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Das war also das Rezept. Sich eine andere suchen. Gift mit Gegengift kurieren. Vielleicht hatte Schwarzwald recht. Aber woher das Gegengift nehmen? Wie etwas finden, das meinem süßen, blonden, treulosen Schatz standhalten, ihn gar aus dem Felde schlagen konnte?
Der Zufall schien mir zu Hilfe zu kommen. Als ich des folgenden Mittags nach langer Pause wieder am Ratskellertisch saß, wo zur Börsenstunde noch immer die alte Runde tagte und der üblichen Unterhaltung pflog, fiel von irgendeiner Seite der Name eines Mädchens, das mir bekannt war. Sie hatte in einem großen Modewarenhaus an der Langgasse als Probiermamsell konditioniert und war augenblicklich außer Stellung. Ich erinnerte mich ihrer jugendlich strotzenden Erscheinung, dieses blühenden, prangenden und doch maßvoll gebändigten Fleisches wohl. Sie hatte, ehe noch Karola in mein Leben getreten war, öfters meine Aufmerksamkeit beim Nachhausegehen erregt. Vor allem der kräftig ausschreitende und doch elastische, in den Hüften sich wiegende Gang, der das einladende Spiel ihrer Formen anschaulich zur Geltung brachte.
Jemand meinte, man werde ein gutes Werk tun, wenn man sich ihrer annehme, da sie wegen irgendeines Versehens entlassen sei und es ihr schlecht gehe. Weihnachten sei außerdem vor der Tür, weshalb es der liebe Gott dem edlen Wohltäter gewiß doppelt lohnen werde. Eine verständnisinnige Heiterkeit der Tafelrunde quittierte über den zweifelhaften Witz. Ich notierte mir unter der Hand die Adresse, über die jener ältere Biedermann besten Bescheid wußte, und schickte noch am selben Nachmittag Klaus mit einem Billett in die entlegene Vorstadtwohnung des Mädchens. Ich hätte von ihrer augenblicklichen Verlegenheit durch den und den gehört, schrieb ich, und sei vielleicht in der Lage, ihr zu helfen.
Klaus kam zurück und brachte mündliche Nachricht, das Mädchen lasse submissest danken und werde gegen Abend sich vorstellen kommen. Als er hinausging, spielte wie unter einem durchsichtigen Schleier ein diskret anzügliches Lächeln um seine tiefen Mundfalten, in die alles Ungesagte und Verschwiegengebliebene einer vieljährigen Dienerexistenz eingegraben zu sein schien. Ich glaubte daraus zu entnehmen, daß auch er, wie Schwarzwald, sich von dem Prinzip, Gleiches mit Gleichem zu heilen, eine Besserung, vielleicht Genesung seines Herrn verspreche, dessen zunehmenden Verfall er ja aus nächster Nähe beobachten konnte.
Pünktlich um sechs wurde der seidene Afghanistan zurückgeschlagen, der während der Abendstunden aus Gründen der Behaglichkeit den hinteren Teil meiner Bibliothek von dem vorderen, wo sich der Schreibsekretär befand, abschloß, während ich ihn bei Tage meist offen ließ und den ungeteilten Raum in seiner ganzen Tiefe benutzte. Unter dem Vorhang stand das Mädchen, hinter ihr in abwartender Haltung Klaus. Ich saß auf dem Sofa bei der Lampe und hatte, wie ich die beiden da von der satten Buntheit des Afghanistan sich abheben sah, einige Momente lang die Illusion eines morgenländischen Scheichs, dem von seinem Obereunuchen eine neue Sklavin vorgeführt wird.
Gleich darauf mußte ich innerlich über mich selbst lächeln. Wie weit auseinander lagen doch Phantasie und Wirklichkeit! Ich, der nicht einmal imstande gewesen war, mir den Besitz von Karola zu erhalten, bildete mir ein, so etwas wie Sultan spielen zu können! Und doch! Warum nicht? Weshalb sollte, was im einen Falle mißlungen war, nicht im anderen glücken? Lag nicht schon eine Art von Lust darin, für die Niederlage, die ich wieder einmal vom weiblichen Geschlecht erlitten hatte, mich nun mit einem billigen Triumph schadlos zu halten? Vielleicht kam auf diesem Gebiet alles nur darauf an, kaltes Blut zu bewahren, sich nicht hinreißen zu lassen, bei Besinnung zu bleiben, mit einem Worte, sich nicht zu verlieben, womöglich aber den anderen Teil in diesen Zustand zu versetzen. Wer das am besten verstand, immer den Kopf oben behielt, die Dinge nur von weitem an sich herankommen ließ, der hatte die Trümpfe in der Hand. Das war meine Erfahrung vom Kampf der Geschlechter. Ich hatte sie teuer genug bezahlt. Jetzt konnte ich sie mir nutzbar machen.
Während ich diese Erwägungen sekundenlang anstellte, schickte ich, ohne meine imaginäre Sultansrolle weiter auszuspinnen, Klaus nach Tee und Kuchen fort, und lud das Mädchen zum Sitzen ein. Sie nahm bescheiden auf einer Ecke des Stuhles Platz, faltete die Hände im Schoß und blickte mit niedergeschlagenen Augen vor sich hin, so daß ich Muße hatte, sie mir näher anzusehen. Sie mochte etwa zwanzig bis zweiundzwanzig Jahre alt sein. Meine Erinnerung hatte mich nicht betrogen. Es war in der Tat ein hübsches, blühendes, appetitliches Geschöpf, wohl wert, einige müßige Stunden auszufüllen und später als ehrsame Bürgers- oder Beamtenfrau unter die Haube zu kommen. Aber an einen Vergleich mit der besonderen, prickelnden, einzigen Schönheit Karolas, ihrer zierlichen Pikanterie, ihrer sinnlichen Grazie war auch nicht im entferntesten zu denken. Dieses Gesicht hier hatte, wenn man es schärfer ins Auge faßte, etwas durchaus Gewöhnliches, Gang und Gäbes. Fabrikware der Natur, wie sie tausendfach herumlief, zu Alltagszwecken geschaffen und mit ihrer Erfüllung abgetan. Ein hübsches Dutzendlärvchen, das durch Jugend wirkte, um bald zu verblühen. Karolas feingeschnittene Züge dagegen waren von erlesener, persönlicher, kaum wiederkehrender Art. Man sah ihr an, daß der Schöpfer, als er sie dachte, in Sonntagslaune gewesen, tiefere Absichten mit ihr gehabt. Es war ein Unterschied zwischen den beiden wie zwischen einer flüchtigen, eleganten Antilope und einer jungen, strotzenden Milchkuh.
Da war also keine Gefahr der Leidenschaft. Wenn etwas mitsprach, so war es höchstens die kühle Überlegung der Sinne, die die gebotene Gelegenheit ergriffen.
Käthe – dies war der Name des Mädchens – hatte ihre runden, blanken Augen zu mir erhoben. In ihrem netten, ausdruckslosen Gesicht stand eine Frage, etwa nach dem Zweck ihrer Anwesenheit, zu lesen. Ich mußte unwillkürlich lächeln. Nein, das war hier kein Harem und ich kein Sultan, das war eher wie in einem Gesindekontor! Das Mädchen kauerte noch immer zusammengeduckt auf dem äußersten Ende des Stuhles, in jener ergebenen Haltung von Menschen, die gewöhnt sind, Lasten des Schicksals zu tragen. Ihre glänzenden Kuhaugen blickten mich fragend an. Ich mußte das Schweigen brechen.
»Ich höre, mein Kind, Sie sind aus Ihrem Dienst entlassen. Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein. Was haben Sie denn angestellt?«
»Ich bin an einem Montag zu spät ins Geschäft gekommen. Ich hab' mich verschlafen gehabt. Da hab' ich gleich fort müssen!«
Ihre Stimme klang tief und wohllautend. Das war also ganz sympathisch. Am Ende steckte doch etwas Besseres dahinter.
»Zu spät gekommen?« lächelte ich. »Verschlafen gehabt? Wohl am Sonntag zum Tanzen gewesen? Nicht?«
»Na ja! Wenn Sie's denn wissen wollen! Das ist doch kein Verbrechen! Was hat man sonst?«
Den Ton kannte ich. So ähnlich hätte wohl auch Karola gesprochen. Ich erinnerte mich fast gleichlautender Wendungen von ihr. Aber was mich aus ihrem Munde heiter und anmutig, manchmal unglaubhaft, niemals verletzend berührt hatte, kam mir hier banal und alltäglich vor.
»Man hat also einen Liebhaber?« fragte ich kühl, beinahe scharf.
»Nein, ich bin ganz frei,« erwiderte sie ruhig. »Mir hat kein Mensch was zu sagen.«
»Ist das auch wahr?« forschte ich und fixierte sie durchdringend. »Bei euch Weibern ist ja Lügen wie das tägliche Brot. Ihr lügt, sowie ihr den Mund aufmacht. Warum auch nicht? Es gibt ja noch immer Leute, die dumm genug sind, auf euch hereinzufallen.«
Sie hielt meinen Inquisitionsblick aus, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich fühlte, daß ich bitter geworden war. Aber es machte wohl nichts. In diesen großen glänzenden Kuhaugen war keine Spur von Ärger über einen unbilligen Vorwurf, kein Fünkchen eines aufblitzenden Unmuts zu entdecken. Nirgendwo spiegelte sich in dem runden vollen Gesicht mit der niedlichen Stumpfnase inneres Leben wider. Geduldiges Hinnehmen, Abwarten und Ertragen, ruhige Gleichgültigkeit und Gelassenheit, wie immer das Leben sich äußern mochte, das war es, was man sah. Ein Hauch von unendlicher Langerweile spann um dieses blühende, rosige, einladende Fleisch.
Ein kleiner Seufzer entschlüpfte mir. Was hätte wohl Karola alles auf meine Worte zu erwidern gehabt! Wie hätte sie meinen Angriff zu parieren gesucht, sich widersprochen, abgestritten und je eifriger sie leugnete, um so sicherer alles bestätigt! Das wäre lustig, kurzweilig gewesen. Dies hier war es nicht.
Die Erinnerung an ein Gemälde stieg mir auf, das ich vor Jahren in irgendeiner Galerie gesehen hatte. Eine fette holländische Landschaft. Blanke Kühe standen und weideten, die Sonne schien. Das gab einen sehr friedlichen, sehr nahrhaften und sehr künstlerischen Anblick. Aber wenn man sich vorstellte, daß man persönlich dabei zu sein, es in natura zu erleben hätte, so war das schon weniger erheiternd. Die Augen konnten einem zufallen, sobald man nur daran dachte. So ging es mir mit dem hübschen, üppigen Geschöpf, das hier vor mir saß und frei von Gedankenballast mit stumpf glänzenden Augen ins Leere träumte. Eine leise Schläfrigkeit schlich zwischen uns hin und wider. Die Unterhaltung stockte.
Klaus kam und brachte Kuchen und Tee. Auch eine Flasche Madeira. Ich sah, wie sein beobachtender Blick den Fortschritt der Annäherung zwischen uns beiden registrierte und nicht ganz zufrieden schien. In der Tat, er hatte recht. Was zauderte ich? Weshalb nahm ich nicht, was sich bot? Gelegenheiten wie diese verlangten rasches, entschlossenes Handeln. Warum Erinnerungen nachhängen, Vergleiche anstellen, Unwiederbringliches zurückrufen wollen? In Gottes Namen, vielleicht half der Wein, wenn nichts anderes half!
»Glauben Sie nicht auch, mein Schatz, daß das Leben immer wieder neu ist?« fragte ich, als Klaus mit einem diskret mißbilligenden Kopfschütteln hinausgegangen war, und stieß mein Glas an das ihre. »Immer wieder neu, mit jedem, was es bringt? Daß es unrecht ist, ein Ding am andern zu messen, weil ein jedes aus eigenem Recht da ist, sein Maß in sich selbst trägt, und daß es keinen Einwand gegen Madeira bedeutet, weil auch noch Champagner auf der Welt existiert?«
»Ach, was brauchen wir Champagner zu haben!« meinte sie treuherzig. »Der hier ist gut genug. Er schmeckt so schön süß. Wer nur immer Madeira bekommt!«
»Ja, wer nur immer Madeira bekommt!« wiederholte ich, gerührt und belustigt über so viel Biedersinn, und zog sie mit einer schnellen Armbewegung zu mir aufs Sofa herüber. Sie ließ es ruhig und willig geschehen, wie jemand, der sich in eine stillschweigend abgemachte Tatsache schickt.
Als sie mich um acht Uhr verließ, war wohl in uns beiden ein Gefühl der Erleichterung. Jedes hatte dem andern nur von seiner Oberfläche gegeben, gleichsam nur die Außenwerke der Festung gezeigt. Sie, weil vielleicht nicht viel mehr zu geben und zu zeigen war. Ich, weil vor den Pforten meines Innern das Bild Karolas Wache hielt und keine fremde Einquartierung duldete.
Nichtsdestoweniger – so ist nun einmal das Leben – hätte zwischen uns beiden, einfach aus Gewöhnung, Bequemlichkeit, oder weil jeder Teil seinen Vorteil dabei fand, eine engere Beziehung für eine Zeitlang entstehen und somit Schwarzwalds Ratschlag mir dennoch zur Rettung ausschlagen können, wenn es nicht eben der rätselhaften Macht, die mit verbundenen Augen, vielleicht auch von Natur aus blind, unsere Geschicke lenkt, beliebt hätte, gerade jetzt Karola wieder zu mir zurückzuführen. So tanzen wir wie ausgesetzte Nußschalen oder Papierschiffchen auf den Fluten des Lebens, werden zusammengeschleudert, auseinandergerissen und von neuem zusammengewirbelt, um zu guter Letzt, nachdem uns die neunundneunzigste Woge glücklich an den Strand getragen, von der hundertsten für immer in die Tiefe gezogen zu werden.
Ich will damit – obwohl das Mädchen mich noch zwei- oder dreimal besuchte – die Schilderung dieser Episode abschließen. Ich erinnere mich ihrer weder mit Freude, noch mit Leide, und hätte sie vielleicht vollständig aus meinem Gedächtnis und aus dieser Lebensbeichte gestrichen, wenn sie nicht doch im Zusammenhang mit jenem Ratskellerabend in aller Kürze hineingehörte und neuerdings bewiese, daß es für mich keine Hilfe gab und mein Untergang unabänderlich in den Sternen geschrieben stand.
Dies der tiefere Sinne eines alltäglichen Intermezzos, das im übrigen, um auch dies gleich vorweg zu nehmen, nicht ohne ein tragikomisches Nachspiel für mich geblieben ist. Es hat mich nämlich, wenn anders ich dem Mädchen Glauben schenken darf, was ja niemals zuverlässig zu entscheiden sein wird, es hat mich zum Vater gemacht. Ja, so lächerlich dies meinem dereinstigen Leser und Richter klingen mag, nach allem, was ich hier schon von mir ausgesagt habe, jenes üppige, kuhäugige, phlegmatische Mädchen hat mich zum Vater eines gesunden, kräftigen Knaben gemacht, der heute, wo ich dieses niederschreibe, im Februar 1864, nahezu zweieinhalb Jahre alt ist und alle Aussicht hat, zwar nicht den Namen seines Vaters, wohl aber dessen Blut und Art dereinst auf die Nachwelt fortzupflanzen und als ein wildes, aber lebenskräftiges Reis vom alten Stamm Stobäus der Ahnherr neuer, vielleicht glücklicherer Geschlechter zu werden. Sofortige Nachforschungen, nachdem das Mädchen etwa drei Monate später mir die Kunde von ihrem Zustand gebracht, haben keine Anhaltspunkte für eine andere Vaterschaft als die meine ergeben. So muß ich denn bis zum Beweise des Gegenteils annehmen, daß ich auch hier wie in allem anderen das Opfer eines närrischen, gewissermaßen sich über mich lustig machenden Schicksals geworden bin, das mir Nachkommenschaft von dem Weibe, das ich liebte, versagt hat – wer weiß, ob dies nicht unser beider Leben noch hätte wenden können! –, mir dafür aber Vaterfreuden am falschen Ort bescherte und mich so meine Rolle als Versuchskaninchen seiner bizarren Experimente, richtiger gesagt als dummer August in der Lebenspantomime, bis zu Ende hat durchführen lassen.
Womit denn das Kapitel Käthe Hamann für immer beschlossen sei.