechtmäßige Erbe desselben lang ausgestreckt, in der krampfhaft zusammengepreßten Rechten noch die Pistole haltend.

Als die Bedienten mit Lichtern herbeieilten und ihn aufrichteten, hob sich seine Brust mühsam athmend, das Blut rieselte aus seinem Munde, und unter einem tiefen Seufzer schloß er die halbgebrochenen Augen. –

*

Das hohe Gemach mit den Holzwänden und der Holzdecke haben wir zu Anfang dieser Geschichte bei Abend gesehen und zur Winterzeit; es war damals recht heimlich, im Kamin prasselte ein lustiges Feuer und hellstrahlende Lampen warfen ihren freundlichen Schein rings umher. Beobachten wir es nun ein halbes Jahr später, da es unterdessen Frühling geworden, Frühling, die schöne Jahreszeit, wo am wolkenlosen Himmel eine warme, glühende Sonne strahlt, ein Meer von Licht rings ausgießend und Blumen und Blätter in der ganzen vielfarbigen Pracht zeigend, wie sie unter ihrem heißen Kusse entstanden. Mit dem Stolz einer glücklichen Mutter that die Sonne schon ein Uebriges und zeigte ihre schönen Kinder auf Berg und Thal aufgeputzt mit Gold und Edelsteinen.

Bei so viel Pracht und Glanz draußen erscheint ein tiefes Gemach mit braunen Holzwänden traurig, fast unheimlich. Auch belebt der Kamin den dunkeln Raum nicht durch ein freundliches Leuchten und Glänzen; er starrt schwarz und verdrießlich und zeigt nur Aschenhaufen und halbverbrannte Papiere. Herr Krämer, der Hüter, saß am heutigen Tage nicht vor ihm, sondern in einer Ecke am Fenster, aber mit derselben Beschäftigung, in der wir damals die Ehre hatten, seine Bekanntschaft zu machen; er trank Rothwein, hielt aber vorher das Glas gegen das Tageslicht, statt wie damals gegen die Flammen des Kamins. Auch François befand sich wieder im Zimmer und räumte den Tisch ab, gerade wie damals. – Auch noch eine dritte Person werden wir endlich gewahr, nachdem wir uns sorgfältig umgeschaut, denn diese dritte Person sitzt etwas verborgen. Wir würden sie nicht wieder erkennen, wenn wir sie in anderer Umgebung sähen.

Es ist ein junger Mann, der aber in den sechs Monaten um doppelt so viele Jahre älter geworden ist; auch hat er kein blondes, lockiges Haar mehr, sondern dasselbe ist glatt abgeschnitten und wird obendrein durch lange schwarze Pflaster verdeckt, die in Streifen über seinen Kopf laufen, – der arme Baron Hugo von Breda. – Aber er ist stärker geworden, viel stärker, und seine Wangen sind durchaus nicht mehr eingefallen. Auch sein Auge hat sich verändert, es blickt nicht mehr zornig oder traurig, es ist gleichförmig, ruhig, ja lächelnd, ebenso das ganze Gesicht, – die Ruhe eines Kirchhofes oder eines prachtvollen Saatfeldes, das der Hagelschlag vernichtet und auf welches, nachdem das schwere Wetter vorüber, jetzt gemüthlich die Abendsonne lacht. Herr Krämer braucht nicht mehr in seinen Spiegel zu schauen, um seinen Anvertrauten zu überwachen, er braucht auch den Wandschrank nicht mehr zu scheuen und kann alle Thüren offen stehen lassen; er braucht in dem rothen Buche nicht mehr zu lesen: »Du bist wie eine Blume so schön, so hold, so rein,« auch nicht mehr Kegel zu schieben oder die nachgemachten Waffen hie und da anders aufzuhängen, – alle diese Dinge sind aus dem Zimmer verschwunden. Der Unglückliche hat nur noch ein paar Wünsche, die leicht zu befriedigen sind: je mehr Lichter am Abend brennen, desto lieber ist es ihm, nebenbei beschaut er auch gerne große Bilderbücher und liebt es, die Blätter herauszureißen und auf dem Boden umherzustreuen. Er scheint dies ohne Absicht zu thun, doch war Herr Krämer auch schon auf die Idee gekommen, als suche er vielleicht etwas, das er nicht finden könne.

An dem Tage, von dem wir gerade reden, war übrigens viel Lärmen im Hause; Koffer waren gepackt worden und Vormittags ging ein schwerer Fourgon mit vier Pferden vom Hause weg. Ueber dieses Lärmen und dieses Laufen im Hause sprach Herr Krämer und François, und der Letztere sagte: »Die Trauung war sehr glänzend; natürlich, wenn sich so zwei Häuser verbinden, da fehlt der Spektakel nicht.« – »Und wann reisen sie?« fragte Herr Krämer. – »Heute Abend um sechs Uhr.« – »Von dort oder von hier?« – »Von hier,« sagte der Bediente; »sie sind vor einer halben Stunde gekommen, und der Baron Paul zeigte der Baronin die Appartements.« – »Hm! hm!« machte Herr Krämer.

Wie an jedem Tage wurde es auch heute sechs Uhr und dann hörte man drunten eine Equipage vorfahren; es war ein schwerer Reisewagen mit vier Pferden bespannt, man konnte das von den Fenstern des dunkeln Gemachs aus deutlich sehen, und alle Drei, die im Zimmer waren, sahen es auch, und alle Drei freuten sich darüber. Vor der Thüre erschien der Haushofmeister und der Kutscher, der Reitknecht und die Bedienten, sogar der Koch und der Küchenjunge und machten tiefe Verbeugungen, als nun zwei Personen aus dem Hause traten, eine Dame und ein Herr. Die Dame trug ein schwarzseidenes Reisekleid, war schlank und fein gebaut; das sah man, als ihr beim Einsteigen der Shawl von den Schultern herabrutschte. – Blickte sie in diesem Augenblicke an dem Hause in die Höhe oder that sie es nicht? Ganz genau können wir es nicht sagen, aber wir glauben, daß sie es that. Das war dieselbe Dame, von der der Unglückliche droben gesagt, sie habe so süße dunkle Augen, umflort und fast verdeckt von den langen Wimpern; – liebe Augen, nicht hell und glänzend wie andere, aber mit träumerischem Blicke, der zu Herzen dringt, wie eine weiche Musik, wie ein süßes, süßes Lied. – Als sie im Wagen saß, stieg auch der Herr Baron Paul von Breda ein, dann wurde der Schlag geschlossen, die Bedienten hintenauf winkten ihren zurückbleibenden Kameraden; die Postillone, festtäglich aufgeputzt, hieben auf die Pferde, und bald war der Reisewagen um die nächste Ecke verschwunden.

Der Herr Baron Hugo von Breda, der oben am Fenster stand und lächelnd zuschaute, schien sich über diese Abwechslung in seiner einförmigen Aussicht gefreut zu haben, wenigstens schaute er dem Wagen vergnügt nach und nickte mit dem Kopfe. »Wie lange dauert die Reise?« fragte François Herrn Krämer. – »Vier Monate; sie gehen nach Frankreich und Italien.« – »Und wenn sie zurückkommen,« sagte kopfschüttelnd der Lakai, »so wird unseres Bleibens hier auch nicht lange mehr sein.« – »Nun, was Euch anbetrifft,« entgegnete Herr Krämer, »Ihr werdet Dienste im Hause thun, wie alle Uebrigen; ich aber werde den da begleiten.« Damit zeigte er auf den unglücklichen jungen Mann, »und mich dann vorderhand mit meiner wohlverdienten Pension zur Ruhe setzen.«

»Und weiß man schon, wohin es geht?« meinte François. – »O ja, die Anstalt ist schon bestimmt. Was meinst du,« wandte er sich lächelnd an den Kranken, »hast du auch Lust, bald zu reisen, in einem schönen Wagen mit vier Pferden?« Der arme junge Mann nickte sonderlich lächelnd mit dem Kopfe. »Er hat seine Fahrt von damals rein vergessen,« sagte François. – »Nun ja, wenn Du recht brav bist,« fuhr Herr Krämer fort, »so reisen wir nächstens nach einem schönen großen Hause mit hohen Mauern und einem festen Thor; da gibt es auch Lichter und Bilderbücher für die, welche folgsam sind, für solche aber, die Lärmen machen, hat man auch andere Sachen dort.«

»Lichter und Bilderbücher,« wiederholte der Kranke freundlich lächelnd. Und darauf setzte er sich ruhig auf seinen Stuhl und starrte so lange zum Fenster hinaus, bis die Sonne untergegangen war.


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