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30

Hempels Besuch bei mir, seine Abreise und der Zusammenbruch seines Hauses, alles das hatte sich in den ersten Tagen des neuen Jahres, noch unter dem Nachklingen der Silvesterglocken, begeben.

Wieder an einem Januartag, drei Wochen darauf, ein aufgeregter Sonntagvormittag. Karola kommt von der Probe gestürzt: die erste Soubrette, die auch Koloraturfach singt, hat sich die große Zehe gebrochen, liegt krank zu Bett. »Don Juan« soll am Abend sein. Das Haus ist ausverkauft, und der Direktor jammert, tobt, rauft sich das pechschwarze Lockenhaupt, beschwört alle Heiligen vom Himmel herunter, alle Dämonen aus der Hölle herauf, denn wenn sich kein Ersatz für die erkrankte Soubrette findet, muß abgesagt, irgendeine andere, weniger zugkräftige Vorstellung eingeworfen werden, und die schöne Sonntagseinnahme ist zum Teufel!

Was tun? Der Direktor hat das ganze Theater bis zur letzten Choristin, bis zur Friseuse und Souffleuse nach jemand, der einspringen kann, abgesucht, häuft von neuem gräßliche Flüche auf das Haupt der schuldigen Soubrette, rast und sucht mit verdoppelter Verzweiflung weiter. Nun gut! Karola hat die Rolle bei der Pellerini studiert, hat sie mir ja selbst vorgesungen und vorgespielt und einigen Erfolg bei ihrem erzürnten Masetto damit gehabt. Also wer wagt, gewinnt! Sie stellt sich vor den Direktor hin, setzt ihr bezauberndstes Lächeln auf und erklärt sich bereit, die Zerline heute abend zu singen.

Der schlägt sich mit einer mächtigen Gebärde vor die Stirn – »Kinder, der Herr verläßt die Seinen nicht!« –, legt segnend seine wulstige Fleischerhand auf ihren blonden Scheitel (wie ich sie sehe, diese tastende, beringte Hand!) und fleht die Gnade der Himmlischen auf sie und sich und das kühne Unterfangen herab. Worauf er mit verwegenem Schwung seinen Zylinder auf das Lockenhaupt drückt und den üblichen Weg zur sonntäglichen Stammtischrunde in der Weinhandlung gegenüber antritt, alles weitere seinem Repetitor und seinem Kapellmeister überlassend.

Und die Zeit ist knapp. Nur auf einen Sprung ist Karola zu mir herübergekommen, um zu melden, sich zu besprechen, Rat zu erholen. Aber wozu noch Rat? Alles ist abgemacht und nimmt seinen Lauf! Schnell einen Kuß auf den Mund. Der weiße Perlensaum blitzt. Die Arme noch einmal um den Hals geschlungen. Das gibt ihr Mut, gibt Kraft! Wozu hat man den Freund! Und jetzt auf den Weg! Die Probe beginnt.

Karola ist fort. Ich stehe allein am Fenster und blicke auf die totenstille Gasse hinab. Der Himmel lastet düstergrau wie ein zugebundener Sack, aus dem kein Lichtstrahl heraus kann. Bleierner Dunst hängt um die feuchten Dächer, tränt zwischen dem nackten, schwarzen Geäst der alten Lindenbäume straßauf, straßab. Will es frieren, will es tauen? Es weiß es selbst nicht, scheint sich zu besinnen, zu schwanken zwischen verdrossenem, grämlichem Winterbleiben und erstem traumhaftem Vorfrühlingsahnen. Der fußtiefe Schnee unten auf der Gasse ist körnig schmutzig, mehr Asche als Schnee, von Schlittengeleisen durchfurcht, von Pferdehufen und Menschenfüßen zertreten, das Gleichnis eines einst jugendlich reinen, nun durch den Kot geschleiften Lebens, wie es unser aller Erbteil und Schicksal.

Eine Träne tropft mir warm und schwer auf die vorgestreckte Hand. Woher wohl? Ich weiß es selbst nicht. Vielleicht aus dem Unbewußten. Aus irgendeinem dumpfen Gefühl von Ähnlichkeit mit dem beschmutzten und zertretenen Schnee da unten. Ein tiefes, unterirdisches Weh! Dunkle, wortlose Resignation!

Unsinn das! Ich schüttle es ab, richte mich auf. Mein Blick fällt auf das stolze, reiche Sandsteinportal des zeitumsponnenen Barockhauses mir schräg gegenüber. Wie ein entthronter König scheint es dazustehen, äußerlich noch immer mit fürstlicher Gebärde, – das bronzebeschlagene Haustor, der geraumige, fliesenbedeckte Beischlag, die vier mächtigen Steinkugeln, die oben und unten, rechts und links die Eisengeländer abschließen und krönen, ein Bild des Reichtums, der Würde – und doch im Innern von finsterm Grauen, hoffnungsloser Öde erfüllt: beraubt, geplündert, zerstört. Die Gardinen von den Fenstern sind fort. Die schwarzen Scheiben stieren mich wie unergründliche Totenaugen an. Der dort hauste, ihnen Leben gab, ist verschwunden, schwimmt auf dem Weltmeer auf Nimmerwiedersehen. Die Familie ausgetrieben, ins Dunkel getaucht, wird nie mehr heraufkommen. Alles leer dort drüben, alles zu Ende!

Mir ist, als fehlte mir etwas. Vielleicht der Feind, den ich hassen kann? Die fremde Flamme, die ich brauchte, um die eigene daran zu entzünden? Und starb nun, da sie erlosch, auch das eigene Licht? Ärmster du! Bist du so arm, daß du sogar nach dem Haß, nach der Feindschaft greifst, um zu leben? Aber gehört nicht eines wie das andere, Feindschaft wie Freundschaft, gleicherweise zum Leben, und betrügt sich nicht, wer seinen Feind austilgt, um einen kostbaren Teil seines Selbst? Denn nichts ist umsonst auf der Welt. Auch nicht befriedigter Haß. Ein Inhalt weniger. Eine Verarmung mehr. Ein kaltes, graues Gefühl wie von Abendwerden, gleich dem sinkenden Wintertag da draußen, will über mich kommen.

Fort damit! Ist nicht gerade heute ein Tag neuen Werdens, jungen Beginnens, frischen Aufsteigens? Karola zum erstenmal in einer tragenden Rolle vor dem Publikum! Sie hat sie mir vorgesungen. Ich habe sie spielen sehen, weiß, was sie kann. Wenn die Götter ihr günstig sind, ihr den verliebten Mutwillen, die schalkhafte Grazie, das beflügelte Temperament leihen, wie damals hier in den vier Wänden meiner Kirschbaumstube, und wenn die süße, schmeichelnde, glockenhelle Stimme dies alles von der Bühne ins Parterre hinausträgt, so hat sie gewonnenes Spiel, ihr Weg ist gemacht.

Und dann? Was dann? Worin liegt der Vorteil für mich? Ist es die Sängerin, die ich ersehne, begehre, zu der es mich treibt? Deren Triumph der meine wäre, deren Glück auch das meine bedeutete? Ist es nicht vielmehr das Weib, rein und ausschließlich das Weib, nach dem ich mit allen Sinnen verlange, das mich bis zur Hilflosigkeit fesselt, von dem ich auf Leben und Tod nicht lassen kann? Sängerin! Weib! Gewiß, wer will die beiden, die eines sind, voneinander trennen? Wird es nicht immer das Weib sein, das in der Sängerin über die Menge triumphiert, und ist es nicht umgekehrt vielleicht doch die Sängerin, die ich unbewußt wieder im Weibe liebe, dies Theaterblut, dies Zigeunertum, was mich so sehr an ihr anzieht, mich nicht loskommen läßt? Aber was nützt dann ihre Erhöhung, ihr Erfolg, ihr Triumph mir, gerade mir? Dies das einzige, das letzte von ihr, was noch mir gehörte, mir allein. Und jetzt auch das Allgemeingut, wie sie es als Weib (es klingt hart, aber Wahrheit tut not!) schon von jeher war? Also ist es nur sie, die heute abend profitiert, und ich bin es, der verlieren wird! Die Trümpfe sämtlich auf ihrer Seite, in diesem unbarmherzigen Hasardspiel zu zweien, bei dem Tod und Teufel die Karten mischen!

Sie umworben, gefeiert, sozusagen noch auf ein Piedestal gehoben, zu dem jedermann Zutritt hat, der den Obolus zahlt? Und ich der Düpierte, der geduldig dabeisteht und zusieht? Himmel und Hölle! Was erwartet mich? ...

Der Abend ist da. Durch die engen Pforten des alten, baufälligen Musentempels schiebt und stößt sich eine sonntägliche, erwartungsfrohe Menge. Die Gasflammen der verräucherten Vorhalle flackern im hereinstreichenden Zugwind, wie die Türen sich öffnen und wieder zuschlagen. Vor dem Eintreten in meine Loge gewahre ich in nächster Nähe meinen Freund, den Direktor, der eifrig auf den Rezensenten des »Intelligenzblattes« einspricht und mich nicht zu bemerken scheint. Unwillkürlich beuge ich in dem Gedränge, das den schmalen, gewundenen Gang vor den Logentüren füllt, meinen Kopf etwas vor, und es gelingt mir, noch die letzten Sätze des Direktors aufzufangen, mit denen er sich von dem Rezensenten verabschiedet.

»Also, wie gesagt, Liebster! Ich wasche meine Hände in Unschuld. Sagen Sie das Ihren liebenswürdigen Lesern, wenn der Karren in den Dreck fährt. Die Kleine singt die Partie auf eigene Verantwortung. Es geschieht nur dem Publikum zuliebe, daß ich die Vorstellung nicht absage. Aber wenn es heute von der Galerie faule Eier regnet, ich stelle mich nicht hin und fange sie auf. Da sei Gott vor, Liebster! Möge jeder seine Sch...e allein ausbaden!«

Das letzte Klingelzeichen ertönt. Lachen und Schwatzen verstummen. Sitzeklappen, Räuspern, Husten. Endlich Stille im Hause. Das Orchester setzt ein. Ich habe mich in die dunkelste Ecke meiner Loge gedrückt und halte die Augen geschlossen. Noch folgen meine Ohren den ersten Sätzen der Ouvertüre, lassen sich von Flöte und Klarinette umschmeicheln, horchen auf den Ruf der Hörner und Trompeten und lauschen dem Gesang der Violinen. Aber nicht lange! Dann beginnen die Gedanken abzuschweifen, erheben sich, wie von Schwingen getragen, und fliegen hinaus in den blauen Äther, ins grenzenlose Weite. Das bin nicht ich mehr, an dem die irdische Schwere wie ein Bleigewicht hängt. Das ist eine jubelnde Seele, im Weltraum verloren, ohne Begriffe, ohne Worte, ohne Ziel und Zweck, nur noch Anschauung, reines Gefühl, nichts als inneres Auge und inneres Ohr, eine Lerche in fernsten Höhen, die kein Blick mehr sieht, die man nur wie aus der Unendlichkeit her jauchzen hört, ein weltentrücktes Wiegen, Schaukeln, Gleiten, Schweben. Und die Töne aus der Tiefe mischen sich mit dem Jubel in der Höhe, werden zu einem und demselben unbegrenzten Meer von Licht, Farbe, Klang, gleichsam ein beseeltes, leuchtendes, tönendes Chaos, in dem jedes Einzelwesen, alle Sondergestalt untergegangen ist, nur noch ewige Schönheit, unendlicher Wohllaut fluten.

Feurige Akkorde rauschen auf. Noch einmal singen die Violinen, weinen die Flöten, ein kurzes Abbrechen, Aufklopfen, der schwere Vorhang, der das Bild des Rathauses mit der Langenmarkt-Perspektive zeigt, rauscht in die Höhe. Während Leporello sein fragwürdiges Los an der Seite Don Juans besingt, ist meine Seele hart und schwer auf die Erde zurückgekehrt. Die Erwartung, Spannung, Aufregung, das Fieber, das mir seit Mittag in den Knochen frißt und jetzt für eine Weile durch die Zaubertöne der Ouvertüre beschworen schien, ist wie von neuem angeblasen und beginnt wieder zu lodern. Es kocht mir im Magen, steigt wie eine warme, tintige Flut in mir auf, sackt sich wie ein dickes, schweres Federbett auf die Brust, läßt den Atem stocken und das Herz fliegen, ist überall und nirgend, wie ein Gespenst, das einem bei jeder Bewegung von hinten über die Schulter guckt, und das man doch nicht fassen, nicht halten, nicht zur Rede stellen kann.

Was wird werden? Sieg oder Abfall? Glück oder Niederlage? Und wessen Glück, wessen Niederlage? Wäre ihr Mißerfolg nicht auch der meine? Und ihr Erfolg? ... Ach, eines so schlimm wie das andere! Und beides gleich unaufhaltsam. Die Kugel ist aus dem Rohr. Wer kennt ihre Bahn? Und wer vermag sie noch zu bestimmen?

Die Erinnerung schwingt sich zurück zu dem Schicksalsabend in K., draußen unter den Linden im Vorstadtgarten. Die Öllaternen flackern. Biergläser klappern. Dann und wann ein welkes Blatt, das sich aus den Baumkronen löst und lautlos zu Boden sinkt. Ich höre die Triller der Frau Direktor, sehe die geschwungenen Beine, den Parademarsch ihrer Mädchengarde. Wer ist die geschmeidige, graziöse Gestalt, die dort hinten etwas verdeckt steht, mit den fein modellierten blendenden Schultern und dem welligen aschblonden Haar? Ein schneller, scharfer, tiefer Stich wie mit einem glühend heißen Messer durchfährt mich. Gewesen das alles! Unwiederbringlich vorbei! Ist es nicht, als läge ein Jahrhundert dazwischen? Unsagbares habe ich seitdem erlebt, erlitten! Und doch, was gäbe ich nicht darum, es noch einmal so zu erleben und zu erleiden! Unersättliches Menschenherz! Unersättlich sogar in der Selbstzerfleischung!

Das Fieber der Spannung wächst, diese warme, brodelnde See da innen, die schwerfällig gegen ihre Ufer klatscht und den Atem beklemmt. Die Szene draußen hat sich gewandelt. Der Dorfplatz, der Gasthof, kletternde Rosen und Weinlaub, im Hintergrund Don Juans Edelsitz (warum fällt mir Adalbert Hempels einstiges Haus dabei ein?), eine weite südliche Landschaft, Zypressen, blaue Höhen. Leporello und Don Juan (wieder muß ich an Adalbert Hempel denken!) stehen sich in der Morgenhelle gegenüber, der eine den anderen auszankend, beide einander wert. Schon ist Zerlines Erwähnung getan, ein artiges Abenteuer mehr für den gierigen Heißhunger des ewig Unbefriedigten, wie von Dämonen Gepeitschten. Mein Herz klopft hörbar gegen die Rippen, die braune schwerflüssige Flut scheint gegen das Zwerchfell zu steigen und die Brust einzuengen. Wie im Traum ziehen die Auftritte an mir vorüber, Elviras Klagen, Bitten, Racheschwüre, des Verführers höhnisch übermütige Feuerrhythmen, Leporellos Schalksgeklingel ...

Der Moment ist da. Zerline und Masetto treten Hand in Hand aus der Schenke. Der Chor umringt sie, der Bauerntanz jauchzt auf, fiedelt, kreischt und hüpft. Ich sehe die, ach! so wohlbekannte zierliche, schmiegsame Figur, rotes Mieder, blauen Rock, der kurzgeschürzt die feinen Knöchel, die ebenmäßigen Waden freiläßt, sehe die schlanken Arme, die mich so oft umschlossen, mich mit ihrem Duft berauscht, mir Sinn und Verstand geraubt haben, dieses einzige, entscheide zückende, unausdeutbare Drum und Dran, diese Atmosphäre von Schelmerei und Sinnlichkeit, alles, was so absolut einmalig und unvergleichlich auf der Welt für mich ist! Das feine, mädchenhafte Gesicht ist trotz Puder und Schminke merklich blaß, aber aus den dunkelgrauen Augen blitzen Mut und Selbstvertrauen. Die ersten Töne quellen auf, etwas schüchtern, zurückhaltend noch, aber süß, rein, klar im Ansatz.

Liebe Schwestern, zur Liebe geboren ...

Da hält es mich nicht länger. Mir ist, als wolle ein Sprengpulver meine Brust auseinandertreiben. Ich stehle mich auf den Zehenspitzen aus der Loge, drücke geräuschlos die Tür hinter mir zu, bin draußen auf dem Gang, wo hier und da eine Logenschließerin über ihrem Strickstrumpf nickt, fühle die Zugluft, die sanft und lösend über meine brennenden Schläfen streicht, irre durch die gähnende Vorhalle, hinaus in die schwarze, feuchtkalte Winternacht, ziel- und planlos, ohne Hut und Mantel, und doch glühend heiß, keines Frostes bewußt, nur mit dem einen Gedanken: Fort, weit, weit weg vom Ort der Entscheidung! und fast in einem Atem wieder geheimnisvoll von ihm angezogen, wie der Verbrecher die Stätte seiner Tat gleichzeitig meiden und aufsuchen muß.

Minuten sind vergangen, die mir Stunden scheinen. Meinen Leib fröstelt es nun doch. Meine Seele ist längst von dannen, umkreist den dörflichen Schauplatz, das Pastorale da innen, verfolgt das Getändel von Braut und Bräutigam, Don Juans stürmisches Liebeswerben und Zerlinchens nur allzu williges Gewähren. Was tue ich noch hier draußen? Muß nicht schon alles entschieden sein, so oder so? Fast unbewußt und doch mit dem innern Auge jede Einzelheit verzeichnend, lasse ich mich von meinen Füßen wieder ins Freie tragen, durch Gänge, Türen, Gewinkel und Gerümpel. Bunte Kostüme leuchten aus dem Halbdunkel auf, Stimmen schmettern, noch unterscheide ich nicht, wer, was, woher, atme nur die wohlbekannte Kulissenluft, dies geliebte Parfüm, das mir die Sinne wie Haschisch aufpeitscht, Firnis, Schminke, Holz, Leinwand, Moder und Weiberfleisch in betäubendem Gemisch.

Vor den Augen wird es heller. Ich stolpere, taste, sehe, unterscheide. Rechts, links, vorwärts, gradaus, zurück, geschoben, aufgehalten, beiseite gedrückt, weitergegeben wie ein Ballen: ehe ich's denke, stehe ich in der ersten Kulisse, drei Schritt von mir agieren Zerline und Don Juan auf der Szene, aus dem Orchester fiedeln die Geigen, grunzen und quäken Fagott und Oboe, gellen die Bläser.

Reich' mir die Hand, mein Leben,
Komm' in mein Schloß mit mir!

Don Juan lockt, wirbt, Zerline flieht, bleibt, möchte sich sträuben, läßt sich, wie gern doch! betören. Wie mühelos die Töne ihr aus der Kehle dringen! Wie unbefangen das alles klingt! Wie natürlich, wie selbstverständlich! Kenn' ich dich wieder, Ungetreue? Spielst du dich selbst? Deinen eignen, ewigen Verrat? Vielleicht die Falschheit deines ganzen Geschlechts? Ahnt jemand von allen denen, die dort unten mit angehaltenem Atem sitzen, sich nicht zu rühren wagen, daß in Zerlines Bild dein eigenes sich spiegelt?

Das Fieber in mir ist erloschen wie eine ausgetretene Flamme. Nur tief unten schwelt und glüht noch etwas, aber das kommt nicht auf, muß unter der Asche verglimmen. Ich bin ganz kalt und klar, bin imstande, mich selbst und die Situation ruhig und unparteiisch zu übersehen. Kein Zweifel! Karola hat gesiegt. Die Spannung, die atemlose Stille dort unten beweist es. So sitzt nur ein gänzlich bezwungenes und gebändigtes Publikum da, so mäuschenruhig.

Zerlinchen hat der Taumel erfaßt.

Wohlan! So dein zu sein auf ewig ...

Jauchzend, jubelnd steigt es aus ihrer Brust. Das flatterhafte Herz scheint stürmisch zu schlagen. Etwas Hinreißendes, besinnungslos dem Augenblick Ergebnes, wie ich es so gut an ihr kenne, trägt sie davon gleich einem Zaubermantel. Mit vorgestreckten Armen, zurückgeworfenem Kopf fliegt sie dem Verführer an den Hals. Ein Teil des Haares hat sich gelöst, fließt frei über Nacken und Schultern. Ganz wie auf dem Medaillonporträt, das der alte Maler von ihr gemalt! fällt mir ein. Sie merkt es nicht, hat die Arme um Don Juan geschlungen, jubelt:

So dein zu sein auf ewig,
Wie selig werd' ich sein!

Eine Salve des Beifalls, einmütig, spontan, wie auf Kommando abgefeuert, platzt aus dem Parterre herauf. Rufe ertönen. Zerline und Don Juan verneigen sich, Hand in Hand. Das hat gezündet!

Ich lehne mich erschöpft gegen den Holzrahmen hinter mir. Draußen ist Elvira erschienen. Das Spiel nimmt seinen Fortgang. Ob Karola mich in der Kulisse bemerkt hat? Mir ist, als hätte ich soeben einen fragenden, suchenden, hoffenden, triumphierenden Blick von ihr aufgefangen. Die Gedanken kreuzen sich im Hirn. Und wenn es nun wirklich das Weib überhaupt wäre, was sie da spielt, nein, was sie ist? Die Zerlinennatur in jeder, die von Evas Stamm? Dies Lieben und Betrügen in einem Atem? Dies Schwanken vom einen zum andern, selbst noch am Hochzeitstag und darüber hinaus? Dies selbstverständliche schnellbereite, schuldig schuldlose Schwören, Lügen, Verleugnen, Sichhingeben und Vergessen, das mit dem besten Gewissen von der Welt die schlimmsten Dinge verbricht, und dem selbst der ewige Richter, wenn es ihn gäbe, verzeihen müßte, denn wer viel geliebt hat, dem soll viel vergeben werden? Also warum nicht ich? Was gibt mir dann das Recht, zu zürnen? Eine warme Woge des Mitleids, tiefsten Verstehens und Begreifens, letzter, innerster Einsicht in den Weltlauf und das Geschehen der Dinge, durchflutet mich. Nein, nicht zürnen! Begreifen und verzeihen! Es ist das Weib selbst, das da draußen auf der Szene spielt, liebt, betrügt, lacht und betört, die unabänderliche Natur des Weibes selbst! Aber ist nicht auch meine Natur, die des Mannes, schließlich ebenso unabänderlich? Und wenn nun die beiden Naturen zum letzten, entscheidenden Kampfe gegeneinander aufstehen? Zum Kampf, der mit Lächeln geführt wird und den Tod in sich trägt? Was dann? ...

Die Auftritte ziehen vorüber. Karola ist abgegangen, steht drüben in der Kulisse, neben ihr steht Masetto, beide ihres Stichwortes harrend, in eifrigem, fast erregtem Geflüster, wie ich sehe. Wer ist das doch, der den Masetto spielt? Noch habe ich nicht Zeit gefunden, darüber nachzudenken. Aber jetzt fällt es mir plötzlich ein. Dall'Orto, der jugendliche Komiker und Baßbuffo, derselbe, der Karola den Heiratsantrag gemacht haben soll! Ich habe nichts mehr davon gehört. Aber es wird wohl so sein. Wie er auf sie einspricht, ihr Vorwürfe zu machen scheint! Das ist keine gemimte Erregung, etwa ein schnelles, nochmaliges Durchgehen der bevorstehenden Szene. Das scheint wirkliches Leben zu sein, echte Eifersucht, was sich auf dem verzerrten Gesicht des blassen, hellblonden Menschen abspielt. Also auch er, mein Nebenbuhler sozusagen, wenn das Wort nicht so lächerlich wäre, er ebenfalls zum Narren gehalten! Zwei Narren hier um das eine lachende, lockende, zaubervolle Menschenbild! Wer weiß, wie viele noch unten im Parterre! Ist es nicht, um sich auszuschütten?!

Und die Eifersuchtsszene setzt sich aus den Kulissen auf die Bühne fort. Aus dem wirklichen wird gespieltes Schmollen, im gespielten eifert wirklicher, ernstgemeinter Zank. Ich höre deutlich, wie er aus dem gesprochenen Dialog nachgrollt, das Spiel zu verdoppeltem Leben steigert. Zerline, die zu versöhnen sucht, Masetto, der den Erzürnten macht. Sie rechts, er links, sie wieder links, er rechts, ein Suchen und Nichtfinden und So-gern-gefundensein-mögen! Ist es nicht, als ob ich selbst da auf der Bühne stände, den Masetto vorzustellen hätte? Der blasse, blonde junge Mensch mit dem verkniffenen, zerwühlten Gesicht, das bin ich! Mir gilt ihr Flehen, Bitten, Beschwören! Wie unwiderstehlich drollig (ich kenn' es wohl!) sie zu bereuen weiß! Aus dem Parterre knattert helles, fliegendes Lachen. Es klingt wie Kleingewehrfeuer nach der Massensalve von vorhin. Recht so! Euch hat sie nun auch umgarnt! Schon dringen die Töne der Beschwichtigungsarie an mein Ohr.

Schmäle, tobe, lieber Junge: Sieh!
Zerline will mit Freuden
Wie ein stummes Lämmchen leiden,
Nur verzeihen sollst du ihr!

Wie das rein, süß, klar aufperlt! Wie die Triller und Läufe gleich bunten, schillernden Seifenbläschen emporsteigen, ein Weilchen hingaukeln, leicht und körperlos, und am Ende ins Nichts verschweben! Spiel alles! scheint ihr beschwingtes Kommen und Gehen, ihr flüchtiges Aufblitzen und Verschwinden zu sagen. Spiel euer Lachen und Weinen, euer Leben und Tod! Spiel ihr selbst sowie wir! Nichts anderes als Spiel! ...

Nur nicht maulen, nur nicht grollen!
Nur nicht grämeln, nur nicht schmollen!

Lächelnd, tänzelnd, in den Hüften sich wiegend, kommt sie näher. Im zierlichen Menuettschritt sind die Füße gestellt. Bald gibt es kein Ausweichen mehr für mich. Aus dem Orchester girren die Geigen, locken die Flöten und Schalmeien. Ist es nicht, als hörte ich die Silbertöne meines Spinetts im Kirschbaumzimmer, von Karolas Fingern angeschlagen, und sie selbst käme trällernd dahergeschritten, sie, die Übermütige, die himmlisch Leichte, die wie Sternenlicht Ungreifbare, allen Gemeinsame, und sie faßte meine Hand, beugte sich über mich, lachend, gaukelnd, schwebend, und wiederholte noch einmal den Refrain:

Schmäle, tobe, lieber Junge: Sieh!
Zerline will mit Freuden
Wie ein stummes Lämmchen leiden,
Nur verzeihen sollst du ihr!

Entzückt, hingerissen breite ich meine Arme nach dem wonnevollen Menschenbild aus. Mit dem weichen, sinnlichen, aufpeitschenden Lächeln, das mich taumeln macht, sinkt sie mir an die Brust.

Aus dem dunkeln Loch des Parterres, das seitwärts vor meinen Augen dämmert, schallt, braust, stürmt es herauf. Ich fahre mir über die Stirn, schlage wie aus einem Traum die Lider auf. Bin das ich, der hier an der Kulissenwand lehnt? Oder bin ich der andere, der dort draußen auf der Bühne steht, Karola im Arm hält, sich auf die Lippen beißt, mühsam seine Erregung, seinen Groll zu verkneifen sucht? Ich lasse meine Hand an mir heruntergleiten, zupfe mich am Ohr. Langsam kehren Besinnung, Unterscheidung wieder.

Der Applausdonner von unten hält noch an, während Zerline sich aus Masettos Armen löst und schalkhaft anmutig sich vor dem Publikum verneigt. Auch neben mir in der Kulisse wird heftig geklatscht. Ich sehe nicht hin, wer es ist, höre nur eine sonore, pathetische, offenbar redegewandte Stimme:

»Bravo! Bravo! Das hat eingeschlagen! Beim Bart des Propheten! Das ist Blut, Leben, Rasse!«

Und eine andere, wohlbekannte Stimme, die des Direktors, antwortete mehr aus dem Hintergrund, aber noch deutlich vernehmbar:

»No? Habe ich's Ihnen nicht gleich gesagt, Liebster, Teuerster, die Kleine macht ihre Sache? Ein alter Theaterhase wie ich kennt seine Pappenheimer. Denken Sie, ich habe die Kleine dem Kollegen Israelski in K. umsonst abgeknöpft? Auf meine Verantwortung hat sie heute die Partie gesungen. Sagen Sie das aller Welt! Wäre ich nicht gewesen, so hätten wir heute auf der deutschen Bühne ein Soubrettentalent weniger zu verzeichnen! Erzählen Sie das nur in Ihren Kreisen, liebster Märchenschön! Sonst geht am Ende noch mein Kapellmeister, das Rindvieh, herum und behauptet, er wäre es gewesen!«

Alles ist zu Ende. Der zweite Akt hat Karolas Erfolg besiegelt. War es im ersten vor allem der süße Wohllaut der Stimme, der, von glücklicher Schulung getragen, sich in die Ohren schmeichelte, so bezwingt im zweiten die hinreißende Munterkeit, die Liebenswürdigkeit und Schelmerei des Spieles alle Herzen. Wie unwiderstehlich drollig weiß sie an dem Windbeutel und Pechvogel Leporello Rache zu nehmen, nun wieder ganz Höhe und Majestät beleidigter Frauenwürde! Wie lustig und überlegen, eine schwer gekränkte Unschuld (o Eva! o Schlange!), liest sie dem armen zerschundenen Masetto die Leviten und läßt, um ihn in seinem Jammer zu trösten, noch einmal alle Zauberkünste ihrer Stimme spielen, läßt ihre perlenden Läufe und Triller, diese bunten, schillernden, flüchtigen Seifenblasen, aufsteigen, gaukeln, verschweben.

Der Vorhang hebt sich, senkt sich, hebt sich, wie eine Kaskade. Karola steht vom Jubel des Hauses umbraust da, ganz Glück, ganz Seligkeit, ein neu entdeckter Stern, und kann sich nicht genug vor dem unermüdlich klatschenden Parterre, vor dem Bravo der Logen, dem Sturm der Galerie verbeugen, bis endlich das Erlöschen der Lichter die letzten Enthusiasten aus dem Theater treibt.

Karola ruht abwechselnd am Busen der Pellerini, der Friseuse, der Garderobiere und wiederum der Pellerini, empfängt dazwischen die Glückwünsche der erfreuten Kollegen, der überströmenden Kolleginnen, einiger hereingedrungener Theaterhabitués, zu guter Letzt des feierlich heranschreitenden Direktors, und eilt nun, nachdem der erste Rausch sich gelegt hat, spornstreichs in die Garderobe, um sich Hals über Kopf umzukleiden und abzuschminken, während der Direktor, Jupiter-Majestät auf den pechschwarzen Brauen, auf mich zutritt und mir mit königlicher Gebärde seine Rechte hinhält:

»No? Was habe ich Ihnen prophezeit, Liebster, Bester? Wir werden sehr viel Freude an der Kleinen haben! No? Was sagen Sie jetzt? Bin ich ein Prophet im Vaterlande oder nicht?«

Nach wenigen Minuten ist Karola, demaskiert und verbürgerlicht, wieder bei mir, fliegt mir an die Brust, schlingt die Arme um meinen Hals, ganz so, wie sie es vorhin mit Don Juan und Masetto getan. Aber nur auf einen Augenblick. Dann scheint sie sich zu besinnen, sieht sich scheu um, zieht mich fort. Während wir über die halbfinstere Hinterbühne dem Ausgang zustolpern, bemerke ich eine dunkle männliche Gestalt, mit heraufgeschlagenem Rockkragen, tief hereingedrücktem Schlapphut, die an der Wand lehnt. Unwillkürlich fällt mir die lauernde Erscheinung auf, ich stoße Karola an, will sie aufmerksam machen.

»Pst! Still!« flüstert sie und hängt sich, wie hilfesuchend, fester in meinen Arm. »Sage nichts! Das ist ja mein Komiker, mein Masetto, der mir den Antrag gemacht hat. Schnell fort! Wir dürfen ihn nicht reizen. Sonst schießt er mich am Ende noch tot.«

Wir stehen draußen auf der Straße. Feuchter Nebel rieselt herab, netzt die Wangen, dringt durch die Kleider in alle Poren des Körpers. Von den Türmen der Stadt schlägt es neun Uhr. Ein Durcheinander von hellen und dumpfen Schlägen, die in greller, äußerer Dissonanz, aber tief innerlichem Einklang wieder einen zurückgelegten Schritt im Reigen der Unendlichkeit ausrufen, während sich singend, leiernd, bimmelnd, klagend die Töne des Glockenspiels von Sankt Katharinen aufschwingen und über Dächer und Türme und über das Gewirr der schlagenden Uhren die alte gläubige Melodie hintragen:

Befiehl du deine Wege,
Und was dein Herze kränkt,
Der allertreuesten Pflege
Des, der den Himmel lenkt.


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