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26

Am Weihnachtsabend in der Frühe erhielt ich mit der Post ein Briefchen zugestellt, an dessen Format und Adresse ich sofort erkannte, daß es von Karola komme. Obwohl ich etwas Derartiges längst vorausgeahnt, alle diese Zeit gleichsam in einer Gewitterwolke gelebt hatte, die sich jeden Augenblick entladen konnte, so war ich jetzt doch so überrascht, als hätte mich wirklich der Blitz getroffen, und ich mußte mein wild klopfendes Herz erst mit einem Glase Wasser zur Ruhe bringen, ehe ich das Siegel aufbrach. Ich ließ meine Blicke einen Moment auf den lange entbehrten Schriftzügen verweilen und genoß den Triumph, daß sie nun doch den ersten Schritt getan und ich es war, der zu warten verstanden hatte.

Aber dieser Triumph hatte mich Monate blutigen Kampfes, heißesten Ringens gekostet, hatte meine ganze Kraft aufgezehrt, während sie ihrerseits wahrscheinlich kaum an mich gedacht, jedenfalls nicht um meinetwillen gelitten und auch jetzt wohl nur aus irgendeinem schnellen Impuls zur Feder gegriffen hatte. So stand es also in Wirklichkeit um Triumph und Niederlage. Doch das überblicke ich erst heute, wo der Vorhang längst gefallen und meine Tragödie aus ist. Aber war es nicht doch immer besser, mit der Binde vor den Augen auf der Bühne zu agieren, zu kämpfen, zu leiden und unter tausend Schmerzen entzückt zu sein, als jetzt im leeren Parkett vor der geschlossenen Gardine zu sitzen, die Mäuse rascheln zu hören und als sein eigener nachträglicher Rezensent kalten Blutes das einst Erlebte zu sezieren? Gäbe ich nicht mit Freuden viele Tage meiner heutigen Nüchternheit hin, wenn dafür eine einzige Stunde holder Täuschung, heißen Selbstbetrugs auf jener einst betretenen und durchmessenen Szene wieder mein wäre? Genug, genug, alter ausrangierter Komödiant! Lerne dich bescheiden und vergessen! Und fahre in der Aufzeichnung deiner »Triumphe« und Niederlagen plangemäß fort!

Ich begann also, Karolas Brief zu lesen, während meine Hände noch immer von der Überraschung zitterten und mein Herz anapästisch dahinflog. Sie schrieb, daß sie mich dringend und womöglich noch heute zu sprechen wünsche, da sie mir etwas sehr Wichtiges zu sagen habe. Wegen ihres langen Schweigens und Nichterscheinens möchte ich ihr nicht böse sein. Aber es seien Gründe, die sie dazu gezwungen hätten und die sie mir nur mündlich mitteilen könne. Sie habe in der Zwischenzeit viel an mich gedacht – warum ich denn nie ins Theater gekommen sei, auch der Direktor habe sich schon gewundert – und bleibe wie immer mit Gruß und Kuß (jawohl! auch Kuß! Sogar einem sehr schönen! Ob ich noch an Zerline und Masetto dächte?) meine treue Freundin K.

Meine treue Freundin K.! Ich mußte laut herauslachen, während gleichzeitig ein Glücksgefühl in mir war, wie seit langem nicht. Sprach nicht die ganze und echte Karola aus jedem Wort des Briefes? Das schillerte nur so von Unwahrscheinlichkeit, prickelte von Geheimnis und Spannung, die sich wohl, wenn man näher zusah, wie die Bläschen im Glase Wasser in Luft auflösen würden, schließlich aber doch erst die eigentliche Pikanterie hineinbrachten. Und dann: wer weiß! Vielleicht hatte sie mir wirklich allerhand zu sagen, was mich interessieren, mir Aufschlüsse geben konnte. Es war ja so manches inzwischen geschehen. Unaufgeklärtes genug, in dessen Mittelpunkt sie stand. Davon würde ich jetzt den Schleier lüften. Würde sprechen, fordern, Bedingungen stellen. Das kreuzte sich hundertfach in meinem Hirn, wurde aufgegriffen, verworfen und von neuem bedacht. Aber war es im Grunde nicht völlig gleich, ob so oder so, da ich ja doch von vornherein überzeugt war, nichts von dem allen festhalten zu können, sobald der Augenblick mich fortreißen würde?

Ein Chaos von Tönen, Bildern, Gesichten, mir selbst ungreifbar, undeutbar, ganz und gar unentwirrbar, quoll durch meine Seele, und nur eine einzige Melodie sang klar und silberhell über dem dunkeln Gewoge, wie die Primgeige über den Kontrabässen: Du wirst sie wiedersehen, sie wiederbesitzen, und eher soll euer beider Dasein in Fetzen fliegen, ehe du sie noch einmal aus den Händen gibst! Zusammengeschmiedet seid ihr vom Schicksal, kommt nie mehr voneinander los, nicht du von ihr, nicht sie von dir, sowie sie es damals vorausgesagt hat! Ob das gut ist oder schlecht, Glück oder Verderben, einerlei! Das Leben ist groß und muß sich erfüllen, wenn auch der einzelne darunter zerbricht, wie die Leiber der Troer unter dem Siegeswagen des Achilleus.

Stundenlang wanderte ich so zwischen meinen Zimmern hin und her, durch die dämmernde Tiefe der Bibliothek, vorbei an den ernsten, stummen Regalen, beladen mit all der Weisheit und Torheit der Jahrtausende, hinüber in die lichte Melancholie der Biedermeierstube, wo im schrägen Glanz der Dezembersonne Strahlenkegel über den hellen Kirschbaumsesseln standen und flimmernde Sonnenstäubchen durcheinander tanzten, als trachte in ihnen der letzte schemenhafte Lebensrest zerstobener Geschlechter zum Licht.

Allmählich verbrauste der Sturm. Eine hohe heroische, gleichzeitig jubelnde und abschiednehmende Stimmung wie von sieghaft gemessen hinschreitenden Trauermarschfanfaren zog in mich ein. Was auch noch kommen, wie immer es über mich verhängt sein mochte, ich fühlte mich allem gewachsen. Ich war auf das Letzte, Äußerste, Unausdenkbare gefaßt. Keine Möglichkeit eines Geschehens, deren Bezirk ich nicht umkreist hatte. Ich war gewappnet wie der Ritter des Märchens, der hinauszieht, das Fürchten zu lernen, und im vorhinein weiß, daß ihm nichts geschehen kann.

So kam die Mittagsstunde heran. Ich hatte die Antwort an Karola niedergeschrieben und schickte Klaus mit dem versiegelten Billett ins Stadttheater. Die Vorstellung fiel heute aus. Es war ja Heiliger Abend. Aber die Probe fand statt, und Karola war bis um eins beschäftigt. Ich hatte mir für die Begegnung mit ihr einen Plan ausgedacht, der von merkwürdigem Reiz für mich war. Ich wollte gleich nach dem Essen zu Pferde nach Z. hinaus, wollte kurz mein dortiges Landhaus besuchen, das dem Leser ja bekannt ist, und dann zu Fuß an die See hinunter, um hier Karola zu erwarten, die mit dem Wagen nachkommen sollte. Wir würden am Strande entlang wandern, vielleicht bis zur Landspitze Falkenhorst, vielleicht noch ein Stückchen weiter, würden den Wagen oben auf der Chaussee hinterher fahren lassen und den Heiligen Abend dann gemeinsam in meinem Landhaus oder, wenn es Karola lieber war, in der Stadt verbringen.

Ich versprach mir von einem solchen Spaziergang in der winterlich frischen, salzigen Meeresluft besondere Erleichterung und Befreiung und war geneigt, einer Aussprache angesichts des unendlichen Horizonts von Himmel und Wasser eine ganz eigene, zugleich lösende und bindende Kraft zuzuschreiben. Ein geheimer Stachel und Reiz waren es dabei noch, zum erstenmal wieder mein Landhaus bei Z. zu betreten und im gelben Saal so mancherlei Erinnerungen aufzufrischen. Hatte ich mich im stillen nicht schon oft genug gescholten, daß ich noch immer nicht wagte, meinen Fuß in das spukhafte Haus zu setzen, wo ich einst den Rausch der Lust und des Grauens bis auf die Neige gekostet hatte? Nun gut! Jetzt wollte ich mich aufraffen und mir selbst beweisen, daß ich ein Mann war, nicht unwürdig des Namens meiner Väter.

Karola war mit meinem Vorschlag einverstanden. Der Wagen solle sie um zwei Uhr abholen und an die von mir bezeichnete Stelle am Strand bringen, wo sie mich zu treffen hoffe. Aber ich müsse auch bestimmt da sein. Sie freue sich sehr. Und ihr Wort darauf, daß sie ebenfalls kommen werde. Das stand in flüchtig hingeworfenen Bleistiftzeilen auf einem Zettel, den Klaus mir von der Probe zurückbrachte, und den ich mit den anderen Briefchen, Billetts und Andenken als Reliquie in meinem Schreibsekretär behütet habe, bis dies alles am Abend von Karolas Untergang aus schon erwähnten Gründen ins Feuer mußte. So komme ich mir heute, nach glücklicher Befreiung aus den Klauen einer plumpen, barbarischen Justiz, vor wie ein König, der beim Einfall des Feindes verteidigungshalber sein Lager mit allem Hab und Gut verbrennt und hinterher zwar gerettet, aber bettelarm auf Trümmerhaufen und Asche sein Leben fristet.

Es war ein milder, sonniger Dezembertag. Der Frost, dessen Einbruch wir früher als sonst zu verzeichnen gehabt hatten, war wieder einer wärmeren Strömung gewichen, die mit dem Nordwest über die See strich, aber nicht wie sonst Regen, sondern nur laue Luft und verschleierten Sonnenschein brachte. Eine Stimmung, unweihnachtlich für das nordische Gefühl, wie aus südlicheren Zonen hergetragen, lächelte über dem herbstbraunen, welligen Heide- und Weideland, das zwischen dem weißen Strandsaum und den schwärzlichen Wäldern am Horizont auf und ab zu wogen schien. Dort nach Westen hin war der Himmel klar und rein, in der blaßgrünen Färbung des Aquamarins. Rostbraune oder dunkelweinrote Flecke auf schwarzem Untergrund zeigten die Stellen an, wo Eichen oder Buchen noch im prunkenden Spätherbstmantel unter entlaubtem Gehölz und Nadelwald standen.

Wandte man sich, so hingen nach Osten zu halbzerrissene, zum Teil gelüftete Dunstschleier auf den weich blinkenden Wasserspiegel der See hinab, hier Durchblicke ins Grenzenlose gewährend, dort im Gegenteil den Blick in nächster Nähe begrenzend und abschließend. Über weite Räume hin opalisierte die See in hellsilbernem und Perlmutterglanz. Dazwischen erstreckten sich lange, dunkle Streifen wie von zugezogenen Vorhängen oder aufgebauten Nebelmauern, ragend, zerklüftet, durchsprengt von schräge herunterlaufenden Lichtschächten. Eine bleiche, phantastische, von innen heraus geheimnisvoll leuchtende und phosphoreszierende Dunst-, Nebel- und Wasserwelt.

Ein ungewöhnlich großer Dreimaster, der trotz der herrschenden Windstille merkwürdigerweise sämtliche Segel aufgesetzt hatte, stand bleich und durchsichtig in einer der Lichtperspektiven zwischen den herunterhängenden Schleiern am Horizont oder eigentlich über dem Horizont, da er das Wasser gar nicht zu berühren, sondern in der Luft zu schweben schien, wie ein in unendlicher Ferne hingezaubertes Riesenphantom.

Sonderbar! dachte ich mir. So müßte der fliegende Holländer aussehen, wenn es ihn gäbe.

Auch die Bauart, die Schiffsmaße, die Form der Segel kamen mir seltsam altertümlich und längst vergangen vor. Aber ich lächelte über mich selbst und verwarf den Gedanken als eine von den Einbildungen, wie ich sie schon an mir kannte. Wahrscheinlich war es die ganze Atmosphäre des Wassers, diese merkwürdig vergrößernde und zugleich körperlos machende Meeresluft, die mich die Dinge ringsum, Nähe wie Ferne, in übertriebener und unwirklicher Weise sehen ließ. Vielleicht kam es auch von der Nachwirkung des soeben stattgehabten Besuches in meinem Landhause, das drüben in einiger Entfernung aus dem Wald herüberschimmerte und in diesem Augenblick ebenfalls etwas Gespenstisches hatte.

Und doch war mir nicht das geringste Auffällige dort begegnet. Klaus, der vorausgeritten war, hatte mich in seiner geräuschlosen und gleichmütigen Art am Gartentor empfangen und mir den Gaul abgenommen. Wir waren die Treppen hinaufgestiegen und den langen Gang hinuntergeschritten, in den selbst das Mittagslicht nur als grauer Dämmerschein durch die Dachluken hereinfiel. Wieder hatten die zermürbten und zerfressenen Dielen unter unseren Sohlen geknarrt, als wollten sie bei jedem Tritt zusammenbrechen, und die Ahnenbilder rechts und links hatten uns gleichsam mit Nasenrümpfen und abgewandten Köpfen zwischen sich hindurchpassieren lassen.

An der Tür des gelben Saales war Klaus stehengeblieben, und ich war behutsam, fast auf den Zehenspitzen, wie jemand, der bei einem hohen Herrn Visite macht, eingetreten. Die gelben Damasttapeten, die seidenen Stühlchen und Sessel, der schwarze Bouleschrank mit den metallenen Intarsien und Ornamenten, das große ovale Deckengemälde im Stile des Tiepolo, wie ein Himmelsauge, aus dem ewige Schönheit strahlt – Venus, die aus den Fluten steigt, von Liebesgöttern umschwärmt –, diese ganze lichte, heitere Grazie des Rokoko: alles war unverändert wie damals, höchstens noch bereichert um den Duft jener unvergeßlichen Liebesstunde, der als ein ferner blasser Hauch um die silbergrauen Sessel zu schimmern, das weiche, kissenbedeckte Kanapee zu umwittern schien.

Und dort über dem Marmorkamin, den Abendfenstern gerade gegenüber, in deren Bezirk einzutreten die Sonnenbahn soeben im Begriff stand, das heimlich Umschlichene, das über alles Gefürchtete, angstvoll Gemiedene. Ich hatte mit einem letzten, entschlossenen Ruck den Hals herumgedreht und beide Augen zugleich auf das Bild geheftet. So ist es uns im Traum zumut, wenn wir etwas Grauenvolles, unbeschreiblich Entsetzliches erwarten, das im nächsten Augenblick geschehen kann, und wir dann plötzlich vor Schreck erwachen, worauf mit einem Schlage alles wieder gut ist und die Sonne uns friedlich auf die Nasenspitze scheint.

Ähnlich fand auch ich, daß jetzt im goldenen Licht der schräg durch den Fensterrahmen hereinlugenden Nachmittagssonne das Bild über dem Marmorkamin völlig gleichgültig und nüchtern auf mich wirkte und weit entfernt war, etwas Schreckhaftes zu besitzen. Der alte Herr stand ruhig und gemessen auf seinen Krückstock gestützt und sah in seiner schattenhaften Grandezza ganz so aus, als ob ihn außer seiner gemalten Welt keine andere mehr kümmerte, am wenigsten die, aus der sein im Kopf nicht ganz richtiger Enkel hier vor ihn hingetreten war. Überraschend war mir dabei seine große Ähnlichkeit, trotz der so verschiedenen Tracht, mit dem Bilde in D., das in meinem Bibliothekszimmer hing. Das hatte mir in meiner Phantasie ganz anders, ja geradezu entgegengesetzt vorgeschwebt. Auch das listige, mokante Lächeln, dessen ich mich doch so deutlich zu erinnern glaubte, war wie weggewischt und überhaupt von der vermeintlichen Beziehung zwischen dem rätselhaften Fremden des Schützenhausballes und dem Bilde hier kaum eine Spur zu bemerken.

Also alles nur Spiegelungen meiner Phantasie! Blasen, die die überhitzte Einbildungskraft geworfen hatte und die jetzt von selbst zerplatzten! Ich hatte im stillen über mich gelächelt, daß ich dergleichen je hatte ernst nehmen können.

Ich stand am Strand, streckte meine Arme steil hinaus gegen die See, die wie ein Hündchen um meine Füße leckte, und trank mit geblähten Nüstern all diese unendliche Freiheit und Weite, die in diesem Augenblick keinem anderen Herrn zu gehören schien, als mir allein. Nirgend, wohin das Auge auch schweifte, war eine Menschenseele zu entdecken. Nicht nach der nahen Landspitze Falkenhorst hin, deren langgestreckter waldiger Rücken in kurzem, scharfem Profil gegen die See abfiel. Nicht auf der anderen Seite, den weißen Strandsaum hinunter, an den Fischernetzen und Strohdächern von Z. vorbei, und hinüber im mächtigen Bogen bis dort, wo der Leuchtturm an der Hafenmündung Wache stand und weiter zurück nach rechts die Türme von D. gerade über dem Horizont auftauchten. Grenzenlose Einsamkeit weit und breit. Nur Scharen von Möwen erhoben sich kreischend vor den Schritten des unerbetenen Strandgängers, glitten ein Stückchen horizontal durch die Luft, gleich einer flach dahinsegelnden Wolke, und senkten sich dann wie in plötzlichem Absturz auf den perlmutternen Wasserspiegel hinab.

Mein »Fliegender Holländer«, der große, fremdartige Dreimaster, war verschwunden. Vergebens strengte ich meine Augen an, um die Dunstschwaden und Nebelmauern, die da und dort gleich Kulissen auf der See standen und die Aussicht abschnitten, zu durchdringen. Wahrscheinlich fuhr er jetzt gerade hinter solch einer Nebelwand dahin, oder er mochte auch schon weit draußen auf hoher See und dem Blick für immer entschwunden sein.

Eben wollte ich ihm ein letztes Lebewohl in die Unendlichkeit nachrufen, als ich ihn zu meiner Überraschung in nächster Nähe, keine halbe Meile entfernt, aus dem sonnenbeleuchteten Dunst wie einen Schatten an der Wand sich abzeichnen und deutlich Kurs gegen die Landspitze Falkenhorst zu nehmen sah. Sonderbar, was er dort wohl zu suchen hatte, wo es doch für Schiffe seiner Größe keinen Hafen, keine Anlegestelle gab, im Gegenteil von den weit hinauslaufenden Sandbänken und Untiefen die sichtliche Gefahr des Strandens drohte? Unwillkürlich faßte ich mich an den Kopf, ob ich es vielleicht wiederum nur mit einem Blendwerk meiner Sinne oder mit etwas leibhaftig Vorhandenem, sei es auch einer Fata Morgana, wie sie öfter hier an der See vorkommen, zu tun hätte. Während ich darüber nachsann und zu keiner rechten Entscheidung gelangen konnte, flog der Dreimaster mit voller Takelage, immer wie in einer Nebelwolke haushoch über dem Wasser, so daß sein Kiel es gar nicht zu berühren schien, geradeswegs auf die scharf vorspringende Nase des Kaps zu, und der Augenblick war abzusehen, wo er an der steinharten Wand oder schon vorher auf der Sandbank in Splitter gehen mußte.

Plötzlich hörte ich von der Landstraße her ein fernes, schnell näher kommendes Wagenrollen. Ich wandte meine Augen von dem unheimlichen Schauspiel des dahinfliegenden Geisterschiffes zu der etwa zweihundert Schritt oberhalb des Strandes vorüberziehenden Chaussee, wo ich zwischen den entlaubten Alleebäumen meine zwei Füchse in raschem Trab sich nähern zu sehen meinte. In der Tat, sie waren es. Jetzt erkannte ich sie deutlicher, erkannte auch die Umrisse meines offenen Halbwagens, den Kutscher auf dem Bock und eine im Sitz zurückgelehnte weibliche Gestalt, die ja niemand anderes als Karola sein konnte.

Mein Herz begann in hastigen Sätzen auszugreifen, beinahe um die Wette mit den beiden Trakehnerstuten, die in gestrecktem Trab ihre schlanken Beine mit den eleganten Fesseln hinauswarfen, sie flüchtig auf den Boden setzten und von neuem in die Luft warfen.

Wenige Schritte vor dem Gehölz, aus dessen Umrahmung die dunkeln Fenster meines Landhauses herübersahen, hielt der Wagen, wie es verabredet war, und Karola – jetzt konnte kein Zweifel mehr an ihr sein – sprang behende heraus. Ich beschloß, so sehr es mich trieb, ihr entgegenzueilen, doch, sie hier, wo ich stand, zu erwarten und alle meine Haltung zu bewahren. Dabei machte ich eine unwillkürliche Wendung nach rechts, gegen die See hin, und erinnerte mich wieder an den sonderbaren Dreimaster mit seinem tollkühnen Kapitän. Was mochte aus ihm geworden sein? War er, wie vorauszusehen, an den Tonfelsen von Kap Falkenhorst gescheitert oder hatte er noch in der letzten Minute das Steuerruder beigedreht?

Meine Augen schweiften in den Seenebel hinaus, der sich jetzt dichter zusammengezogen hatte und nur noch schwache Durchblicke offen ließ. Aber soviel ich suchte und spähte und meine Blicke gleich einem Fernrohr einstellte, nichts war von dem fremdartigen Schiff mehr zu entdecken. Der Nebel hatte es bis auf seine höchsten Masten und Segel verschlungen, oder das Meer es in seinen gründämmernden Schoß zurückgerufen, aus dem es zu einem kurzen Scheinleben emporgestiegen war. So oder so! Man wußte es nicht. Jede Spur seines Seins war in Nebel und Wasser verschollen.

Ich wollte mich gerade wieder nach Karola umsehen, die ja nun schon inmitten der uns trennenden, mit niedrigem Strauchwerk bedeckten Dünen sein mußte, als ich ungefähr fünfzig Schritt von mir, nach Falkenhorst hin, eine männliche Gestalt gewahrte, die langsam und gemessen auf mich zukam. Ich wunderte mich über den unvermuteten Spaziergänger, von dem ich zuvor noch gar nichts bemerkt hatte, sagte mir aber dann, daß er wohl dort aus dem Buchenhag komme, der jenseits meines Landhauses bis nahe an den Strand hinabstieg. So mochte es sich erklären, daß ich ihn jetzt erst erblickte.

Es war ein mittelgroßer ältlicher Mann, der sich beim Gehen mit der Linken auf seinen Krückstock stützte, während er die Rechte auf den Rücken gelegt hatte und dabei in nachdenklicher Haltung den Kopf beinahe bis auf die Brust geneigt trug. Die Kleidung erschien mir als die eines Steuermanns oder Kapitäns, nur von recht altmodischem Schnitt, wie man sie vielleicht zur Zeit der Großeltern getragen hatte. Aber nichts Zäheres und Beharrlicheres als seefahrendes Volk! Dies mochte ein alter, zur Ruhe gesetzter Seebär sein, der sich noch immer nicht von seiner in Ehren getragenen Großvatermontur trennen konnte und hier in der Strandeinsamkeit wie ich spazierend seinen Erinnerungen nachhing.

Übrigens konnte man eigentlich kaum sagen, daß er spazieren ging. Vielmehr schritt er zwar ruhig und gemessen, auch etwas breitbeinig, wie es eben alte Seeleute tun, dabei aber kräftig aus, gleich jemandem, der ein festes Ziel vor Augen hat und es ohne viele Umwege zu erreichen sucht.

Ich wollte den Fremden an mir vorübergehen lassen und blieb mit dem Gesicht zur See stehen, ihn über die linke Schulter weg unmerklich im Auge behaltend, so daß es den Anschein einer rein zufälligen und unabsichtlichen Begegnung haben konnte. Der Fremde nähert sich mit bedächtigen, ein wenig schwankenden Schritten auf dem halbfeuchten, von der letzten Flut wie eine Tenne festgewalzten Strand und ist bis auf wenige Ellen von mir entfernt, als er plötzlich und sehr überraschend eine scharfe Wendung nach rechts macht und sich anschickt, seinen Weg durch das Buschwerk der Dünen gegen die Landstraße hin fortzusetzen. Dabei hebt er seinen Kopf, den er bis jetzt hartnäckig auf die Brust gesenkt gehabt hatte, wie aus einer tiefen Versunkenheit empor und sendet mir über die linke Schulter, ebenso wie ich ihm, einen kurzen, scharfen, forschenden Blick zu, der mich zusammenzucken läßt, als habe mir jemand mit einer eiskalten Nadel in einen hohlen Zahn gebohrt.

Wie vor einem durch und durch dringenden Schmerz oder Schreck schloß ich die Augen. Als ich sie wieder öffnete, war der Fremde bereits ein Stückchen in die Dünen hineingeschritten, und ich sehe nur noch seine wieder vornübergebeugte Rückenlinie und die langen altfränkischen Rockschöße mit den blanken Knöpfen dran, die ihm bis auf die Knie herunterhängen und sich rhythmisch mit jedem Schritt bewegen.

Mir war merkwürdig unsicher zumut und meine Beine zitterten etwas, wie ich deutlich spürte. Woran hatte mich doch dieses Gesicht und überhaupt die ganze Erscheinung erinnert? Ich konnte nicht darauf kommen, obwohl ich das Gefühl hatte, es soeben noch gewußt zu haben, wie man oft krampfhaft nach einem Wort, einem Namen, einem Begriff sucht, den man vor einer knappen Minute noch zur Hand hatte und der sich plötzlich irgendwo tief im Dunkel verkrochen zu haben scheint. Auch im Traum spielt es sich manchmal so ähnlich ab, und an etwas, das ich irgendwann geträumt haben mußte – ich wußte nur nicht was, würde aber schon noch darauf kommen –, erinnerte mich der ganze Vorgang.

Viel hätte ich darum gegeben, noch einmal das Gesicht des Fremden zu sehen, da ich nur eine sehr unklare Vorstellung davon bewahrte. Offenbar hatte der eine kurze, stechende Blick über die Schulter weg mich so aus der Fassung gebracht, daß ich nichts anderes mehr wahrzunehmen vermochte. Was ich bemerkt hatte oder bemerkt zu haben glaubte, war die seltsam gelbliche Färbung des Gesichts – die an altes Leder gemahnte und doch wieder etwas Schattenhaftes, geradezu Durchsichtiges hatte – und ein gewisses ironisches, beinahe tückisches Funkeln der Augen. Daran erinnerte ich mich. Alles übrige war mir entschwunden oder gar nicht zum Bewußtsein gekommen.

Der Fremde war nun schon ein gut Stück Weges in das Dünengestrüpp hineingeschritten. Ihn noch zu überholen, wäre schwierig gewesen, auch aufgefallen. Sonderbar übrigens, wie die Gestalt, von hinten gesehen, immer nebelhafter wurde und dabei ins Große wuchs! Schade doch, daß ich mich nicht mehr über sein Aussehen vergewissern konnte! Aber da fiel mir ein, daß Karola und er sich ja auf ihrem Wege kreuzen, wenigstens nahe aneinander vorüber mußten. Wie ich Karola nur währenddessen aus den Augen verloren hatte! Erst jetzt bemerkte ich, daß sie sich beim Aussteigen aus dem Wagen sehr verzögert haben mußte, denn sie befand sich noch kaum in der Mitte des schmalen Dünenpfades, der von der Chaussee zu mir herabführte. Ihr entgegen schritt der merkwürdige Unbekannte – um so merkwürdiger, je weiter er sich entfernte –, und zwar benutzte er einen zweiten Pfad, der sich parallel zu dem Karolas und etwa zehn Schritte davon durch das Buschwerk zu meinem Landhause hinaufschlängelte.

Ich sah, wie die beiden einander näher kamen. Eine seltsame Beklemmung war in mir, was wohl geschehen würde, sobald sie sich begegneten, und mein Herz klopfte vernehmlich. Jetzt! Noch einen Augenblick! ... Dann war es soweit. Sie befanden sich auf gleicher Höhe, nur durch ein paar halbmannsgroße Sträucher getrennt. Wieder hob der Fremde seinen tief gesenkten Kopf, drehte ihn, ohne die Schultern zu bewegen, wie eine Tür in der Angel, und ließ seine Augen, dieses kalte, bohrende Augenpaar, das mir noch immer durch die Seele stach, einen Moment lang auf Karola ruhen. Diese schien nicht besonders auf ihn acht zu geben. Nur fiel mir, nachdem sie bis dahin gleichsam lavierend ihren Weg durch das Knieholz gesucht hatte, auf, daß sie plötzlich ihre Schritte beschleunigte und schließlich gar zu laufen begann, während der Unbekannte ruhig und gemessen, wie vorher, seinen Pfad der Straße und meinem Hause entgegen fortsetzte und schon nach wenigen Schritten in einer Mulde der Dünen verschwand.

Karola hatte den letzten Teil des Weges, wo sich das Gestrüpp lichtete und nur noch einzelne Büsche von Strandhafer standen, in großen, flüchtigen Sätzen zurückgelegt und lief ganz außer Atem geradeswegs in meine geöffneten Arme. Ich schloß den warmen, bebenden Leib krampfhaft an mich und sagte kein Wort. Ich fühlte, wie sie sich an mich drängte, meine Nähe, meinen Schutz suchte, und gedachte des Tages, wo ich sie zum erstenmal so, und ebenfalls angesichts des Meeres, im Arm gehalten hatte. Ja, das war noch dieselbe Karola wie damals! Dasselbe durstige Umfangen und Umranken, die gleiche Hingabe und Verlorenheit an den Augenblick, als sei nie das geringste Trennende zwischen uns geschehen, kein anderer habe seitdem ihr Herz besessen, und keine Welt von Leiden und Qualen läge für mich zwischen einst und jetzt. Das war noch immer diese willig und wie selbstverständlich gebotene schwellende Fülle und schmiegsame Grazie. All dieses entzückte, begeisterte Genießen, das unwiderstehlich mitentzückte und mitbegeisterte, als sei die ganze Süße des Lebens in den Kelch einer Minute gekeltert, und es gelte, ihn mit einem einzigen unsagbar tiefen wonnevollen Zug zu leeren.

Ja, das war sie, die ich gekannt, die ich vom ersten Augenblick an geliebt, um die ich gelitten hatte, wie noch nie ein Mensch, und um die weiter zu leiden mir in den Sternen bestimmt war bis zum schreckensvollen Ende!

Wußte ich es nicht bereits jetzt voraus? Erkannte ich es nicht mit schärfster Deutlichkeit im vorhinein? War es nicht, als erfülle irgendeine geheimnisvolle Nähe mich mit der ahnungssicheren Gewißheit, daß uns beiden mit keiner Arznei mehr zu helfen sei, es sei denn mit jener letzten, die für immer genesen macht ...?

So standen wir eng ineinander verschlungen, der Mann und das Weib, ein jedes von seinen eigenen, tief verborgenen und gefahrvollen Gedanken bewegt, zwei Welten, die ewig einander fremd, doch ewig immer wieder zueinander müssen, mit Gefahr des Unterganges. Standen so ein paar Augenblicke, während draußen auf der gleißenden See die Nebel immer tiefer brauten und unsichtbare Hände die Schleier immer dichter woben.

Ein schwacher Seufzer hauchte aus Karolas Busen an meine Brust. Es war, als habe der Zeiger getickt und den Traum beendigt. Sie entwand sich behend wie ein Kätzchen meinen Armen und sah mit einem Ausdruck zwischen Komik und Angst zu mir auf.

»Mein Gott! In was für eine Einöde haben Sie mich gelockt? Sie sind doch immer derselbe merkwürdige Mensch, vor dem man sich von Rechts wegen fürchten müßte.«

»Gerade so wie vor dir, meine kleine, sündhafte Schönheit!« warf ich dazwischen. »Wir geben einander nichts nach.«

»Das ist ja ein höchst unheimliches Gestrüpp, durch das man da durch muß! Wissen Sie auch, daß mir plötzlich, als ich so mitten drin war, ganz angst wurde? Mir war, als wenn die Wurzeln und Sträucher und all das struppige Zeug auf einmal Arme bekämen, mich am Kleid zupften, mich festhalten wollten! Scheußlich, nicht? Da bin ich gelaufen, was ich konnte! Immer geradeaus! Ich muß ganz zerzaust sein. Sie haben doch nicht gedacht, daß ich Ihretwegen so laufe, weil ich Sie nicht schnell genug wieder haben konnte, und der Herr stand wie ein Stock da?«

»Hast du dir den Fremden näher angesehen?« fragte ich, ohne auf ihren halbkomischen Ton einzugehen. »Kannst du mir sein Gesicht beschreiben?«

Sie sah mich verwundert an.

»Welchen Fremden? Was soll das heißen?«

»Verstell' dich doch nicht! Er ging ja nahe genug an dir vorbei.«

Karola schüttelte verständnislos den Kopf.

»Das soll ein Mensch begreifen! Wo war denn jemand?«

»Du spielst nicht übel Komödie, mein Schatz. Hoffentlich gelingt es dir auf der Bühne ebensogut. Aber jetzt bemühe dich, ernsthaft zu sein. Ich meine ...«

»Ich bin ernsthaft wie ein Predigtamtskandidat,« unterbrach sie mich lachend und reckte sich etwas in die Höhe, um mir mit dem Zeigefinger auf die Stirn zu tippen. »Aber mit Ihnen scheint es mir nicht ganz richtig.«

»Das mag stimmen,« wollte ich erwidern. Aber sie ließ mich nicht zu Worte kommen, faßte mich vielmehr unter den Arm, um mich fortzuziehen.

»Kommen Sie, ich muß Ihnen etwas erzählen, was Sie interessieren wird!«

Ich nahm unwillig meinen Arm aus dem ihren und stampfte mit dem Fuß auf.

»Ich bitte dich, gib mir Antwort! Hast du den Fremden gesehen? Ja oder nein? Und wenn ja, wie war das Gesicht? Sah es nicht merkwürdig gelb aus? Dabei in einer Art von Durchsichtigkeit?«

Karola starrte mit offenem Munde zu mir hin, ohne zu antworten. Meine Geduld war zu Ende.

»Der Fremde!« schrie ich und packte ihre Hand. »Der Fremde da in den Dünen! Der vom Strand hinaufging nach meinem Hause zu, dir gerade entgegen! Hast du ihn denn, bei Gott!, nicht gesehen? Wie ist das nur möglich? Der Fremde mit den langen Rockschößen und dem Pergamentgesicht! Der Kapitän! Der fliegende Holländer meinetwegen!«

Karolas Züge, auf denen sich angesichts meiner Erregung deutliche Unruhe gemalt hatte, begannen sich wieder aufzuheitern.

»Meinen Sie vielleicht den aus der Oper?« fragte sie und lachte etwas gezwungen. »Also ist doch alles nur Scherz? Aber Sie können einem schon Angst einjagen!«

»Dann ist es also wahr, daß ich Geister sehe?!« stöhnte ich, wie aus einem grauenvollen Traum, und schlug die Hände vors Gesicht, während die Knie unter mir zusammenbrechen wollten.

»Ich glaube wirklich, er ist nicht ganz richtig, mein armer Freund, seit wir uns nicht mehr gesprochen haben,« murmelte Karola, nun, wie es schien, wieder unsicher geworden.

»Halt! Noch eins!« rief ich mit der Angst eines Ertrinkenden dazwischen. »Wäre es nicht möglich, daß du den Menschen, den Fremden übersehen hast? Es waren immerhin zehn Schritte Distanz und die Büsche waren dazwischen. Freilich, die Augen hätten einen Urwald durchfunkeln müssen, wie Tigeraugen! Aber du rafftest wohl gerade deinen Rock, und wenn Weiber an ihre Kleider denken ...«

»Ja, das wird es sein!« bestätigte Karola, sichtlich erleichtert, wenn auch offenbar noch nicht ganz von der Wiederkehr meiner Vernunft überzeugt, und nickte lebhaft. »Das wird es sein! Ich habe nicht aufgepaßt. Ich habe nicht hingesehen. Weshalb sollte nicht ein Mensch hier spazieren gegangen sein? Wir tun's ja auch. Obwohl es ja eigentlich verdreht ist, gerade am Weihnachtsabend an der See herumzulaufen! Aber wenn's ein Kapitän war, die sind ja alle ein bißchen rappelig!«

»Das macht das Seefahrerblut, meine blonde, schillernde Schlange!« erwiderte ich mit einer Art von erwachendem Galgenhumor, der mir so etwas wie Schwingen gab, um über das unheimliche Zwielicht meiner Seele emporzusteigen. »Ja, das kommt vom Seefahrerblut, meine holde Schlange! Vielleicht gehört dazu auch, daß man Geister sieht?«

Karola hatte eine Miene des Schmollens aufgesetzt. Aber man merkte, daß es ihr nicht so sehr Ernst damit war, daß sie sich eher ein wenig geschmeichelt fühlte.

»Jetzt haben Sie mich zweimal Schlange genannt! Was soll das heißen? Glauben Sie, daß ich falsch bin?«

»Falsch wie Galgenholz!« rief ich und nickte aus tiefster Seele. »Jawohl, meine Schlange! Du glänzest ordentlich vor Falschheit! Du müßtest nur deine Augen jetzt sehen können, wie das schillert und irisiert. Eine schöne, gefährliche Schlange! Man sollte sie töten! Komm' her! Ich will dir die Giftzähne ausbrechen.«

Ich legte mit einem plötzlichen Griff meine beiden Hände um ihren schlanken, zierlichen Hals und preßte ihn gleichsam zur Probe ein wenig zusammen.

»Mein Gott! Sie morden mich ja!« ächzte sie unter meinen Fingern.

»Schon recht!« murmelte ich, mit einem leichten Schwindel vor den Augen, und drückte halb besinnungslos auf diese willenlosen, wartenden Lippen mit dem Perlensaum, die sich mir so lange versagt hatten, einen durstigen, fieberheißen Kuß. Meine Hände sanken herab. Sie stand und sah halb in sich verloren, halb in meinem Gesichte lesend, zu mir auf. Ihre Lippen öffneten sich noch etwas weiter, lächelten, und wieder mußte ich an das Bild von der weißen Stickerei auf dem roten Kissen denken.

»Halten Sie mich wirklich für eine solche Schlange? Sie auch?«

»Wer denn noch?«

»Ach, niemand! Oder meinetwegen ja! Das hat schon mancher gefunden. Vielleicht seh' ich so aus. Aber deshalb braucht es nicht richtig zu sein. Ich kann keinem Menschen etwas zuleide tun. Ich bin nur, wie ich bin. Das darf man doch. Haben Sie schon gehört, daß ich von irgendeinem Menschen schlecht gesprochen habe? Wie viele tun das und spielen sich noch wunder wie auf! Ich weiß ganz genau, daß ich nichts tauge, oder nicht viel. Nur falsch glaub' ich nicht, daß ich bin. Aber das ist ja auch gleich. Man hat sich ja nicht selbst gemacht. Und jetzt kommen Sie. Ich hab' Ihnen viel zu erzählen. Ich muß mein Herz erleichtern. Sie sind ja der einzige, bei dem ich's kann.«

Sie zog mich mit einem schnellen Ruck von der Stelle, wo wir so lange gestanden hatten, fort, als sei es ihr da nicht ganz geheuer. Ich folgte ihr, wieder ganz im bestrickenden Bann ihres Wesens, und sah noch mit einem letzten Blick nach rückwärts, wie sich an dem denkwürdigen Punkt unserer Wiedervereinigung die tiefen Abdrücke unserer Schuhe im nassen Sand langsam mit Wasser füllten und spurlos dahinschmolzen. Das ist das Leben! dachte ich mir. So sind wir Wesen des Augenblicks, bestimmt, mit dem Augenblick zu verrinnen, so wie hier unsere Schritte im feuchten Sand, und nichts von uns bleibt, was kündet, daß wir waren. Wo liegt also der Unterschied zwischen Schein und Sein, und ob der Fremde, der in den Dünen verschwand, nun ein Phantom war oder Wirklichkeit, läuft das nicht schließlich auf eins hinaus? Weißt du auch nur von dir selbst, ob du wirklich bist oder ob du nur scheinst?

Ein merkwürdig unkörperliches und unirdisches Gefühl, etwas Schwebendes und von der Schwere Befreites war in mir und gleich einer dünneren, leichteren Luftschicht um mich herum, während ich so neben Karola am Strande hinging, gefolgt von einem feierlichen Chorus tragischer Gedanken, und doch gleichzeitig auch ganz Ohr für das anmutige Wellengeplätscher von Karolas reuiger Erzählung ihrer jüngsten Erlebnisse und Abenteuer.

Ja, sie wäre schon längst wieder zu mir gekommen, hätte mich überhaupt nie mehr im Stich gelassen nach jenem schönen Nachmittag, wo sie mir die Zerline vorgesungen und mich eigentlich zum ersten Male näher kennen gelernt als einen guten Menschen, trotz aller Schrullen, und als ihren besten Freund auf der Welt, der es sicher am ehrlichsten mit ihr meine – früher sei sie zu jung und zu dumm gewesen, um das zu begreifen, aber jetzt wisse sie es und hätte mir auch gewiß nicht den Schmerz bereitet, von neuem wegzubleiben, wenn man sie nicht dazu gezwungen hätte. Ja, gezwungen! Wahrhaftiger Gott! Und wer war die Ursache davon? Wer war schuld, daß sie sich gar nicht mehr zu mir hingetraut, überhaupt vollständig den Kopf verloren hatte? Adalbert Hempel! Kein anderer als er, der unleidliche Mensch!

Das kam davon, daß man sich einmal in einem schwachen Augenblick mit solch einem Intriganten eingelassen! Wer dem Teufel den kleinen Finger reicht ...! Sie hätte sich selbst dafür ohrfeigen können!

Gesagt, getan! Klatsch! applizierte sie sich im Eifer der Rede mit ihrer behandschuhten Rechten einen anmutigen Backenstreich, worauf sie ganz Feuer und Flamme im Thema fortfuhr. Zufällig sei sie am Tage nach ihrem letzten Besuch bei mir, eben nach unserem Zerline- und Masettospiel, dem Herrn von Bninsky begegnet und sei in aller Unschuld – »ich bitte Sie, mit einem frischgebackenen Ehemann!« – in aller Unschuld also – »Sie können mir glauben, es war nichts dabei!« – sie sei mit ihm in eine Konditorei gegangen, um dort gerade wem in die Arme zu laufen? Man könne sich's ja denken! Adalbert Hempel! Der habe sie am nächsten Morgen in sein Kontor kommen lassen und habe ihr gedroht, wenn er sie noch einmal mit Herrn von Bninsky zusammen sehe, so werde er die Geschichte haarklein an dessen junge Gemahlin schreiben – »übrigens eine alte Schachtel!« setzte mein Schatz hinzu – das werde dann einen großen Skandal, vielleicht Scheidung zwischen den beiden und wer weiß, was sonst noch, geben und sie, Karola, werde es auszubaden haben. Sie möge sich das gesagt sein lassen, und was den saubern Herrn Stobäus betreffe – ja, so lauteten seine Worte –, so wisse er aus dessen eigenem Munde, daß es nur pure Sinnlichkeit sei, was ihn an sie fessele. Im übrigen warne er sie vor diesem Herrn. Der sei zu allem imstande. Und er habe etwas von Giftspinne und Hinterrücks-ins-Netz-locken geäußert, was sich gar nicht wiedererzählen lasse.

»Bestie!« murmelte ich, als Karola so weit gekommen war, »Bestie! Bestie!« Und wäre in diesem Augenblick in der Tat fähig gewesen, Hempels Prognose von mir an ihm selbst wahr zu machen.

»Was sagen Sie dazu?« fragte Karola und suchte in meinem finster gerunzelten Gesicht zu lesen. »Und was soll man tun, wenn einem so etwas erzählt wird? Würden Sie da nicht auch Angst bekommen und lieber alles abbrechen, selbst wenn es Ihnen schwer fällt?«

»Ich nicht!« stieß ich zwischen den Zähnen heraus. »Ich niemals! Ich würde festhalten auf Leben und Tod!«

»Sie sind auch ein Mann,« meinte sie ziemlich unsicher. »Unsereins ist nur ein schwaches Frauenzimmer. Ich möchte mal diejenige kennen lernen, die sich nicht beschwatzen läßt, wenn ihr so bange gemacht wird. Aber wissen Sie auch, daß Sie jetzt wirklich so aussehen, als wenn Sie mit kaltem Blut einen abwürgen könnten? Man muß sich ja fürchten!«

»Fürchte dich nur!« murmelte ich, noch immer mit meiner Wut gegen den Todfeind ringend. »Fürchte dich nur!«

»Wer weiß, ob er nicht recht hat?« entgegnete Karola, wieder in meinen verschlossenen Zügen forschend, wie jemand, der ein verhängnisvolles und rätselhaftes Schriftstück zu entziffern sucht.

»Ja, mit allem, mit allem hat er recht!« keuchte ich als Antwort. »Du bist mir nichts als eine Ware, die man sich kauft! Ein Stück Fleisch zur Stillung meiner Lust! Weib, Weib, hab' ich das um dich verdient? Ich, der gelitten hat! Der gekämpft hat! Der rasend gewesen ist! Der es noch ist! Könntest du dich wundern, wenn ich dich dafür wirklich umbrächte? Umbrächte, weil du keinen Schimmer von Liebe, von Verständnis für mich hast? Umbrächte hier auf der Stelle, wo nur wir zwei sind und Himmel und Wasser und diese Wand hier über uns? Dann wär' es wenigstens still hier innen! Dann hätte ich Ruhe für immer! Dann wäre dieser fürchterliche, fressende, brennende Schmerz nicht mehr, der mein Leben verzehrt!«

Ich zittere am ganzen Leibe. Dicke Schweißtropfen rinnen mir von der Stirn. Ich muß mich erschöpft gegen die harte, mit Gestrüpp bewachsene Erdwand lehnen, die hoch und schroff über uns aufsteigt. Es ist die Landspitze Falkenhorst, an deren Fuß wir stehen. In der Hitze von Rede und Gegenrede haben wir kaum gemerkt, wie wir dem dunkeln Waldrücken des Vorgebirges immer näher gekommen sind, der breite Strandgürtel sich immer mehr verengt hat und schließlich nur noch als ein schmales, sonnengebleichtes Band zwischen Berghang und Meer sich um das steil abstürzende Profil des Kaps nach der jenseitigen Bucht herumwindet. Kies- und Tonschichten sind wüst übereinander gelagert, vom Regen ausgewaschen, von der Brandung zerklüftet und zerrissen. Baumwurzeln schweben hoch in der Luft und strecken gleichsam hilfeflehend die Arme herunter. Brüchiges Gestein, Schutt und Sand rieseln von Zeit zu Zeit herab. Ein paar ärmliche Fischerkaten, mit in der Sonne ausgespannten Netzen und in die See hinausgelegten Reusen, liegen etwa einen Flintenschuß entfernt hinter uns im innersten Winkel der Bucht. Ihre Einwohner sind meist draußen auf der See. Sonst verirrt sich selten jemand hierher. Die Natur, die weit in der Runde nur Anmut und Heiterkeit ausgegossen hat, zeigt hier ernste, ja finstere und unheimliche Züge. Auch die Sage nistet auf diesen wilden Klippen und Schroffen und der unterseeischen Sandbank, die deutlich unter dem bleiernen Wasserspiegel zu sehen ist, und raunt allerlei dunkle Mären von Schiffen, die in schwarzen Sturmnächten hier aufgefahren und untergegangen sein sollen. Ja, war nicht vor einer halben Stunde erst – jetzt fällt es mir wieder ein – mein »Fliegender Holländer«, der große, fremdartige Dreimaster, mit vollen Segeln, wie von einem Magnetberg angezogen, auf diese drohende Landspitze zugeflogen und vielleicht mit seiner ganzen Gespensterfracht hier in der Tiefe versunken?

Ich stand noch immer an das bröckliche Gestein gelehnt, von den Schauern des Orts und meiner eigenen Seele gleichermaßen umfangen. Karola, die solange geschwiegen hatte, wohl ebenfalls von der ringsum waltenden Schwermut bedrückt, schien nach Worten zu suchen, um die lastende Stille zu brechen.

»Sie waren ja ganz aus dem Häuschen!« sagte sie schließlich, noch immer sichtlich verschüchtert. »So hab' ich Sie noch nie gesehen. Also machen Sie mit mir, was Sie wollen.«

Sie hatte die Arme schlaff am Körper heruntersinken lassen, mit dem komisch hilflosen Ausdruck eines Menschen, der nicht recht weiß, ob etwas Scherz oder Ernst ist, aber immerhin sich auf das Schlimmste gefaßt macht. Es lag etwas Abkühlendes, etwas Entwaffnendes darin. Die Hitze meines Blutes verrauchte. Fast überkam mich ein Lächeln. Nun hatte sie von dem Sturm meiner Seele einen Hauch verspürt, hatte die Gefahr, die über ihr schwebte wie diese dunkle Wand über dem Meer, ahnen gelernt. Für diesmal war es genug.

»Es ist wieder gut!« sagte ich und packte mit einem harten Griff ihre beiden Handknöchel. »Komm'!«

»Ja, nur fort!« stieß sie heraus und nickte hastig. »Es liegt so schwer hier in der Luft. Der Wald da oben hat so etwas Bedrückendes. Man möchte ersticken! Wissen Sie, was für ein Gefühl man hat? Als sei hier schon irgend etwas passiert, irgendwann einmal.«

»Schon möglich!« murmelte ich vor mich hin. »Überall lauert der Tod. Wer kennt seinen letzten Weg!«

Sie sah mich scheu und geduckt von der Seite an, wie ein gefangenes Tier. Ich hatte ihre Hände losgelassen, antwortete nichts auf ihren fragenden Blick. So gingen wir eine Weile nebeneinander hin, den Strandweg, den wir gekommen waren, zurück.

»Erzähle weiter!« gebot ich, als wir schon die Fischerkaten mit ihren Netzen und Reusen hinter uns hatten und der dunkle Waldrücken von Falkenhorst sich wieder in langgestreckter Linie am Himmel abzuzeichnen begann. »Erzähle weiter! Wie war das mit dem Duell zwischen Bninsky und Hempel? Kam das deinetwegen?«

Karola war schweigsam geworden. Sie nickte nur und schien an den Worten zu kauen.

»Kann man denn ahnen, daß gleich so etwas geschieht?« sagte sie schließlich, und man sah ihr an, daß dieser Teil der Beichte ihr am schwersten fiel. »Die Männer sind ja alle wie vom Satan besessen! Ich kann nichts dafür. Ich hab' mir nicht mehr anders zu helfen gewußt. Wer solch einem Menschen wie Hempel einmal in die Hände fällt, ich sag' Ihnen, der ist verloren! Ich bin ganz verzweifelt gewesen! An Sie zu schreiben hab' ich mich nicht getraut. Ich hab' ja doch nicht verdient, daß Sie sich noch um mich kümmern. Da bin ich eines Tages wieder Bninsky begegnet. Er fragt mich, warum man nichts sieht und nichts hört von mir.«

Karola hatte sich wieder in Eifer geredet. Sie unterbrach sich selbst, schöpfte ein wenig Atem, sah mich mit ihrem schalkhaft reuigen Blick von der Seite an, als wolle sie sich erst das Eindrucks auf mich vergewissern, und begann dann von neuem:

»Sie sehen, es ist anderen Leuten auch nicht besser als Ihnen ergangen. Ich hab' mich gar nicht mehr aus dem Hause gewagt. Ich bin ganz in den Händen von dem Menschen gewesen. Und dabei kann ich ihn, weiß Gott! auf den Tod nicht leiden. Begreifen Sie, wie das möglich ist? Es muß rein wie mit Hexerei zugehen! Ich treffe also Bninsky. Ein Wort gibt das andere, und ehe ich's mich versehe, hat er mir die ganze Geschichte herausgeholt, was Hempel von ihm gesagt hat und was er mir angedroht hat, und daß ich mich nicht gegen ihn wehren kann. Es war ja meine Dummheit, daß ich nicht dicht gehalten habe, das geb' ich zu. Nachher hab' ich mir auf den Mund geschlagen. Aber da war's zu spät. Geschäumt hat er wie ein wildes Tier. Die Polen sind nun mal so. Mama hat das auch. Die lassen nichts auf sich sitzen. An demselben Abend trifft er Hempel im Englischen Hof, und das Malheur war fertig. Jetzt liegt der arme Mensch mit zerschossenem Knie, und wenn's gut geht, muß er noch monatelang kurieren. Der tut keinem Menschen mehr was. Von dem haben Sie nichts mehr zu fürchten. Zum Krüppel geschossen um meinetwillen! Bin ich nicht eine schlechte Person? Urteilen Sie selbst!«

Karola hatte mit aufrichtiger Zerknirschung gesprochen, den Blick immer geradeaus gerichtet wie jemand, der um jeden Preis sein Herz erleichtern möchte und dabei nicht nach rechts und nach links zu blicken wagt, um nicht zu früh sein Urteil zu hören. Aber jetzt war es heraus. Sie wandte mir ihre holden, reinen Züge zu, die von der abgelegten Beichte noch eine zarte Röte zeigten, und suchte in meinen Augen ihren Spruch zu lesen.

Bin ich nicht eine schlechte Person? schien ihr Blick zu wiederholen.

»Ja, das wirst du wohl sein!« sagte ich aus tiefster Tiefe herauf, und doch war mir, als ob das nur mein Mund und nicht mein Herz gesprochen habe.

Auch Karola mochte es wohl so ähnlich klingen, denn sie erwiderte mit einem Ton, wie wenn sie mich widerlegen und sich erst recht anklagen müsse:

»Nein, nein, manchmal kommt es mir wirklich vor, als ob ich bestimmt wäre, Unglück zu bringen.«

»Wie ein verzauberter Ring, der aus der Tiefe gestiegen ist, den jeder haben will, und um den alle ins Verderben stürzen.«

Karola blieb stehen und sah mich an. Ihre Befangenheit war von ihr gewichen, ihr Ton klang wieder fester, bestimmter.

»Aber was kann denn der Ring dafür?« fragte sie. »Ist der Ring etwa schuld, wenn sich die Menschen um ihn hassen und morden? Doch höchstens der, der den Zauber darüber gesprochen hat.«

»Schuld oder nicht!« entgegnete ich. »Er muß in die Tiefe zurück, damit er kein Unheil mehr anrichten kann.«

»Sie werden mich doch nicht ins Meer werfen wollen?« forschte sie und lächelte sonderbar.

»Vielleicht!« gab ich zurück und lächelte ebenfalls.

Karola streifte mich flüchtig mit ihrem Blick, besann sich einen Moment und deutete dann auf den Pompadour, den sie am Arm trug.

»Raten Sie, was ich hier habe?«

Ich zuckte mit den Achseln und schwieg.

»Also gut! Ich will's Ihnen sagen. Hier hab' ich ein Bild. Ein Miniaturporträt von mir selbst, von einem Maler gemalt. Er kam ins Theater und sah mich spielen. Ich soll ihm Modell sitzen, bat er mich, und ich hab's getan. Warum denn nicht? Er war ein älterer Mann und tat mir leid. Ich hab' mir gedacht, es geht ihm schlecht und man kauft's ihm ab. Weshalb soll man einem Menschen nicht helfen, wenn man kann!«

»Ein Bild von dir? Zeig' her!«

Ich streckte heftig meine Hand nach dem kleinen zierlichen Strickbeutel aus, aber sie wehrte mich sehr entschieden ab.

»Nein, nicht jetzt! Erst heute abend zum Fest. Dann sollen Sie's sehen. Ich schenk' es Ihnen als Andenken an die schlechte Person, die Sie und alle anderen so schrecklich gequält hat. Man soll doch wissen, wie die ausgesehen hat, wenn alles längst vorbei ist.«

Sie schwieg einen Augenblick und ließ versonnen den Pompadour mit dem geheimnisvollen Porträt, das meine ganze Neugierde weckte, am Arm baumeln, als wolle sie das Stückchen Unsterblichkeit, das er von ihr auf die Nachwelt bringen würde, nach Maß und Gewicht abwägen. Dann runzelte sie die Stirn und fuhr fort:

»Und wissen Sie, was der Maler getan hat, am Tage, nachdem er mit dem Bildchen fertig war? Sie werden's nicht raten. Oder doch? Vielleicht haben Sie's im Blatt gelesen? Er hat sich das Leben genommen. Er hat sich am Fensterkreuz aufgehängt, der alte Mann. Warum, weiß kein Mensch. Vielleicht aus Not. Aber auf dem Tisch lag ein Zettel, daß er mir das Bildchen schenkt. So bin ich dazu gekommen. Und heute abend bekommen Sie's.«

Eine kleine Pause trat ein. Karola war stehen geblieben, kreuzte die Arme und sah mich an, während auf ihren Zügen das verschleierte Lächeln spielte, das mich schwindeln machte.

»Also bringe ich Unglück oder nicht?«

»Und wenn du das tust, und wenn du das weißt,« rief ich mit einem letzten Rest von Besinnung, »warum kehrst du dann wieder? Warum bliebst du nicht da, wo du warst?«

»Weil ich's nicht länger mehr ausgehalten habe! Weil ich den Menschen hab' abschütteln müssen! Und weil mir die Erinnerung an Sie immer stärker gekommen ist! Das haben Sie glücklich erreicht durch Ihre Ausdauer und Ihre Zähigkeit. Ich kann mir Sie gar nicht mehr wegdenken aus meinem Leben. Ich muß immer wieder zu Ihnen zurück, ob ich will oder nicht, so wie Sie zu mir. Das ist eine schöne Bescherung, die wir da haben, nicht? Damit wollen wir jetzt Weihnachten feiern gehen.«

Sie lachte und sah mich betörend an. Wir standen ungefähr an derselben Stelle, von der wir ausgegangen waren, und von wo der Fremde sich rechts in die Dünen geschlagen hatte. Ihre Worte waren wie schwerer Südwein in mich geflossen. Ich fühlte mich taumeln und umschlang mit beiden Armen ihren ebenmäßigen Leib, wie ein Trunkener einen Säulenschaft umfaßt und seine Glut in den Marmor ausströmt. Und der Marmor neigte sich mir, ward weiches, warmes Leben und trank meine Küsse, wie ich die seinen. So zogen wir einer den anderen, stolpernd, schwankend, schwindelnd, mit entzückten Sinnen, durch das Dünengestrüpp zur Chaussee hinauf, während hinter uns der Kreis unserer Tritte im feuchten Sand sich mit Wasser füllte und spurlos dahinschmolz.

Als wir dann schon im grauen Atlaspolster des Halbwagens lehnten und in gestrecktem Trab, Schulter an Schulter, durch die sinkende Dämmerung des Weihnachtsabends der ferne grüßenden Silhouette der Stadt entgegenrollten, sagte Karola mit eins, indem sie mir die Hand auf den Arm legte:

»Jetzt hab' ich noch eine große Neuigkeit für Sie. Aber Sie dürfen mir nicht wieder aus dem Häuschen geraten. Versprechen Sie mir das? Auf Ehrenwort?«

Ich nickte und reichte ihr stillschweigend meine Hand. Mir war, als sei ich auf alles gefaßt, gegen alles gefeit und es könne mir nichts mehr auf dieser Welt geschehen.

»Also gut! Aber Sie müssen's auch halten.«

Sie machte eine kleine Pause und sah mich prüfend an. Dann warf sie sich in das Polsterkissen zurück, schloß die Augen und sagte mit einem halben Lächeln und einem leichten Seufzer:

»Was würden Sie sagen, wenn ich daran dächte, mich zu verloben?«

Da ich nun doch, trotz alles künstlichen Gleichmuts, mich an ihrer Seite aufrichtete und sie mit großen Blicken anstarrte, verschloß sie mir Mund und Augen mit ihrer schlanken, schmeichelnden Hand und rief:

»Nein, sagen Sie nichts! Sprechen Sie nichts! Und sehen Sie mich nicht so an! Ich kann den Blick nicht vertragen. Es war ja nur ein Einfall von mir. Es steckt nichts weiter dahinter. Wozu sich die Weihnachtsfreude verderben! Und heute abend, unter dem Baum, wenn die Lichter brennen, mit dem ersten Becher Champagner trinken wir auf du und du. Es kommt mir dumm vor, mein ewiges Sie! Ist's dir so recht, mein einziger Freund?«


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