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Mit Julius Schwarzwald ging es wieder bergauf. Immer bessere Nachrichten waren im Laufe des Novembers von seinem Krankenlager gekommen und waren an der Börse, am Ratskellertisch, überall, wo sein heiteres Wort, seine schlagfertige Ironie, sein sarkastischer Witz so lange gefehlt hatten, mit aufrichtigem Beifall begrüßt worden. Ich selbst hatte mich durch persönlichen Augenschein des öftern überzeugen können, wie seine Kräfte zunahmen, sein Händedruck herzhafter wurde, das halberloschene Auge von neuem zu hoffen begann, der wiedererwachende Humor seine Flämmchen und Lichter spielen ließ.
Also abermals hatte der Knochenmann, mit dem Stundenglas in der Hand, am Fußende seines Bettes, nicht ihm zu Häupten gestanden, und gegen alles menschliche Hoffen seine Frist erstreckt! Wer weiß auf wie lange! Aber einerlei! Es war Leben, das Höchste, was wir besitzen, schwer erstrittenes und gewonnenes Leben.
Noch ein paar Wochen mildlösender Rekonvaleszenz, als an einem klaren, frostklingenden Sonnentage des früher als sonst gekommenen Winters Schwarzwald wieder auf seinem alten Platz vor der Börse, dem Artushof, stand und die Glückwünsche der ihn umringenden Kundschaft und Freundschaft empfing. Es war, als feierte man in ihm einen, siegreich vom Felde zurückgekehrten General, der unser aller Sache gegen den gemeinsamen Erbfeind geführt hätte und dessen Triumph auch aller anderen Triumph bedeutete. Etwas Ähnliches mochte auch Schwarzwald selbst in den Sinn kommen, da er unter dem Händeschütteln des Bekanntenkreises das linke Auge zukniff und lächelnd das schnell kolportierte Wort sprach: »Kinder, ihr macht ja ein Trara mit mir, als ob ich Napoleon selber auf die Hosen geklopft hätte!«
Noch eine Weile nachher blieb der bemerkenswerte Fall das Stadtgespräch. Ein fast schon Totgeglaubter, der aus dem Grabe wieder auferstanden war! Und das nicht zum ersten, nein, zum fünften- oder sechstenmal! Es gab doch noch Ausdauer und Zähigkeit in der Welt. Wildfremde, denen die Neuigkeit erst zu Ohren kam, Gutsbesitzer und Inspektoren, die zum Markt erschienen waren, traten an den Genesenen heran, klopften ihm auf die Schulter, ergriffen seine noch immer abgezehrten Hände mit ihren Fäusten und schüttelten sie, daß die Gelenke krachten. So wuchs der Kundenkreis, das Geschäft blühte mehr als je, und vor dem lange verwaisten Platz am Ratskellertisch stand wieder die gewohnte Flasche des 49er Bordeaux.
Gerade wollte die allgemeine Bewegung und Genugtuung in dieser Sache etwas abebben, als wieder eine große Neuigkeit, diesmal von ganz anderer Art, sich begab und alle Gemüter erregte. Ein Pistolenduell hatte stattgefunden, draußen vor den Toren der Stadt, im Walde bei Zeidlershöhe. Zunächst erhob sich ein Raunen, Flüstern, Wispern, nur im engsten Kreise, ohne Namen, ohne nähere Einzelheiten. Zwei Herren der guten Gesellschaft. Einer sollte einen schweren Knieschuß bekommen haben. Der andere war unverwundet geblieben. Über die Gründe war nichts zu erfahren. Vermutlich ein Wirtshausstreit oder Weibergeschichten. Vielleicht auch beides. Allmählich sickerte doch dies und jenes durch. Vor allem die Namen. Rittergutsbesitzer von Bninsky und Adalbert Hempel! Und Hempel spazierte ruhig und unbefangen, als sei nichts geschehen, auf seinen zwei gesunden Beinen durch die Stadt und trug sein bekanntes Lächeln, höchstens noch um eine Nuance dünkelhafter, zur Schau. Also mußte es Bninsky sein, der die Kugel im Knie sitzen hatte. Aber der war weitab im Schloß Sochaczewo, und wenn er wirklich mit zerschossenem Bein darniederlag, so wurde das den Leuten nicht auf die Nase gebunden. Auch über die Sekundanten war keine volle Gewißheit zu erhalten. Ein Gutsbesitzer und Landsmann von Bninsky sollte einer gewesen sein, ein Bekannter von Hempel, wie es hieß, ein anderer. Nur wußte niemand, welcher. Die Beteiligten hielten reinen Mund, und es war offenbar bloßer Zufall, daß überhaupt etwas in die Öffentlichkeit gedrungen war.
Aber die Tatsache bestand, wurde wenigstens allgemein geglaubt und fand ihresgleichen nicht in der Stadtchronik seit länger als einem Jahrzehnt. Ein Pistolenduell! Weibergeschichten! Sicher war eine vom Theater im Spiel! Und der jung verheiratete Ehemann Bninsky! Und Adalbert Hempel, der Don Juan! Fragen über Fragen. Geheimnis über Geheimnis. Wohin man kam, stand den Leuten die Neugier auf dem Gesicht geschrieben. Das Rätsel mußte gelöst werden, koste es, was es wolle. An allen Stammtischen, in allen Kontoren, in Kaffeekränzchen und Tanzgesellschaften ging es an ein Debattieren und Diskutieren, wurde gezischelt, getuschelt, hin und her geraten. Nur diejenigen, die es wirklich wissen konnten, Hempel und sein nächster Anhang, schwiegen oder taten, als sei an dem ganzen Gerede kein wahres Wort.
Was mich betrifft, so zweifelte ich keinen Augenblick, daß die Geschichte ihre Richtigkeit habe. Mit meinen überreizten Sinnen und der Hellsichtigkeit, die mir in solchen Dingen von je zu eigen war, übersah ich sofort den äußeren Zusammenhang. Karola! Die Ursache des Duells konnte niemand anderes als Karola sein. Was in aller Welt hätte das Renkontre zwischen den beiden herbeiführen sollen? Noch dazu, da Bninsky seit September verheiratet war. Aber dann mußte doch die Beziehung zwischen ihm und Karola auch nach der Hochzeit weiterbestanden haben? Und Hempel und er waren sich irgendwie im gleichen Revier begegnet, es hatte Streit, vielleicht Tätlichkeiten gegeben, und alles übrige kam dann von selbst. Ja, so verhielt es sich. So und nicht anders. Damit erklärte sich auch, warum Karola seit damals nicht wieder bei mir gewesen war. Sicher hatte sie in jener Stunde etwas wie Reue empfunden und den festen Willen gehabt, sich zu bessern. Aber dann war ihr wohl Bninsky über den Weg gelaufen, hatte nur den Finger zu rühren gebraucht, und die schönsten Vorsätze waren wie ein Sack voll Federn im Winde zerstoben. Auf welche Weise nachher Hempel dazwischen gekommen, und ob sie den einen mit dem andern betrogen und diesen wieder mit jenem, dahinter standen fürs erste noch Fragezeichen.
Ich befand mich in einer sonderbar passiven, scheinbar fast teilnahmslosen Stimmung. Mir war, als sei ich meinem Schicksal mit gebundenen Händen ausgeliefert, und ich müsse mich treiben lassen, wohin die Reise auch gehe. Gegen Bninsky fühlte ich selbst bei schärfster Prüfung keine Spur von Abneigung oder Eifersucht. Nur vollständige, sozusagen doppelt unterstrichene Gleichgültigkeit. Was hilft es, sich gegen einen Bergrutsch oder gegen ein Erdbeben anzustemmen? Und war nicht die Schlachzizenschönheit des edlen Polen, seine feurige Melancholie oder sein melancholisches Feuer – einerlei – von der Art einer Naturkatastrophe für Weiberherzen, nun gar eines solchen, wie es Karola unter ihrem Mieder trug? Nein, dagegen war man machtlos, mußte die Dinge eben gehen lassen, wie sie gingen.
Ganz anders stand die Sache mit Hempel. Gegen ihn lebte der alte Haß in mir fort und fand neue Nahrung, so oft ich von ihm hörte oder ihn sah. Die Möglichkeit nur, daß Karola in diesen traurigen, sturm- und regengepeitschten Spätherbsttagen, wo ich grübelnd unter meinen Büchern gesessen und mich in Wahngebilde verloren hatte, auch ihn, neben Bninsky, beglückt haben könne, die Möglichkeit nur – denn alles war ja Kombination – erfüllte mich mit blinder, fast sinnloser Wut, die um so tiefer fraß, als sie geheim bleiben, sich im äußeren Verkehr mit dem Gehaßten hinter einer lächelnden Maske verstecken mußte.
Oh, wenn doch Bninskys Kugel getroffen und ihm einen Denkzettel beigebracht hätte, daß ihm die Lust an den Weibern und den Weibern an ihm für immer vergangen wäre! Statt dessen hatte der blinde Gott, der die Läufe der Kanonen, Gewehre und Pistolen regiert, natürlich seine Kugel zum Ziele gelenkt und den anderen, den unrechten niedergestreckt. Lächerliche Stümperei! Hätte ich nur an Bninskys Stelle gestanden! Ich wäre auch mit der ewigen Unvernunft der Götter fertig geworden und hätte den unerträglichen Burschen mit einem Kernschuß kalt gemacht!
Komiker, der ich war! Warum hatte ich nicht an Bninskys Stelle gestanden? Warum dachte ich immer nur, wollte, plante, erwog, wo andere, Geringere zugriffen, handelten, taten? Mußte der Fremde denn immer und immer recht behalten? »Sie haben es an sich, den Leuten an die Gurgel springen zu wollen. Aber nur zu wollen!« Vorsicht, mein Bester! Einmal konnte der Sprung auch Tatsache werden, konnte das Pulverfaß, das ich in mir trug, leibhaftig in die Luft fliegen, und dann wehe, wer ihm zu nahe kam!
Mir vergingen die Sinne vor lauter Möglichkeiten und Perspektiven, und wenn ich erwachte, konnte ich Adalbert Hempel mit erhobenem Kopfe und siegesgewissem Lächeln die Stufen seines Beischlages hinuntersteigen sehen, vielleicht zu einem Rendezvous mit Karola, oder sonst einem Abenteuer entgegen.
Sie selbst, Karola, hatte ich seit September nur von weitem erblickt, hatte, wenn ich sie irgendwo kommen sah, einen Umweg gemacht und dabei das schmerzliche Vergnügen genossen, mir einzubilden, sie ihrerseits suche vielleicht eine Begegnung mit mir, um einen schicklichen Grund zur Wiederanknüpfung zu haben, ich aber sei es, der einer solchen ausweiche und sie vereitle. Selbst auf den Theaterbesuch, so schwer mir dies fiel, hatte ich verzichtet, war wenigstens nur hingegangen, wenn ich annehmen konnte, sie nicht auf der Bühne zu sehen. Briefchen, wie sie mir früher von ihr zugeflogen, waren diesmal ausgeblieben, auch meinerseits nicht an sie abgegangen. Es schien, als sei alles zwischen uns aus.
Und doch wußte ich in tiefster Seele, mit allen meinen Sinnen, daß dies nur ein Intermezzo in der Tragikomödie meiner Leidenschaft sei. Mußte ich mir denn nicht sagen, daß, trotz allen Reißens und Zerrens, die Kette, die uns verband, nur immer fester geworden war? Was halfen Kasteiung, Resignation, die ich mir selbst auferlegte, wenn es nur von Karola abhing, ihnen ein Ende zu machen? Wozu dies erzwungene Entbehren des geliebten Gegenstandes, da ich ihn doch jeden Augenblick wiederhaben konnte?
Vergeudete Zeit und Kraft! Verwirrung, wo immer ich suchte, wohin ich blickte! Dunkelheit von Anfang bis zu Ende!
Es war Schwarzwald, der einen Schimmer von Licht in das Dunkel zu bringen schien. Wir befanden uns, etwa eine Woche vor Weihnachten, nicht lange nach dem Bekanntwerden des Duells, in einer Nische des Ratskellers. Einer von den niedrigen gotischen Pfeilerstümpfen, die die Wölbung tragen, stand gerade vor unserem Platz und verdeckte uns den Blicken der übrigen Gäste, deren nur wenige hier und da an den schweren Eichentischen saßen, denn die Nähe des Festes hielt alle braven Familienväter zu Hause bei Weib und Kind. An dem mächtigen Wagenrad, das, von Ketten gehalten, gerade über der Mitte des Kellers schwebte, brannten nur ein paar Kerzen und flackerten trübe. Der Schatten des grauhaarigen Küfers, der schweigsam zwischen den Tischen auf und ab schlich, leere Flaschen wegräumte, andere entkorkte, spazierte mit komischer Grandezza über die roten Ziegelfliesen, wand sich wie ein hin und her bewegtes Rankenwerk um die kantigen Spitzbogenstämme des Pfeilerwaldes oder stand plötzlich, wenn er mit eingestemmten Beinen eine aufzuziehende Flasche zwischen den Knien hielt, als Riesentonne mit einer Art von Henkelgriff an der weiß gekalkten Wand.
Soeben hatte er eine neue Flasche eines älteren Bordeaux zu einigen schon erledigten Zeitgenossen gestellt, hatte vorsichtig und zärtlich mit einem Tuch den Flaschenhals ausgewischt und war mit einem letzten Blick auf das verstaubte Etikett, wie ihn die Mutter ihrem scheidenden Liebling zuwirft, auf seinen Filzpantoffeln in den Kellerverschlag zurückgeschlürft, in dem sein Leben zwischen Gläserregalen, Flaschenspinden, Weinlisten und Rechnungsformularen beim matten Schein einer immer blakenden Öllampe dahindämmerte.
Schwarzwald hielt das tiefe Kristallglas mit dem dunkeln Lebenssaft eine ganze Weile an seine Nase und schien mit allen Sinnen daran zu saugen. Dann erhob er es über den Tisch zu mir und sagte, indem er mich bedeutsam ansah:
»Du hast vorher auf meine Genesung getrunken und ich danke dir dafür, mein Kerlchen. Man hat ja vermutlich nur das eine Leben, und wenn nicht ... sicher ist jedenfalls sicher. Wenn man schon den Sargdeckel hat knarren hören, dann ist das Gläserklingen nachher keine üble Musik. Immer noch besser eine rußige Kellerwölbung über sich, als das nobelste Grabgewölbe draußen bei Heilig-Leichnam, wo die Herren Würmer schon die Mäuler nach mir gespitzt haben sollen. Denen haben wir noch einmal ein Schnippchen geschlagen, und das tut einem alten Spaßvogel gut. Schadenfreude ist bekanntlich die Blume aller Blumen. Ausgenommen natürlich diese, die hier im Glase blüht und duftet. Die Blume von Anno 37, als wir um dreiundzwanzig Jahre jünger und grüner waren und uns einbildeten, es müsse ewig so weiter gehen. Von dem Star sind wir ja glücklich geheilt. Aber es gibt andere Stare und andere Mucken, an denen man leiden kann. Und so laß uns denn mit dieser Blume, der Blume unserer Jugend, mein Kerlchen, auf deine Genesung trinken!«
Es war eine ordentliche Rede, die er da gehalten hatte. Zuerst noch ein bißchen kurzatmig, mit etlichen Pausen zwischen den Sätzen und einigem Hüsteln, dann leichter, flüssiger, wenn auch immer in seiner heiseren, kratzigen Art. Ich hatte ihm lächelnd zugehört, amüsiert über das schalkhafte Blinzeln seiner halb zugekniffenen Augen und gespannt auf den Fortgang seines Speeches, hatte noch ahnungslos mein Glas erhoben, um ihm Bescheid zu tun, und war erst bei den allerletzten Worten wie von einem plötzlichen Bremsenstich zusammengefahren.
» Meine Genesung? Was heißt das? Was soll das bedeuten?«
Ich hatte meine Hand mit dem Glase sinken lassen und starrte Schwarzwald entgeistert an. War es möglich? Wußte er etwas? Und wußte es dann nicht die ganze Stadt?
Schwarzwald lachte kurz auf und nickte kennerisch vor sich hin.
»Ja, ja, das sind so die Finessen des Lebens. Jeden packt es an seiner schwächsten Stelle. Den einen an der Lunge, den andern am Herzen oder im Kopf.«
»Also dann im Kopf!« stieß ich erregt heraus. »Wie kommst du darauf? Mir scheint, du phantasierst!«
Schwarzwald machte eine überlegene Geste mit seiner langen, schmalen Knochenhand.
»Gib dir keine Mühe. Die Geschichte ist heraus. Aber du hast gut Komödie gespielt. Selbst ich bin dir auf den Leim gekrochen. Das will was heißen. Erinnerst du dich, wie wir damals auf der Börse zusammen sprachen, als Hempel mit der Kleinen auf Reisen gegangen war? Ich tischte dir die Neuigkeit brühwarm auf. Für was für einen Esel magst du mich gehalten haben! Ich könnte mich noch nachträglich ohrfeigen dafür!«
Er patschte sich mit den knöchernen Fingern seiner rechten Hand gegen das von einer gelblichen Pergamenthaut überspannte Stirnbein. Es klang, als stoße man im Wartezimmer eines Arztes gegen das in der Ecke aufgestellte Skelett.
Wir schwiegen eine Zeitlang. In mir arbeiteten Wut, Eifersucht, Scham mißtönig durcheinander, wie die Tasten eines Klaviers, auf das jemand mit seinen Fäusten haut.
»Ist dir bekannt,« fragte Schwarzwald nach einer Weile über sein Glas weg, »daß sie auch die Geliebte von Bninsky gewesen ist, und daß er und Hempel ihretwegen zusammengeraten sind?«
Ich nickte mechanisch, mit halb geschlossenen Augen. Mir war, als sei die gemauerte Wölbung über uns im Begriff, sich aus den Fugen zu lösen und auf mich niederzustürzen. Fast hätte ich gewünscht, sie täte es, erschlüge auch Schwarzwald mit und machte dieser unerträglichen Fragerei ein Ende. Ich haßte ihn in diesem Augenblick, wie ich nur noch Hempel außer ihm haßte, und begriff nicht, warum ihn bei seinem letzten Anfall nicht der Teufel geholt hatte.
Schwarzwald schien nichts von meiner Stimmung zu merken. Vielleicht übersah er sie auch absichtlich. Er hatte die beiden Arme um sein Glas gebreitet, wie um ein kostbares und einziges Besitztum, und blickte angelegentlich hinein, während er ruhig und gleichmütig weiterforschte.
»Weißt du auch von ihren Fahrten nach K.?«
»Zu ihrer Mutter, jawohl!« warf ich heftig ein.
Schwarzwald lächelte mild und überlegen, aber ohne mich anzusehen.
»Oder zu ihrem Vater, mein Kerlchen! Konsul Pritzlaff! Du kennst ihn ja.«
Ich hatte das Gefühl wie von einem Schlag aufs Auge, der einen Feuerstrom herausbrechen und mich die Dinge in ganz neuem Lichte sehen ließ. Aber es war keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Ich mußte mich mit Fassung wappnen, mußte dem Feind die Stirn bieten.
»Also in Gottes Namen zu ihrem Vater!« höhnte ich. »Mit dem sie natürlich auch eine Liebschaft hat!«
»Wenigstens gehabt hat. So sagt man, mein Kerlchen. Dabei gewesen bin ich nicht. Aber zuzutrauen wär's ihm schon, dem alten Pascha! Das war einer, der den Teufel im Leibe hatte. Aber na, fürs Gewesene gibt der Jude nichts, und vorbei ist vorbei. Ich hab' ihn lange nicht mehr gesehen. Jetzt wird er sich wohl beruhigt haben.«
»Und hat sie deshalb hierher abgeschoben!« höhnte ich weiter, mit dem Bewußtsein, nur allzusehr die Wahrheit damit zu treffen.
»Schon möglich!« meinte Schwarzwald und strich sich nachdenklich den grau gewordenen Backenbart. »Vielleicht ist ihm ihre Nähe doch mit der Zeit etwas heiß geworden. Das begreift man ja auch, wenn man sieht, wen sie hier alles am Bändel hat. Die Geschichte von dem Husarenrittmeister kennst du natürlich ebenfalls?«
»Nein! Nein! Nein!« wollte ich herausschreien. Aber ich hielt mir selbst gleichsam den Mund zu und zwang mir wieder ein lächelndes Kopfnicken ab. Was brauchte ich noch mehr zu erfahren? Wußte ich nicht übergenug?
Schwarzwald hustete mehrmals in heftigen Stößen. Es rollte wie ferner Geschützdonner von den Gewölben wider. Dann nahm er den abgerissenen Faden wieder auf.
»Also alles in allem ein nicht unbeträchtliches Luderchen, die Kleine! Und das Komische, daß du nicht loszukommen scheinst, obwohl du ja genügend Bescheid weißt. Was soll man sagen! Wenn einer sich mit zwanzig oder fünfundzwanzig verliebt ... gut! Das ist wie die Masern bei den Kindern. Es dauert seine Zeit, dann wird man gesund. Aber wehe, wenn unsereiner die Masern kriegt! Mit vierzig Jahren! Das geht ins Blut. Da heißt es die Ohren steif halten.«
Er zog die Stirn hoch, so daß es aussah, als wolle ihm die Haut über den Kopf weg nach hinten rutschen, und schenkte sich behutsam ein neues Glas ein.
»Die Tragödie des Mannes von vierzig Jahren!« murmelte ich vor mich hin. »Aber was weißt du davon! Was versteht ihr davon, ihr Moralprediger und Weisheitszüchter!«
Ich hatte die letzten Worte fast geschrien. Die Qual meines Herzens ließ sich nicht länger zurückdrängen. Ich mußte ihr Luft machen oder ich erstickte daran.
Schwarzwald legte mir über die braune Tischplatte weg seine durchsichtige Hand auf den Arm.
»Sage das nicht, Kerlchen! Die Krankheit findet sich öfter als du denkst. Es hat nur nicht jeder die Lust oder die Gabe, davon zu reden.«
»Rede ich denn davon?« schrie ich und schlug auf den Tisch, daß die Flaschen tanzten. »Zwingt ihr mir's nicht geradezu ab mit eurer verdammten Spioniererei und Schulmeisterei? Warum laßt ihr mich nicht auf meine Fasson selig werden oder verrecken? Ich pflege meine Windeln nicht an die Straße zu hängen.«
»Pst! Still!« suchte Schwarzwald zu begütigen und deutete auf den Küfer, der in einer Ecke seines Verschlages hockte und schnarchte. »Schrei' mir Jakob nicht aus dem Schlaf! Er sägt gerade ein niedliches Astloch durch. Ich will dir eine kurze Geschichte erzählen, als Beweis, wie es anderen Leuten geht.«
Er setzte sein Glas an den Mund, nahm einen kurzen Schluck auf die Zunge und ließ ihn Tropfen für Tropfen hinunterrollen.
»Weißt du, warum es mir eigentlich noch allein Spaß macht, daß ich mit dem großen Exekutor, der schon an meinem Bett stand, noch auf ein Jährchen oder zwei akkordiert habe? Länger wird er ja wohl nicht stunden wollen. Ganz egal! Was man hat, hat man. Aber weißt du warum? Nicht wegen Mariechen oder wegen der Kinder. Oder weil man noch ein paar Groschen mehr zusammenkratzen kann mit seinem Restchen Kraft. Gewiß, das ist ja alles gut. Das ist Pflicht sozusagen und basta! Aber dazu lebt man nicht. Deshalb hätt' ich ruhig die Augen zumachen können. Worauf ich mich gefreut habe, als es hieß, für diesmal bin ich durch, das war, daß ich noch einmal einem gewissen süßen, einzigen, entzückenden Balg begegnen würde, das ein paar Straßen von mir nach der Stadt zu wohnt. Einfach begegnen, mein Junge! Nichts weiter. Ich kenne sie nicht, sie kennt mich nicht, als höchstens jeder den Namen des andern. Wir haben nie zusammen gesprochen, werden auch nie zusammen sprechen. Denn was würden die Leute dazu sagen! Sie ein siebzehnjähriges Ding, und ich ein angegrauter Familienvater! Aber wir wissen doch, daß wir's sind, wenn wir so aneinander vorübergehen, ich meinen Weg zur Börse hin, sie von der Klavierstunde heim, die Mappe am Arm, mit den dunkeln Rehaugen und dem braunen Zopf. Das gibt dem alten Uhrwerk dann immer wieder einen Stoß, daß es noch eine Zeitlang weiter läuft und seine Stunden schlägt, wie sich's gehört.«
Schwarzwald hatte seine lange Rede zu Ende gebracht, ohne mehr als ein paarmal innezuhalten und sich zu räuspern. Jetzt mußte er sich erst gründlich aushusten und mit einem Schluck Bordeaux nachspülen, ehe er wieder zu Atem kam. Auch ich schwieg, dachte nach und stellte Vergleiche an. So also war es mit dem Leben bestellt! So viel und so wenig gehörte dazu, es erträglich zu finden! Ein kühler, fremder, höchstens mitleidiger Blick aus zwei braunen, verschleierten Mädchenaugen genügte, um einem grauen Werktag Schimmer und Glanz zu geben und ein Dasein, das nur von Ziffern erfüllt schien, in die Sphäre der Phantasie zu erheben. Ich dagegen? Wie unendlich viel mehr verlangte ich vom Leben! Wie unersättlich kam ich mir gegen den andern vor, der da gegenüber saß, ganz in sich versunken, wie ein langsam verglimmendes Häuflein Asche! Der alte Kumpan! Die Wolke, die ihn mir vorher verhüllt, entstellt hatte, war verflogen. Ich vermochte ihn wieder rein und frei zu sehen, bat ihm im stillen die Unbill ab, die ich ihm angetan hatte. Ein weiches Gefühl ließ mich ihm die Hand über den Tisch entgegenstrecken. Er legte die seine, die kühl und wie leblos war, hinein und nickte lächelnd vor sich hin.
»Dummheiten! Nicht wahr? Primanerphantasie oder so! Aber gerührt hat's mich doch, als wir uns zum erstenmal nach meiner Krankheit wieder trafen, mein unbekannter kleiner Schatz und ich, und in ihren Augen zu lesen stand, ein bißchen freut sie sich doch, daß sie ihren platonischen Verehrer, den komischen fremden Herrn mit der halben Lunge, noch einmal zu Gesicht bekommt.«
Schwarzwald lachte kurz, aber geräuschvoll auf. Es klang hohl wie aus der Unterwelt her. Vor ihm lag die Lichtschere auf dem Tisch. Er nahm sie wie in Gedanken zur Hand und putzte bedächtig den überlangen Docht, der schon ein Weilchen gequalmt hatte. Einen Augenblick schien es, als wolle die Flamme der Kerze jäh erlöschen. Aber dann erholte sie sich wieder und brannte in ruhiger Klarheit weiter. War es nicht wie ein Gleichnis für Schwarzwald selbst und sein Leben?
»Du siehst,« begann er wieder, »du hast nichts vor andern voraus. Es geht uns allen so, die den Wendekreis hinter sich haben. Es laboriert jeder daran, der eine leichter, der andere schwerer. Dein Fall wird ja wohl schwerer sein. Deshalb trank ich auf deine Genesung. Entschuldige den frommen Wunsch. Ich will's nicht wieder tun.«
Ich schüttelte herzhaft seine Hand. Ein mild lösendes Gefühl von Erleichterung war über mir, wenigstens von einem Menschen nicht ganz unverstanden geblieben zu sein.
»Ich danke dir,« sagte ich, »und sei mir nicht böse. Ich fürchte, es wird nichts nutzen. Aber es muß wohl so sein. Wenn die Herren vom Rathaus kommen, dann sind sie klug. Man muß das Leben gelebt haben, um es zu begreifen. Nur frage ich, wo bleibt dann der Profit? Hätt' ich mir früher ausdenken sollen, daß man sich an ein Weib, an ein Mädchen hängen kann, das auch noch für andre da ist? Nicht aus Schlechtigkeit oder Gemeinheit, sondern weil es einfach ihre Natur so ist, und im übrigen kann sie ein höchst gutherziges und liebenswürdiges Geschöpf sein? Wer glaubt das, der es nicht an seinem eigenen Leibe erfahren hat? Der nicht von sich selber her weiß, daß die Liebe etwas ganz Inkommensurables ist, unabhängig von Gesetz und Moral und Pflicht und allen sonstigen Werturteilen, die im Leben Gültigkeit haben? Daß sie über dem allen oder meinetwegen jenseits von dem allen steht, überhaupt jenseits von jedem Grund? Daß sie vollständig apriorisch ist, wie die Philosophen das nennen? Wer weiß das, der es nicht an sich selbst erfahren, nicht blutig erlebt hat? Und was nützt es dem, der es weiß? Leidet er darum weniger? O Gott! Man könnte Bände darüber reden! Manchmal zersprengt's mich fast! Aber es hilft alles nichts. Es gibt kein Mittel dagegen. Man ist machtlos.«
Ich hatte mich in ein ungewohntes Feuer geredet. Hatte der rote Wein unserer Jugend, der 37er, mir die Zunge gelöst? War es die warme Nähe, das herzliche Verstehen des alten Kameraden, was mein Herz für einen Augenblick hatte überfließen lassen? Ich wußte es nicht. Aber fast bedauerte ich es schon, machte mir Vorwürfe, meine Unnahbarkeit nicht wie sonst gewahrt zu haben, und nahm mir vor, ein andermal vor mir selbst auf der Hut zu sein.
Schwarzwald rückte auf seinem Stuhl.
»Es ist spät in der Nacht. Mariechen wird schelten. Die Stiefel muß ich mir sowieso schon auf der Treppe ausziehen, damit sie nichts hört. Vielleicht komm' ich durch.«
Ich lachte und warf die Zeche in harten Talern auf den Tisch. Wir waren wieder auf die Erde und in den Alltag zurückgekehrt. Jakob schlürfte griesgrämig heran, mit kleinen, vom Schlaf verquollenen Augen, und rasselte gespenstisch mit dem Schlüsselbund.
»'s ist lange nach Mitternacht,« brummte er. »Die Herren sind wieder die letzten. Andre Christenmenschen stehen bald wieder auf. Einer braucht auch mal Schlaf.«
»Schlaf find' ich im Eskurial!« zitierte Schwarzwald mit hohlem Baß. Wir zahlten und gingen. Hinter uns dröhnte das Tor ins Schloß, als habe uns der Orkus ausgespien. Draußen war die kernige Frische der Dezembernacht. Die hohen Giebelhäuser mit den erloschenen Fenstern dunkelten in den Winterhimmel hinauf. Aus seiner schwarzblauen Sammetspannung funkelten wie durch Gucklöcher die Lichter der Ewigkeit.
Als wir ein Weilchen schweigend nebeneinander hingeschritten waren, blieb Schwarzwald stehen und legte mir die Hand auf den Arm.
»Wenn du durchaus nicht von deiner Leidenschaft für die blonde Kleine, die übrigens wirklich was an sich hat, loskommen kannst: ich will dir ein Mittel sagen.«
»Es gibt keines!« rief ich. »Ich habe alles versucht. Sie ist mir zu konform. Darin liegt es. Es gibt keines!«
»Doch! Ein Mittel existiert!« erwiderte er, immer noch auf denselben Platz geheftet mit dem ernsthaftesten Gesicht, wie ein Arzt, der am Sterbebette steht und eine letzte Medizin verschreibt. »Ein Mittel existiert! Aber es ist eine Pferdekur. Das sage ich dir gleich.«
»? ? ?«
»Heirate sie! Dann bist du in einem halben Jahr mit ihr fertig.«
»Du verschreibst ja Rezepte wie der Doktor Eisenbart!« sagte ich und lächelte wie über etwas ganz Phantastisches und Unmögliches.
»Ja, der Patient muß es aushalten können,« nickte er. »Wenn du das nicht willst oder kannst, dann ist dir allerdings nicht zu helfen. Aber halt: Ja! Da fällt mir noch etwas anderes ein. Wozu haben wir denn neuerdings das Prinzip der Homöopathie! Similia similibus! heißt es ja wohl. Also schaffe dir einen Ersatz für die Kleine an. Lege dir eine Nachfolgerin zu. Möglichst von derselben Art. Gift gegen Gift! Vielleicht hilft das. Und jetzt geruhsame Nacht!«