Agnes Harder
Schlumski
Agnes Harder

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Weihnachten

Im Herbst wurde das Wetter sehr, sehr schlecht. Es regnete in Strömen. Über meinem Wagen wurde ein großer, roter Schirm ausgespannt, der schützte die Äpfel, die wir jetzt meistens verkauften. Die Frau gab auch jeden Morgen eine Strohmatte und eine Decke für mich mit. Die Strohmatte sollte mir untergelegt werden, wenn wir hielten, die Decke mich gegen den Regen schützen. Aber der böse Lungrich gab mir oft genug weder Decke noch Matte. Nur wenn ich gar zu sehr zitterte, und er Angst hatte, ich könnte krank werden, schob er mir die Matte hin. Es gab viel, sehr viel zu tun. Am Vormittag fuhren wir meist Kohlen aus. Das waren Lasten! Der Riemen hatte mir vorn alle Haare von der Brust gescheuert. Jetzt wurde ich wund, das Leder schnitt fürchterlich ein, und ohne Erbarmen brauchte Lungrich die Peitsche. Am Abend wusch mich die Frau, rieb mich ein und streichelte mich. Die Großsche, die immer schwächer wurde, fütterte den Brustriemen ab und zerschnitt dazu ihr wärmstes Tuch. Aber was half es? Ich sah ja doch, wie sie alle bleicher und bleicher wurden. Minna und Fried husteten. Im Sommer war ihnen das Austragen der Zeitungen keine große Last gewesen. Nun mußten sie im Dunkeln aufstehen, in Regen und Kälte hinaus, nichts im Magen, als einen Topf schlechte Milch. Und der Peter gar bekam so einen dicken Kopf und krumme Beine. Die Frau war mit ihm beim Armenarzt gewesen. Englische Krankheit, sagte der. Sie solle ihm keine Kartoffeln geben und kräftige Kost. Aber Fleisch gab es nur Sonntags ein Stückchen. Lungrich aß an der Ecke in einer Kutscherkneipe. Da bestellte er sich auch seinen Ede hin. Ich mußte draußen warten. Da sah ich durchs Fenster, wie sie sich die fetten Bissen mit dem Messer in den Hals schoben, Rinderschmorbraten, Schweinerippchen und Karbonade. Und der Ede trank aus seines Vaters Bierglas. Meine Leute aber hatten derweil zu Hause kaum einen Hering, und von den Kartoffeln durfte die Großmutter nur die angefaulten für ihren Tisch nehmen.

Ich haßte Lungrich so, daß ich ihm alles Fleisch hätte von den Knochen nagen mögen. Immer paßte ich auf ihn auf, aber lange konnte ich nichts entdecken. Er wog schlecht, das hatte Ali gesehen. Aber sonst fand ich nichts. Bis ich mir auch einen Husten holte und nicht schlafen konnte. Die Kellerwohnung war feucht. Bei dem ewigen Regen lief das Wasser von der Straße in die Stube.

Da sehe ich eines Nachts, wie sich die Tür zu Lungrichs Zimmer ganz leise aufmacht, und er sich in den Laden schleicht. Ich drückte die Augen fest zu und rührte mich nicht. »Er kann doch in seinem eigenen Laden nicht stehlen wollen«, dachte ich und blinzelte. Da sah ich, wie er das Faß mit Magdeburger Sauerkraut fortrückte. In der Erde darunter 75 mußte ein Loch sein, aus dem nahm er einen Kasten, öffnete ihn, und holte etwas heraus. Ich konnte aber nicht sehen, was. Er schielte immer nach mir hin, geradeso als wußte er, daß ich ihn beobachtete. Dann ging er hinaus. Ich roch am nächsten Morgen an dem Faß herum, aber ich konnte mir die Sache nicht erklären. Er kam jetzt öfters in der Nacht, und es war immer dasselbe. Was er aber nahm, sah ich nie.

Ich erzählte es natürlich Ali, der mich ermahnte, meinen ganzen Verstand zusammen zu nehmen.

»Da liegt das Geheimnis, Schlumski. Das wäre, wenn du es nicht rausbekämst!« –

Ich sah Ali jetzt seltener, denn in dem schlechten Wetter machte der Schmeißweg doch keine Geschäfte. Der Regen verdarb seine Sachen, und die Leute blieben nicht vor seinem Tisch stehen. Wie sehr erstaunte ich daher, als Ali eines Morgen neben meinem Kohlenwagen erschien, ohne Geschirr, ohne Seilen, wie ein feiner Herr, der seinen Morgenspaziergang macht.

»Ich habe Ferien, Schlumski. Mein Herr braucht mich nicht, denn er schließt bei den Fabrikanten die Weihnachtseinkäufe ab. Da bekomme ich denn nur morgens und abends mein Futter und kann im übrigen meine eigenen Wege gehen. Mein Herr weiß, wie sehr ich ihn liebe, und daß ich klug genug bin, mich nicht zu verlaufen. Da habe ich mir nun vorgenommen, dich ein wenig zu begleiten.«

»Du führst doch ein Herrenleben, Ali!«

Er bellte freudig, als er neben mir hertrottete, 76 und seitdem wurde mir das saure Kohlenfahren noch einmal so leicht.

Aber auch wir sollten bald merken, daß Weihnachten herankam. Der Keller füllte sich. Säcke mit Wallnüssen trafen ein, Kisten mit Traubrosinen, die mit schönen, grünen Bändern bebunden waren, Datteln in ganzen Bergen, Feigen, süßer Christbaumschmuck. Die Kinder starrten mit offenem Munde. Solche Herrlichkeiten hatten sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen! Wenn sie auch nichts anrühren durften, kamen sie sich reich vor, nur weil sie es sahen. Ede freilich verdarb sich gleich am ersten Tage den Magen und mußte zu Bett bleiben. Als die Leibschmerzen aufhörten, war ihm das ganz recht. Da konnte er daheim bleiben und die beiden Frauen quälen.

»Du sollst nicht so gut wiegen! Sage ich das Vatern, dann gibt es was! Und der alten Krumholzen hast du heute ein Stück Brennholz zugegeben, ich hab' es wohl gesehen.«

»Ede, sie ist so arm. Und ihr Kind ist krank. Hast du denn gar kein Herz?«

»Nein, ich hab' dafür einen doppelt so großen Magen.«

Dabei griff er in die Schublade mit Mandeln.

Eines Tages hatte Lungrich ein Geschäft entdeckt, sogar für das arme Peterchen.

»Die Leute haben die Groschen locker genug sitzen in der Weihnachtszeit. Da sind sie ja so dumm, daß sie gar nicht genug Geld ausgeben können, die Narren. Das will ich benutzen. Der 77 Peter soll Pflaumenmänner verkaufen. Die eine Sorte türkische Pflaumen taugt ohnehin nichts.«

»Aber Peterchen ist so schwach«, sagte die Mutter.

»Papperlapapp – er wird ja nicht von Zucker sein und im Regen zergehen.«

Da stellte sich Peterchen auf seine krummen Beine und sagte mutig:

»Ja, ich will auch Geld verdienen. Das schenke ich dann dir, Mutter, damit du dir einen neuen Rock kaufen kannst.«

»Wem gehören die Pflaumen, mir oder dir? Ich zähle sie dir zu, und für jeden Pflaumenmann bringst du mir einen Groschen.«

Das Zuzählen übernahm der Ede. Der würde sich schon nicht vergreifen, der Geizkragen!

Und nun machten sie Pflaumenmänner! Zu jedem Pflaumenmann brauchte sie 18 Pflaumen, sechs zu den Armen, sechs zu den Beinen, drei zum Leib, eine zum Kopf und zwei für die Füße. Die Pflaumen waren ganz schimmlig. Aber wenn sie Ede ihnen zugezählt hatte, wuschen sie die Kinder erst ab, bis sie wieder schwarz waren, und steckten sie dann auf Hölzchen und machten den Pflaumenmann. Mittags bekam Peter seinen wärmsten Anzug an, der noch immer dünn genug war, die Mutter band ihm noch ein Tuch um den Hals, und dann ging er mit uns los. Er sah ganz vergnügt aus, wenn er so den Kasten mit den 12 Pflaumenmännern an einem Bande um den Hals trug. Aber weil seine krummen Beine das ungeschickte Körperchen nicht recht trugen, setzte ihn der Lungrich noch auf 78 den Wagen, mitten zwischen die Datteln und Apfelsinen, die wir jetzt in der Weihnachtszeit ausfuhren. Das war mir gerade recht. Wenn wir in die feine Straße kamen, wo die vornehmen Menschen wohnten, mußte Peterchen sich auf eine Treppe setzen oder in einen Torweg stellen. Er durfte immer erst nachmittags hin, weil dann die meisten Damen kamen. Die waren am mitleidigsten. Natürlich konnten sie die Pflaumenmänner eigentlich gar nicht brauchen, aber sie nahmen sie doch, weil der Kleine solch ein ernstes Gesicht machte. Lungrich hatte ihm gesagt, er solle immer mit lauter Stimme: »Pflaumenmänner, kauft schöne Pflaumenmänner!« schreien. Aber das getraute er sich nicht. Er hielt nur eines von den häßlichen Dingern ganz steif vor sich hin. Seine kleine Hand war ganz blau gefroren, und manchmal, wenn er lange warten mußte, ehe ihn jemand sah, stiegen Tränen in seine Augen. Die Damen, die die Pflaumenmänner kauften, wollten sie ihm oft gleich wieder schenken. Aber das litt er nicht. Was gekauft war, war gekauft. Er schlug ihnen das schwarze Ungeheuer in Zeitungspapier, das er sich aus dem Laden mitnahm, und gab es ihnen, und sah sie so treuherzig an, daß sie kopfschüttelnd nach Hause gingen. Nur wenn eine ihm einen Sechser mehr gab, dann nickte er strahlend mit dem Kopf und sagte: »vergelte Gott«. Und den Sechser steckte er extra in die Tasche, der gehörte nicht dem Lungrich.

Ich konnte das freilich nicht sehen, denn ich mußte aus der feinen Straße fort, wenn ich das Peterchen abgesetzt hatte. Aber der Ali hatte noch 79 immer frei. Der blieb oft lange neben ihm sitzen und erzählte mir dann, wie brav Peter wäre, und daß er ihn auch einmal gestreichelt hätte, wie er sich auf seine kalten Füße gelegt hätte, um sie zu wärmen.

Denn es war nun bitter kalt geworden. Wenn ich Peterchen abends mit meinem Herrn abholte, und er sich wieder auf den Wagen setzte, war er ganz steif gefroren. Aber seine Pflaumenmänner hatte er immer verkauft. Darum mußte er auch jeden Tag von Neuem heraus, so sehr die Mutter auch bat.

»Es sind genug Kinder draußen, schwächere wie der«, sagte Lungrich. Und es war wahr. Je näher Weihnachten kam, je mehr Kinder wurden auf die Straßen geschickt. Überall standen sie in den zugigen Torwegen, auf den Plätzen, über die der Wind fegte und der Schnee trieb. Sie verkauften Hampelmänner und Wachsstreichhölzchen, Schäfchen und kleine Puppen. Allen Menschen liefen sie nach, und so gerne die Leute auch geben, wenn der Stern von Bethlehem in die Straßen scheint, zuletzt wurde es ihnen doch zu viel, und sie ließen sie stehen.

Ich denke an euch, ihr kleinen Kinder, die man schon herausschickt in den Kampf des Lebens, und ich grüße euch. Ich bin nur ein armer Ziehhund gewesen, als ich euch sah. Aber mein Herz hat für euch geschlagen, und ich werde euch nie vergessen!

Als so viele, viele Kinder auf die Straße kamen und verkauften, behielt Peterchen manchmal einen Pflaumenmann übrig, oder auch mehrere. Da bekam er von Lungrich soviel Schläge, wie er 80 Pflaumenmänner zurückbrachte. Er sagte es aber nicht seiner Mutter, er wurde nur immer stiller, und einmal abends, fanden wir ihn auf seinem Platz auf der Treppe fest eingeschlafen. Sein Kopf war ganz heiß und rot und seine Glieder ganz schwer. Er konnte auch nichts schlucken. Seine Mutter sagte auch kein Wort. Sie nahm nur den Kasten mit den Pflaumenmännern und warf ihn Lungrich vor die Füße.

Und diesmal war er auch ganz still.

In der Nacht hörte ich, wie Peter hustete, und wie die Frau ihm Umschläge machte.

»Meinst du, daß er stirbt«, fragte sie die Großsche.

»Nein«, sagte die, »die Kinder einer Witwe hat Gott lieb.«

»Was soll nur aus ihnen werden, Großsche!«

»Tröste dich, meine Tochter. Gott verläßt sie nicht, und ihr Vater im Himmel bewacht sie.« –

Als Peterchen krank wurde, war Ali schon wieder im Dienst. Um Weihnachten hatte er den lustigsten Dienst von der Welt, und es war meine ganze Freude, daß unsere Wagen wieder nebeneinander auf dem großen Platz hielten. Sein Herr hatte nun nämlich alle seine Einkäufe beendigt und sein Weihnachtsgeschäft begonnen. In dieser Zeit war er aber kein Schmeißweg. Er hatte sich Hunderte und Hunderte von den schönsten Blechsachen gekauft, alle mit einer Mechanik innen, und alle beweglich, wenn er sie aufzog. Herren und Damen, die spazieren gingen, und Tanzbären und kleine Automobile und Radfahrer und Seehunde und Dampfer und 81 Luftschiffe. Ach, ich kann euch gar nicht sagen, was der Schmeißweg alles hatte! Und all seine Figuren zog er auf und ließ sie auf dem Platz laufen. Da drehten sie sich hin und her. Wenn aber eine dahinlief, wo die Droschken fuhren, gleich stürzte Ali ihr nach und brachte sie im Maule zurück, und so zierlich faßte er sie an, daß das Räderwerk weiterschnurrte, wenn er sie in den Zähnen hielt.

Zu lustig war es! Alle Vorübergehenden blieben auch stehen, und die Kinder konnten sich gar nicht trennen. Die Wintersonne schien, und die ganzen Straßen standen voll Tannenbäumchen. Einige trugen sogar noch ihre richtigen Zapfen. Und der Schmeißweg zog seine Figuren auf, vom Morgen bis zum Abend, und wurde nie müde, den Zuschauern von ihnen zu erzählen.

»Dieser Dampfer hier ist die ›Hohenzollern‹, die Seine Majestät benützt, wenn sie in ferne Lande geht. Alle Schiffe kennen sie, und wenn sie die weiße ›Hohenzollern‹ sehen, so schicken sie den Kaisersalut. Da geht sie hin, meine Herrschaften. Nach dem Nordland geht sie, wo Seehunde und Walfische leben, und nach dem Mittelländischen Meer, und nach den Ländern der Heiden, und nach Jerusalem, wo unser Heiland gelebt hat. Sehen Sie, wie stolz sie einherschifft!«

Und der Schmeißweg sah dem Dampfer nach, wie er über den Platz rollte, bis er gegen einen Tannenzweig rannte und festsaß, und man sah es seinen Augen an, daß er wirklich glaubte, sein Schiff triebe auf dem Meer.

82 Zuweilen machte er auch Verse.

»Diese Tänzerin, die kleine,
Wirft bis über'n Kopf die Beine,
Dreht sich wie ein Kreisel rum,
Aline, fall' mir ja nicht um!«

Oder:

»Herr Bär, Herr Bär,
Wo kommt er her? –
Ich komme aus dem Walde tief,
Da lag ich und schlief. –
Wer hat euch denn geweckt? –
Ein Kauz hat mich geneckt,
Der rief: Weihnachten ist im Land!
Da bin ich gleich hierher gerannt,
Mit leeren Ranzen,
Und muß nun tanzen.«

Dann lachten die Leute sehr und kauften die Puppen, und der Schmeißweg nahm viel, viel Geld ein. Lungrich wurde ganz neidisch, wenn er es sah. Die Mütter wollten die kleinen Kinder manchmal fortziehen, weil es ihnen zu lange dauerte. Aber die baten und baten.

»Bleibt noch, nur noch einmal wollen wir sehen, wie er das Automobil aufzieht! Nur noch ein einziges Mal!« –

Eines Abends, es war kurz vor dem Fest, hatten sich die Zeitungen verspätet, und Friedel und Minna kamen auf unseren Platz und warteten auf sie. Da sahen sie auch mit leuchtenden Augen zu dem Schmeißweg auf. Aber plötzlich wurde Minna ganz blaß. Der Seehund, der eben losgelassen war, lief geradewegs auf eine Droschke zu, und ein Rad ging über ihn hin. Zwar holte ihn Ali sofort wieder, 83 aber die Mechanik war kaput, er ließ sich nicht wieder aufziehen. Da sah der Schmeißweg Minna an und sagte freundlich: »Hier hast du ihn, meine Tochter.«

Minna wurde nur rot und machte einen tiefen Knix. Am Abend hörte ich, wie sie zu Fried sagte, sie wollten den Seehund dem Peter schenken. Wenn er auch nicht mehr laufen könne, so ließe er sich doch noch an einem Faden ziehen.

Sie hatten überhaupt allerlei Überraschungen vor. Denn wenn sie auch ihren Botenlohn ablieferten, so bekamen sie in diesen Tagen doch hier und da ein paar Groschen geschenkt, oder eine Handvoll Pfeffernüsse, oder einen Apfel. Und während die Frau seufzte, daß sie ihren Kindern so gar keine Freude machen konnte, flüsterten die miteinander und rechneten, und auch das Peterchen in seinem Bett nahm an den Beratungen teil und wickelte seine so schwer erworbenen Nickel aus dem Zipfel seines Taschentuches.

Am letzten Tage vor dem heiligen Abend hielten Ali und ich noch einmal nebeneinander. Es war ein fürchterliches Gedränge in den Straßen, denn jeder, der noch etwas vergessen hatte, benutzte diese Zeit. Die Leute stießen sich ordentlich, aber alle machten fröhliche Gesichter. Die Schaufenster strahlten in der funkelnden Kälte ganz wunderbar, und in allen brannten unten kleine Gasflämmchen, damit die Scheiben nicht zufroren, und die Eisblumen nicht die Pracht der ausgestellten Sachen verdeckten. Der Schmeißweg mußte einpacken, denn in dem Gedränge hätten sie ihm sicher seine Figürchen zertreten. 84 Er hatte auch soviel verkauft, daß er ganz vergnügt mit dem Geld in seiner Tasche klimperte und vor sich hinsang:

»Ist mir alles eins, ist mir alles eins,
Ob ich Geld hab' oder keins.«

Er meinte es aber nicht so, sondern freute sich, daß er Geld hatte und seinem Ali zum Fest morgen eine schöne Bratwurst kaufen konnte. Dem lief schon das Wasser im Munde zusammen.

Plötzlich knurrte Ali: »Paß auf, Schlumski!«

Da sah ich, daß sich durch die Menschen einer durchdrängte und neben Lungrich stehen blieb. Er tat so, als sähe er nach den Figuren, die der Schmeißweg einpackte. Pfui, sah der Kerl aus! Ganz aschgrau im Gesicht, und so ein Paar böse Augen, und einen Stoppelbart. Und dann sagte er auf einmal: »Morgen, Lungrich.«

»Ja, Jule, ich hab auch nichts mehr, bin rein blank. Vorhin gab ich den letzten Taler weg, als ich zehn Mark wechseln mußte.«

»Kommst du zu mir?«

»Ja, morgen Abend. Die heilige Gesellschaft bei mir paßt mir doch nicht.«

Der Mann, den er Jule genannt hatte, lachte.

»Bringst du deinen Ede mit?«

»Immer los, er soll auch einmal bei's Handwerk.«

Der Fremde blinzelte ihm zu und schob sich zwischen die Menge. Ali und ich sahen uns an.

»Hast du verstanden?«

»Die Worte ja, den Sinn nicht. Weißt du, ich werde darüber spintisieren. Und dann die 85 Bratwurst! Wenn ich Bratwurst esse, bin ich immer gleich viel klüger. Du auch?«

Ich schämte mich, ihm zu gestehen, daß ich noch nie Bratwurst gegessen hatte, und sagte nur: »O, ich merke nichts Besonderes.«

Dann trennten wir uns. Wenn irgend möglich, wollte mich Ali in den Festtagen einmal besuchen, und wir wollten die Sache überlegen. –

Am nächsten Abend schloß Lungrich um acht den Laden und sagte, er wolle nun ausgehen, sie könnten ihren Weihnachten allein feiern. Schenken könne er ihnen nichts, die Zeiten seien zu schlecht. Aber sie dürften sich eine Kartoffelsuppe kochen und von dem Speck hineintun, den die Leute nicht mehr kaufen wollten. Die Kinder sollten jeder ein paar angefaulte Apfelsinen haben. Damit nahm er seinen Ede bei der Hand und ging los.

Am liebsten wäre ich ihnen nachgelaufen, zu sehen, wo sie blieben; aber die Freude war zu groß, daß wir nun für uns allein sein konnten. So blieb ich. Fried und Minna hatten auf den Plätzen, wo die Tannenbäume standen, abgefallene Zweige gesammelt. Die steckten sie nun in einen Blumentopf und hingen Sterne und Ketten daran. Sie hatten sie aus dem Silberpapier gemacht, in das die Apfelsinen eingewickelt waren, und das immer in den Kisten übrig blieb. Lichte hatten sie für ihr Bäumchen freilich nicht. Sie stellten den Tisch dicht an Peterchens Bett, dem es schon viel besser ging. Dann legten sie die Schürze für die Großsche drauf, auch eine für die Mutter und eine Jacke dazu, und noch ein wenig Geld eingewickelt daneben. Denn 86 die Jacke hatten sie nicht gekauft. Die hatte ihnen eine alte Dame geschenkt, zu der sie auch mit Zeitungen kamen, und eine ganze Mark dazu.

Ja, und dann riefen sie die Mutter und die Großmutter herein.

Nein, aber wie die sich freuten! Die Tränen liefen ihnen nur so aus den Augen. Die Großsche hatte auch für jeden ein Paar wollene Strümpfe, von der selbstgesponnenen Wolle, die sie noch in die Stadt mitgebracht hatte, und die Mutter einen Pfefferkuchen, und Peter bekam den Seehund mit der zerbrochenen Mechanik.

Ja, und dann machten sie ein wenig das Fenster auf, daß sie die Kirchenglocken hörten. Fried sagte die Weihnachtsgeschichte, und Minnachen einen Spruch, den sie in der Schule gelernt hatte.

Dann hatten sie sich lieb. Und mich holten sie zu sich.

»Denn der Schlumski gehört zu uns in Freude und in Not«, sagten sie. Und wenn ich auch keine Bratwurst hatte, so war ich doch sehr glücklich. 87


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