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Zweites Kapitel

Oft gedachte er der sonderbaren, interessanten Fürstin, die aber nichts von sich hören ließ. Im Konzert sah und begrüßte er sie, nachher traf er sie aber nicht mehr. Offenbar war die Dame aus Kiew auf ihr Gut zurückgereist. In diesem Leben würden sie sich also wohl kaum noch einmal sehen. Franzi machte einen Schlußstrich unter diese Bekanntschaft, obwohl er sich gern wieder mit ihr unterhalten hätte. Mit einer so klugen Frau zu plaudern war keine alltägliche Sache. Er fand sich sehr schnell damit ab, daß er sie nicht wiedersehen würde. Sein ganzer Lebensweg war übersät mit solchen verheißungsvoll beginnenden, aber nie sich voll auswirkenden Bekanntschaften.

Nach etwa zehn Tagen erhielt er einen Brief von ihr. Die Fürstin forderte ihn auf, sie zu besuchen. Unterschrieben war der Brief » La Princesse Carolyne Sayn-Wittgenstein«. Sie hieß also auch Karoline. Wie sonderbar, Karoline Unger war die erste Frau, die sein erwachendes Herz entflammt hatte. Caroline Saint-Cricq war die wahre große Leidenschaft seines Lebens gewesen. Und jetzt kreuzte abermals eine Karoline seinen Weg, die ihren Namen nach polnischer Art mit »y« schrieb. Als wollte das Schicksal damit ankünden, daß diese Frau auch einmal viel für ihn bedeuten sollte, aber eigenartiger, anders als die anderen …

Er besuchte sie. Die Fürstin empfing ihn auch diesmal unten in der Halle des Hotels, lud ihn aber zum Gabelfrühstück ein. Sie aßen zu zweit im engen Speisesaal. Um sie herum saßen schwerfällige, gemütvolle Menschen von ländlichem Aussehen, ukrainische Grundbesitzer, jeder eine russische Romanfigur für sich.

»Ich war gestern in der Kirche«, sagte die Fürstin, »wo ein ›Pater Noster‹ meine Aufmerksamkeit besonders erregte. Ich bin nämlich in der Kirchenmusik ziemlich gut bewandert, – diese Komposition war mir aber bislang noch unbekannt. Nach der Messe ließ ich mir den Küster kommen und befragte ihn durch den Organisten, wer dieses ›Pater Noster‹ …«

»Und es stellte sich heraus«, fuhr Franzi lächelnd fort, »daß es von mir war. Dieser Belloni ist ein außerordentlich geschickter Mann, er versteht seinen Beruf. Das pflegt er in jeder Stadt zu tun. Hat Ihnen mein ›Vaterunser‹ gefallen?«

»Sehr gut hat es mir gefallen. Ich sage damit aber viel zu wenig. Wissen Sie, ich war mir zuerst über Sie nicht ganz im klaren. Ich wußte nicht, wo ich Sie hintun sollte. Sollte ich Sie für einen Virtuosen ansehen, für so einen Paganini-Menschen, der seine bewunderungswürdige Technik in der ganzen Welt herumführt und damit sehr viel Geld verdient, oder sollte ich Sie für einen Dichter halten, für einen Musiker, der meiner sehr strengen Auffassung nach ein wirklicher Künstler ist? Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich damit sagen will …«

»Vollkommen, Durchlaucht. Sie sprechen mir aus der Seele. Fahren Sie bitte fort.«

»Ich habe Ihr Konzert aufmerksam verfolgt. Als Sie Beethoven spielten, empfand ich Sie als Dichter. Als Sie Opern-Fantasien vortrugen, kamen Sie mir wie ein Virtuose vor. Mein Urteil stand aber noch nicht endgültig fest, ich konnte mich ja auch irren. Als ich dann in der Kirche war, konnte ich mich nicht mehr irren. Sie sind ein Dichter. Der Virtuose hätte mich nicht weiter interessiert, der Dichter aber interessiert mich sehr. Deshalb würde ich es sehr begrüßen, wenn unsere Bekanntschaft nicht oberflächlich bliebe.«

»Sie sind zu gütig, Durchlaucht. Befassen Sie sich auch mit der Dichtkunst?«

»O ja. Ich trage mich mit einem großen Plan. Ich möchte zu Goethes ›Faust‹ einen mehrbändigen Kommentar schreiben. Kennen Sie den ›Faust‹?«

»Ich kenne ihn, soweit jemand überhaupt von diesem Werk behaupten kann, es zu kennen. Ich habe es von Anfang bis Ende dreimal durchgelesen. Im Augenblick ist es aber in mir nicht gegenwärtig. Bis jetzt war ich mit Petrarca beschäftigt. Ich habe mich von seinen Sonetten anregen lassen. Mit dieser Arbeit bin ich vor kurzem fertig geworden und habe mich kopfüber in eine neue gestürzt: die ›Divina Commedia‹ beschäftigt mich jetzt. Seit zehn Jahren habe ich es mir schon geschworen, eine Dante-Symphonie zu schreiben. Ich freue mich aber, daß ich das bis heute habe aufschieben müssen. Diese Arbeit darf nur ein reifer Mann in Angriff nehmen, und es hat sehr viel zu bedeuten, wenn an Stelle eines Sechsundzwanzigjährigen ein Sechsunddreißigjähriger sie ausführt. Jetzt bin ich von Dante ganz erfüllt. Ich habe große Pläne damit vor.«

»Können Sie mir Näheres darüber sagen?«

»Ihnen ja, Durchlaucht. Ich kenne in Weimar einen sehr begabten Maler, er heißt Genelli … aber nein, ich muß noch weiter zurückgreifen. In Italien überkam mich einst blitzartig die Erkenntnis, daß alle Kunst dasselbe ausdrücken muß. Mein Zukunftstraum ist, daß wir das, was wir zu sagen haben, nicht nur in einer Kunstform der Menschheit mitteilen können, sondern nach Möglichkeit durch mehrere Künste zugleich. Das Theater kommt dem schon nahe: in einer Opernaufführung zum Beispiel verkündet die Musik den künstlerischen Gedanken, die dramatische Dichtung spricht durch die Schauspielkunst zu uns, die Malerei, ja auch die Baukunst schaffen das Bühnenbild. Ich selbst habe große Lust zum Theater …«

»Verzeihen Sie, wenn ich Sie unterbreche, schreiben Sie keine Oper?«

»Ich hatte schon den Plan zu zwei Opern, – die eine, ›Sardanapal‹ betitelt, hatte ich sogar schon angefangen. Inzwischen habe ich aber die Arbeiten des Komponisten Richard Wagner kennengelernt. Die stehen ganz einzig da. Wenn es mir gelingt, in Weimar Fuß zu fassen, und dort die Leitung des Theaters in die Hände zu bekommen, will ich diesen Wagner unter allen Umständen dem Publikum nahebringen. Meine eigene Arbeit will ich zurückstellen, denn dieser Wagner kann bessere Opern schreiben als ich. Um aber zum Thema zurückzukehren: ich halte das Theater nicht für die einzige Möglichkeit, verschiedene Kunstarten zu vereinen. Ich habe mit jenem Maler Genelli unter anderem sehr viel darüber gesprochen, daß ich die Dante-Symphonie komponieren und er sie malen solle. Stellen Sie sich vor, daß Sie im Theater sitzen and Dante zugleich hören und sehen.«

»Wieso sehen?«

»Die Bilder Genellis könnte man projizieren, die Technik solcher farbiger Projektionen ist keineswegs unlösbar. Man könnte auch lebende Bilder stellen oder was weiß ich sonst noch. Zunächst halten wir aber noch daran fest, daß die Folge der Lichtbilder den Geist Dantes mit den Mitteln der Malerei und mein Orchester ihn durch die Musik wiedergeben müsse. Leider ist dazu sehr viel Geld erforderlich.«

Die Fürstin schwieg erregt. Und dann stieß sie hervor:

»Machen Sie eine ›Faust‹-Symphonie, und dieser Genelli soll die Bilder dazu malen. An den Vorbereitungen zu diesem Werk will ich teilnehmen, denn den ›Faust‹ kennt außer mir keiner so gut. Geld spielt keine Rolle, ich bin sehr reich. Wieviel Geld braucht man dazu? Zehntausend Rubel? Zwanzigtausend Rubel? Fünfzigtausend Rubel? Oder sagen Sie gar nichts, der Betrag spielt keine Rolle. Wovon hängt es ab, daß Sie in Weimar das Theater übernehmen?«

»Eigentlich hängt es nur von mir ab, das heißt, jetzt nicht einmal mehr von mir, denn ich habe sowohl der Großherzogin von Weimar als auch dem Erbgroßherzog in die Hand versprochen, daß ich mich einmal bei ihnen niederlasse, wenn es dazu kommt. Und mein Wort muß ich halten. Das ist aber eine sehr schwierige Frage … Ich kann mich nicht entschließen. Bis jetzt habe ich stets Ausflüchte gemacht, meine vertraglich festgelegten Konzertreisen und so weiter. Dieses Jahr aber werde ich meine Verträge nicht erneuern, so daß ich schon vor mir selbst keine Ausreden mehr habe … Und trotzdem ist mir eigentümlich zumute …«

»Warum? Was hindert Sie denn?«

»Das Alleinsein. Es erscheint mir einfach unmöglich, daß ich so ganz allein ein Heim gründen soll.«

»Sind Sie auch so einsam?«

»Sie auch?«

Sie sahen einander in die Augen. Franzi hätte am liebsten sofort sein nach einem Gefährten verlangendes Herz offenbart und zugleich die Geheimnisse der einsamen Seele der Fürstin voller Teilnahme mit angehört. Dazu kam es aber nicht. Es entstand eine Stille zwischen ihnen, die keiner von ihnen unterbrach. Dann kam der Kellner und brachte die Speisen. In alltäglichem Tone begann die Unterhaltung von neuem. Die Fürstin sprach von ihren »Faust«-Studien. Sie hatte das Werk Goethes im Original gelesen und kannte beide Teile fast auswendig. Als sie von den Mysterien des zweiten Teiles sprach, meinte Franzi:

»Gerade diese liebe ich am meisten. Bei solchen Stellen habe ich das Gefühl, daß sich alle Gäste einer großen, lärmenden Gesellschaft entfernt haben und daß ich mit dem einzigen Menschen allein geblieben bin, der mich unter allen interessiert … endlich allein.«

Er sagte das lächelnd und leichthin, meinte es aber ernst. Die großen schwarzen Augen der Fürstin hefteten sich mit einem tiefen Blick auf ihn. Freudige Überraschung und ein inneres Verstehen lag in diesem Blick. Sie sprachen noch lange über Goethe, über Musik, über Weimar und die Kunst. Endlich mußte Abschied genommen werden. Als sie sich die Hand reichten, sagte die Fürstin:

»Ich möchte, daß meine kleine Tochter Sie kennenlernt. Sie begeht jetzt ihren zehnten Geburtstag. Ich will ihr zu Ehren auf meinem Gut Woronice ein kleines Fest veranstalten. Hätten Sie keine Lust, auf ein oder zwei Tage zu uns zu kommen? Die Gastzimmer sind gut heizbar, das Klavier werde ich stimmen lassen. Hoffentlich geben Sie mir keinen Korb.«

»Im Gegenteil, ich bin sehr froh, daß ich kommen darf.«

Sie vereinbarten sofort den Tag und die Möglichkeiten der Abreise, mit einem Worte alles, und als sie sich endlich zum zweiten Male verabschiedeten, fanden sich ihre Blicke noch einmal. Die Fürstin sah von der Treppe noch einmal zurück, Franzi vom Hotelausgang. Sie lächelten beide.

Die Erinnerung an dieses Lächeln trug Franzi mit sich herum, solange er sich in der Hauptstadt der Ukraine aufhielt. Das gelbliche Fledermausgesicht ging ihm nicht aus dem Sinn. Verwundert prüfte er seine Gefühle: war es möglich, daß ihn diese Frau tiefer interessierte? Er war mit sich nicht im klaren. Er spielte mit seiner Sehnsucht. Er stellte sich die zarte Gestalt der Frau vor und malte sich den Augenblick aus, in dem er sie umarmen und küssen würde. Ob er sich danach sehnte? Nicht übermäßig. Dann spielte er wieder mit dem Gedanken, was er empfinden würde, wenn er infolge irgendeiner plötzlichen Nachricht auf die Einladung nach Woronice verzichten müßte? Nein, nein, – da sträubten sich seine Gefühle heftig. Er wollte unter allen Umständen nach Woronice.

Und er fuhr hin. Für vier Tage konnte er sich freimachen, und zwar in der Osterwoche. Der Schlitten fuhr durch endlose Schneefelder, die Wölfe heulten vor Kälte. Der Kutscher ließ mehr als einmal die Zügel der drei Pferde fallen und griff nach dem Gewehr. Durch ein fürchterliches Schneetreiben bahnten sie sich mühsam einen Weg. Die Gegend bot keinerlei Anhaltspunkte, und der Reisende staunte, wie sich der russische Kutscher in dieser öden Schneewüste zurechtfinden konnte. In Pelze und Fußsäcke gewickelt, ließ er sich nur von seinem Schicksal lenken. Er dachte an seine Jugend und an sein bisheriges Leben. Er war einst aus Raiding weggefahren und seit dieser Zeit war er immerfort unterwegs. Wo er einmal landen würde, das wußte nur der liebe Gott …

Endlich tauchte am Horizont ein dunkles Gehölz auf. Der Kutscher wandte sich um:

»Woronice.«

Nach einer Weile erreichten sie auch das aus armseligen Hütten bestehende Dorf. Dann fuhren sie neben dem zugefrorenen Gutsteich zu dem im polnischen Stil, ohne obere Stockwerke, gebauten Schloß. Mit steifen, eingeschlafenen Gliedern wankte Franzi schwerfällig in die Vorhalle. Dort erwartete ihn schon die Fürstin und neben ihr die kleine Tochter mit der englischen Erzieherin.

»Willkommen! Wie ich sehe, haben Sie die Wölfe Gott sei Dank nicht aufgefressen. Kommen Sie, ich will Sie meiner kleinen Tochter und Miß Anderson vorstellen. May I introduce you Mister Liszt. Jetzt aber schnell an den Kamin und schnell eine Tasse Tee. Sie haben später noch genügend Zeit, in Ihr Zimmer zu gehen. In einem solchen Falle ist der Tee das erste.«

Und schon saßen sie zu zweit in dem hellgrünen, saalartigen Zimmer, das von vier Seiten mit niedrigen Ottomanen umsäumt war. Vor dem Kamin das Fell eines mächtigen Eisbären, schwarz gepunktet von den an den langen Abenden herumfliegenden Funken. Den Samowar brachte ein Bauernbursche in ländlicher Tracht. Die Hausfrau ließ sich auf dem Eisbärenfell nieder und brannte sich eine Zigarre an.

»Wundern Sie sich, daß ich Zigarren rauche? Ich habe es mir bei meinem Vater angewöhnt. Er war ein Nachtschwärmer, und ich mußte bis zum Morgengrauen mit ihm wach bleiben. Vor Müdigkeit fielen mir fast die Augen zu, da gewöhnte ich mir das starke Rauchen an, um mich wach zu halten. Aber das dürfte Sie kaum stören, denn jetzt fällt mir ein, daß Sie ja George Sand bestimmt kennen.«

Franzi nickte. Er war nachdenklich. Es kam ihm vor, als hätte das Schicksal von allen den Frauen, die bisher sein Leben gekreuzt hatten, eine kleine Eigenart in diese neue Frau verpflanzt, denn er wußte jetzt schon, daß ihn diese Frau viel beschäftigen würde … Als die Fürstin so ungezwungen auf dem Bärenfell lag, wurde sie zu dem, als was sie bisher nicht erschienen war: zu einer Frau, einer begehrenswerten Frau. In ihrem unregelmäßigen Gesicht strahlten die diamantschwarzen Augen mit einem Male fraulich und reizvoll. Die Augen des Mannes liefen die zarte mädchenhafte Gestalt in dem mit bäuerlichen Stickereien geschmückten Hauskleid entlang. Er nahm ihre unwahrscheinlich schmalen Fesseln und ihren kleinen Fuß wahr …

»Diese Frau wird mir gehören«, sagte er zu sich. Nicht als geplante Absicht, sondern als Feststellung dessen, was schicksalsmäßig geschehen mußte.

Er trank seinen Tee und setzte sich ans Klavier.

»Was spielen Sie?«

»Berlioz' ›Faust‹, den er mir gewidmet hat. Er hätte ihn auch Ihnen widmen müssen.«

»Spielen Sie das nicht, sondern etwas Eigenes. Irgend etwas Religiöses. Sie müssen nämlich wissen, daß dieses Haus ein sehr religiöses Haus ist. Wir haben eine eigene Kapelle, einst hielten wir auch einen Kapuzinermönch hier, der uns jeden Tag eine Messe lesen mußte. Jetzt laste ich den Pfarrer von weither kommen, er wohnt eine Tagereise entfernt. Ach Gott, ich rede hier so viel und Sie waren noch nicht einmal in Ihrem Zimmer. Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Haus. Zum Musizieren haben wir später noch Zeit.«

Franzi hatte schon viele ländliche Schlösser gesehen, er war schon in spanischen Villen, mit Zimmern ohne Decke, in alten englischen Schlössern gewesen, – er kannte die deutschen, ungarischen, französischen, italienischen und rumänischen Schlösser, und jetzt lernte er diesen polnischen Landsitz kennen. Die Fürstin stammte aus einer polnischen Familie, sie war die einzige Tochter eines polnischen Nabobs namens Iwanowski, ihren alten Vater hatte vor einigen Jahren in der Kirche während der Messe der Schlag getroffen. Dieses Schloß hatte ihm gehört, in seiner Bibliothek standen noch unverändert die Büsten, die er einst von den Großen der Philosophie zusammengekauft hatte. Die Wände des Speisesaales schmückten viele, viele ausgestopfte Papageien, die der alte Iwanowski von seiner Auslandsreise mitgebracht hatte. Im ganzen Schloß waren nur zwei Zimmer modern eingerichtet. Das eine davon war das schneeweiße Zimmer der kleinen Tochter, das zweite das Schlafzimmer der Fürstin Carolyne. An grautapezierter Wand erhob sich ein mächtiges Kruzifix, davor ein flammendroter Betschemel. In den anderen Räumen sah er Ahnenbilder, alte polnische Bauerngewebe, eigenartige Möbel, Waffen.

»Es gefällt mir außerordentlich«, sagte Franzi, »wie echt polnisch hier alles ist. Ich muß von hier aus unbedingt an Chopin schreiben.«

»Ja, wir sind eine sonderbare Familie. Mein Mann ist der Sohn eines stark konservativen zaristischen Generals, mein ältester Vetter hingegen, Dionysius Iwanowski, lebt in Irkutsk mit seiner Frau und mit seinen drei erwachsenen Töchtern als sibirischer Verbannter.«

Franzi schwieg. Es war das erste Mal, daß die Fürstin ihren Mann erwähnte. In Kiew hatte er schon dieses und jenes von ihm gehört. Er hatte erfahren, daß das fürstliche Paar lange Zeit hindurch in Kiew das Leben einer großstädtischen Familie geführt hatte. Ihr Eheleben war aber sehr stürmisch, da der junge Fürst, ein auffallend schöner Mann, Nächte hindurch zechte, Karten spielte und den Damen den Hof machte. Seit sie getrennt lebten, ließ er die Zügel noch mehr schießen.

»Bitte, das ist Ihr Heim. Sie haben einen Diener vollkommen zu Ihrer Verfügung. Wenn er etwas verkehrt macht, muß man ihn schlagen. Das ist die einzige Möglichkeit, mit ihm zurecht zu kommen.«

»Schlagen? Einen Menschen?«

»Das sind keine Menschen, mein lieber Freund. Wenn Sie sich länger hier aufhielten, würden Sie es auch erkennen. Das sind Sklaven, allesamt mein Privateigentum, wie mein Taschentuch. Wenn es mir gefällt, kann ich sie töten. Man würde es gar nicht bemerken. Ich habe dreißigtausend von ihnen. Auf Wiedersehen.«

Der Gast blieb allein und pfiff vor sich hin. Über die russischen Verhältnisse wußte er schon einigermaßen Bescheid und konnte ermessen, daß ein Gut mit dreißigtausend Bauernseelen ein unermeßliches Vermögen darstellte. Alles, was dreißigtausend Arbeiter schaffen konnten, die Früchte ihrer Mühen, gehörte dieser zarten Frau, die hier inmitten der endlosen Schneefelder zurückgezogen lebte, in ihrem gattenlosen Alleinsein von der Kunst schwärmte und zu Goethes »Faust« einen Kommentar schreiben wollte.

Das Abendbrot nahmen sie zu viert ein. Bei Tisch wurde englisch gesprochen. Die kleine Prinzessin Maria war ein liebes, zartes und sehr gescheites Mädchen, das an der Unterhaltung mit einer ihm angeborenen Zurückhaltung nur teilnahm, wenn es gefragt wurde. Ihr Gesicht wies ausnehmend schöne Züge auf, sie glich ihrer Mutter in keiner Weise, ja es schien fast unglaubhaft, daß dieses Mädchen dieser Mutter gehörte. Franzi fiel ferner auf, daß auch die Fürstin Carolyne ihrer Mutter nicht ähnlich sah, deren lebensgroßes Bild im Salon hing. Diese Frau Iwanowski mußte in ihrer Jugend eine strahlende Schönheit gewesen sein, und die Fürstin erzählte gerne und ausführlich von ihr, welche Erfolge sie im Salon der Metternichs in Wien gehabt und wie herrlich sie gesungen habe, was ja auch kein Wunder war, da Rossini selbst ihre Stimme ausgebildet hatte.

Auf Schritt und Tritt tauchten die Namen gemeinsamer Bekannter in ihrer Unterhaltung auf. Jeder einzelne Name brachte sie einander näher, das war der sicherste Weg zur Vertrautheit. Nach dem Abendessen zog sich die kleine Tochter mit der Miß zurück, und sie blieben wieder zu zweit. Franzi setzte sich ans Klavier und spielte religiöse Kompositionen.

»Ich sehe den rechten Weg für Sie deutlich vor mir«, sagte die Fürstin in der tiefen Stille der Nacht, als das Klavier schwieg. »Ihr heiligster Beruf ist die kirchliche Musik. Ich wäre glücklich, wenn ich Sie davon überzeugen könnte. Es ist möglich, daß mein tiefer Katholizismus der Vater des Gedankens ist, ich glaube aber unerschütterlich an das, was ich sage.«

»So sehr sind Sie Katholikin?«

»Mit Leib und Seele. Die Tragödie meines Lebens war, daß ich durch den unbeugsamen Willen meines Vaters die Frau eines Protestanten wurde. Wie hätte das auch eine gute Ehe sein können, ohne die seelische Gemeinschaft der Religion? Es ist meine heilige Überzeugung, daß ich gegen das Sakrament der Ehe gesündigt habe, als ich die Frau des Fürsten Sayn-Wittgenstein wurde, und daß der liebe Gott mich dafür mit Recht strafte. Jetzt muß ich mein eigenes einsames und auch das vaterlos gewordene Schicksal meiner Tochter tragen.«

»Der Fürst kümmert sich gar nicht um das Kind?«

»Mein Gott, er liebt es nach seiner Art. Das Kind hat aber keinen Vater, das ist wahr. Und ich bin auch unsagbar allein. Die Religion ist mein einziger Trost. Die Religion ist für mich alles. Wissen Sie, ich glaube, daß man zu allem im Leben Begabung braucht, auch zur Religiosität. Ich bin darin, glaube ich, eine wahre Begabung. Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand anderes mehr im Gebet aufgehen könnte als ich. Wenn ich mich auf meinen Gebetschemel vor dem Heiland hinkniee, dann werde ich plötzlich körperlos. Ich kann die Schwärmerei, ja sogar die besinnungslose Hingabe der Heiligen und Märtyrer begreifen.«

Franzi war mit einem Male neben der Fürstin, die auf dem Bärenfell lag und eine Zigarre rauchte. Er ergriff die Hand der Frau und kniete neben ihr nieder.

»Das geben Sie mir wieder, Fürstin, das, das! Auch ich habe einst so geglaubt und diesen Glauben dann verloren. Ich bitte Sie flehentlich, lehren Sie mich von neuem zu glauben, und ich werde bis zu meinem Lebensende Ihren Namen segnen.«

Seine Augen wurden feucht. Die Fürstin entzog ihm ihre Hand nicht. Sie setzte sich auf dem Bärenfell aufrecht hin und sah dem Künstler tief in die Augen.

»Ich übernehme diese Aufgabe. Sie müssen aber ganz und gar ehrlich zu mir sein.«

»Gerne.«

»Setzen Sie sich schön auf den Schemel da und erzählen Sie mir Ihr Leben von Anfang an bis jetzt.«

Franzi setzte sich, blickte aber suchend umher. Die Fürstin verstand diesen Blick. Sie schob einen Tisch heran, auf dem Likör- und Kognakflaschen standen. Franzi wählte sich die Kognakflasche, die noch zur Hälfte gefüllt war, und begann zu erzählen. Die Fürstin hörte schweigend zu, sie unterbrach ihn nicht ein einziges Mal. Die unverhohlene, ungeschminkte, selbstquälerische Beichte dauerte fast bis zum Morgengrauen. Die Fürstin hatte in der Zeit eine ganze Menge Zigarren geraucht, und die Kognakflasche Franzis war bis auf den letzten Tropfen geleert.

»Morgen werde ich Ihnen mein Leben erzählen. Jetzt gehen wir schlafen. Sie ruhen, solange Sie wollen. Eine Hausordnung gibt's nicht. Gute Nacht.«

Franzi nahm seine ganze Kraft zusammen, um sein Gleichgewicht zu bewahren. Die halbe Flasche Kognak war ihm doch zu Kopf gestiegen. Vor dem Einschlafen wollte er noch ein wenig über die Fürstin nachdenken, seine Gedanken flossen jedoch berauscht ineinander. Als er am Tag darauf um die Mittagsstunde erwachte, ließ er sich Tee kommen und goß ungewöhnlich viel Rum hinein. Das überzog seine Gedanken mit einem leichten Schleier, war aber kein Rausch. Der Tag verging mit der Geburtstagsfeier der kleinen Prinzessin. Eine Bauernabordnung brachte Milchbrot, die Bauernburschen sagten ein Begrüßungsgedicht her, im Vorzimmer ertönte die Serenade eines Orchesters.

»Sie haben auch ein Orchester hier?« staunte Franzi.

»Mein Mann liebt die Musik sehr«, entgegnete die Fürstin gleichgültig, »er hat unter den Bauern diese paar Leute ausgewählt. Wenn in der Kapelle bei uns eine Messe gelesen wird, spielen sie auch zum Gottesdienst.«

Nachmittags hielten sie eine Andacht ab, die von der kleinen Tochter geleitet wurde. Sie knieten alle miteinander nieder, das kleine Mädchen las geübt aus dem Brevier, sie sprach die Gebete vor und benahm sich ganz reizend. Franzi empfand eine zärtliche Zuneigung zu ihr. Aber auch ein schmerzliches Gefühl schnitt in sein Herz: die Sehnsucht nach seinen schon so lange nicht mehr gesehenen drei Kindern. Er hatte erst unlängst einen Brief von ihnen erhalten. Daniel schrieb seine ungelenken Zeilen schon selbst, er war bereits acht Jahre alt …

Abends nahmen sie wieder zu zweit am Kamin des grünen Zimmers Platz. Jetzt war die Reihe an der Fürstin Carolyne. Ihre Geschichte war viel kürzer. Sie schilderte ihre Kindheit, die in ihrem Geburtsdorf Monastersk verlebten ersten Jahre, die Stimmung der unendlichen Steppen, den leidenschaftlichen Zwist ihrer Eltern und deren Scheidung. Dann hielt sie sich abwechselnd bei ihrer Mutter und bei ihrem Vater auf. Ihre Mutter war dauernd auf Reisen und nahm sie stets mit, wenn sie bei ihr war. Der Vater hingegen erzog sie zu einem Jungen. Er ließ sie reiten, Männerkleidung tragen, hieß sie Wein trinken und gewöhnte sie ans Rauchen. So erreichte sie ihr siebzehntes Lebensjahr. Auf den eisernen Befehl ihres Vaters wurde sie dann die Frau des Fürsten, den sie schon dreimal zurückgewiesen hatte. Sie lebten in Kiew. Stürmische Auseinandersetzungen waren bei ihnen an der Tagesordnung. Endlich zwang sie den Fürsten, den Heeresdienst zu quittieren und die Verwaltung von Moronice in die Hand zu nehmen. Hier umgab sie im Winter ewiger Schnee, im Herbst und Frühling unabsehbarer Schlamm und Morast, und im Sommer quälte sie die unerträgliche Hitze. Wegen der schlechten Straßen erhielten sie selten Besuch, ja sogar die Post kam spärlich. Die Nachrichten von Familie zu Familie vermittelte ein Reiter. Der Fürst, an Abwechslung und Vergnügungen gewöhnt, ertrug dieses Leben nicht, – sie trennten sich.

»Kommen Sie noch manchmal zusammen?«

»O ja … ab und zu möchte er das Kind sehen. Zumeist verbringen wir den Sommer zusammen. Der Fürst von Leiningen hat die Schwester meines Mannes geheiratet. Für die Sommersaison pflegen wir mit ihnen gemeinsam nach Odessa zu fahren.«

»Nach Odessa? Das ist ja wundervoll. Im Sommer konzertiere ich dort. Dann sehen wir uns. Erzählen Sie doch noch mehr von sich selbst, Durchlaucht, und wenn es nur belanglose Kleinigkeiten sind. Mich interessiert alles unsagbar.«

»Gerne. Aber nur unter einer Bedingung: daß Sie keinen Kognak mehr trinken. Für heute war's genug.«

»Sie können gar nicht ermessen, Fürstin, wie glücklich Sie mich mit dieser Bedingung machen. Das ist es ja gerade, wonach ich mich sehne. Daß sich jemand um mich sorgt und kümmert. Es ist schmerzlich, daß wir nicht immer beisammen sein können.«

»Ja, sehr … Sie sind zwar ohnehin ein bedeutender Mann. Ich könnte aber aus Ihnen einen noch bedeutenderen machen.«

»Wie würden Sie denn das anfangen?«

»Ich würde an Ihrer Kunst teilnehmen. Ich würde versuchen, Ihre Gedanken zu beflügeln, aber nur so weit, als das einem schöpferischen Menschen nicht unbequem ist. Ich würde für Sie immer Hilfe sein, niemals Hindernis. Zur Arbeit würde ich Sie immer von neuem anregen und begeistern. Wenn Sie verzagen, würde ich Ihnen den Glauben wiedergeben. Aber vor allem würde ich Sie zum Katholizismus zurückführen. Zu unbedingtem Glauben. Ich würde nicht eher ruhen, als bis ich Sie überzeugt hätte, daß weder der Abbé Lamennais, noch Lamartine, noch jene Menschen im Rechte sind, die glauben, aus ihrem eigenen unzulänglichen Verstande eine Religion gründen zu können, sondern daß einzig und allein unsere heilige Kirche im Rechte ist, die die Offenbarung selbst ist. Ich würde Sie wieder zu einem wahren Katholiken machen, wie Sie es in Ihrer Jugend waren. Und ich wäre überglücklich, wenn ich dem Ruhme Christi hier auf Erden einen musizierenden Seraph gewonnen hätte.«

»Das wäre wunderbar«, flüsterte Franzi.

»Ja, das wäre wunderbar«, gab die Fürstin leise zurück.

Sie sahen einander in die Augen und senkten errötend den Blick … Dann sprachen sie wieder über Musik. Franzi offenbarte ihr alle seine Pläne. Er erzählte von den Plänen zu Symphonien, von der dem Bischof zu Fünfkirchen versprochenen Messe, dem »Totentanz« und der »Bergsymphonie«, die er nach den Hugo'schen Versen vertonen wollte. Dann sprachen sie über Weimar. Die Fürstin war unbedingt dafür, daß er die Einladung des Großherzogs annehmen solle. Mit großer Begeisterung setzte sie sich für die Dante-Bilder ein und, auf ihre Faustpläne verzichtend, erklärte sie sich bereit, dem Weimarer Theater bis zu zwanzigtausend Rubel zur Verfügung zu stellen, falls man diesen Plan verwirklichen wolle … Bis Sonnenaufgang verweilten sie im Gespräch. Und am dritten Tage auch wieder. Es war Karfreitag. Franzi hatte in der erschütternden Stimmung dieses heiligen Festes fast den ganzen Tag auf seinem Zimmer verbracht. Er ging in sich und betete viel. Andächtig und inbrünstig bat er den Herrgott, er möge seine Seele erleuchten, damit er sich über seine Gefühle ganz klar werden und über sich selbst entscheiden könne. Es wurde Abend, ehe er endlich zu einem Entschluß gelangte. Als er mit der Fürstin allein war, sagte er:

»Ich muß morgen reisen, Durchlaucht. Aber nur mein Körper geht von hier, meine Seele bleibt bei Ihnen. Ich liebe Sie. Ich habe mir genau überlegt, was ich sage, und ich möchte, daß Sie mir darauf eine Antwort geben.«

Die Fürstin sah ihm offen und gerade in die Augen und entgegnete ruhig:

»Diese Antwort kann ich Ihnen geben. Mein Körper bleibt hier, mein Herz aber wird morgen mit Ihnen gehen. Ich habe mir gleichfalls sehr wohl überlegt, was ich sage: auch ich liebe Sie. Ich liebe zum ersten Male in meinem Leben. Und ich kann auf das Kruzifix schwören, daß es auch das letzte Mal ist. Mag in unserem Leben kommen, was will, Sie bleiben das einzige wahre Gefühl meines Lebens. Ich weiß, daß ich einst mit dem Namen meines Kindes und auch dem Ihrigen auf meinen Lippen sterben werde.«

Sie sahen einander mit durchgeistigtem Gesicht an, wortlos, glückselig. Der Zauber schwärmerischer Aufrichtigkeit hatte das unscheinbare Gesicht der Frau zu strahlender Schönheit verklärt. Sie war wie eine in ein Gebet versunkene Heilige. Sie reichte ihm ihre Hand. Franzi küßte die zarte, feine Hand. Dann wollte er die Frau langsam an sich ziehen. Da nahm sie ihre Hand zurück.

»Nein, nein, küssen Sie mich nicht. In diesem Hause nicht. Offiziell ist es das Heim meines Mannes. Später … später vielleicht … Wenn Gott es so will … Ich werde jeden Tag zu ihm beten, daß ich die Ihre werden darf … Nicht wahr, Sie sind mir nicht böse und verstehen mich?«

»Ich verstehe und bewundere Sie, Carolyne. Auch ich werde jeden Tag beten …«

»Und Sie kommen hierher zurück, sobald Sie können?«

»Ich komme zurück, sobald es möglich ist. Zunächst sehen wir uns aber im Sommer in Odessa wieder. Und dann werden wir einander schreiben.«

»Ja. Jetzt kommen Sie mit.«

Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn ins Schlafzimmer, geradewegs vor den Betschemel. Dort ließen sie sich beide auf die Knie vor dem Kruzifix nieder. Ihre Stirnen auf die Lehne des Betschemels gestützt, beteten sie. Sie knieten lange Zeit so nebeneinander. Dann erhob sich die Fürstin und auch Franzi richtete sich auf. Die Fürstin machte das Zeichen des Kreuzes auf seiner Stirn.

»Jetzt gehen Sie und vergessen Sie nicht, daß von diesem Augenblick an jeder Ihrer Schritte mir gehört. Gott mit Ihnen.«

Franzi ging. Sein Blick fiel auf das Bett und sah ein gesticktes, hellblau seidenes Nachthemd dort liegen. Ein leichter Schauer überlief ihn. Er unterdrückte aber sofort die Begierden der irdischen Liebe. Er fühlte, daß er das, was er so flehentlich ersehnte, endlich gefunden hatte: die Einzige, die wahre Hälfte seiner Seele, die große und heilige Liebe.


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