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Der Geburtstag der Großherzogin am 16. Februar war jedes Jahr das traditionelle Fest des Weimarer Theaters. Zu dieser Gelegenheit sorgte das Theater stets für eine besonders wirksame Darbietung. Franzi beschloß, die an sich kühne Tat der Erstaufführung des »Tannhäuser« mit einer noch kühneren zu übertrumpfen: er wollte das Werk an diesem Tage zum ersten Male aufführen.
Er ging nach einem gut durchdachten Plan vor. In den Unterrichtsstunden sprach er mit der Großherzogin von der »Tannhäuser«-Ouvertüre. Er erklärte seiner allerhöchsten Schülerin, was in diesem Werke so schön und künstlerisch kühn sei. Die alte Dame hatte, neben dem Klavier sitzend, seinen Ausführungen aufmerksam gelauscht. Zuerst fand sie das Ganze wild und barbarisch. Langsam aber gewöhnte sie sich daran. Da ging Franzi einen Schritt weiter, ließ die Stimmen des Orchesters verteilen, übte mit ihm und setzte die Aufführung auf einen Novemberabend fest. Das Programm dieses Abends war gemischt. Es wurde der vierte Akt der »Hugenotten« in voller Ausstattung aufgeführt, und zum Schluß bot der Bühnentechniker eine große Überraschung: nach Zeichnungen, die er von der Großherzogin erhalten hatte, zauberte er den Springbrunnen des Zarenschlosses in Peterhof mit echten Wasserstrahlen auf die Bühne. Das Publikum war entzückt – weniger vom »Tannhäuser« als vom Springbrunnen. Aber Franzi machte sich nichts daraus. Seine Absicht war, der Großherzogin das Werk Wagners durch das Orchester näherzubringen. Und das war ihm gelungen.
»Wie hat es gefallen?« erkundigte er sich, in die Hofloge tretend.
»Sehr gut«, erwiderte die Großherzogin, »eine sonderbare, wilde Musik, aber in der Tat sehr bedeutend, anregend und talentvoll.«
»Ich bin glücklich, daß Sie so denken. Ich möchte mir erlauben, Ihnen diesbezüglich morgen einen Vorschlag zu unterbreiten.«
Am folgenden Tage brachte er seine Bitte während der Harmonielehre vor. Nunmehr besprach er mit der Großherzogin fast das ganze Werk. Dann fragte er:
»Was würden kaiserliche Hoheit dazu sagen, wenn zu Ehren des Geburtstages Euerer kaiserlichen Hoheit dieses Werk aufgeführt würde?«
»Liegt Ihnen soviel an dieser Musik?«
»Kaiserliche Hoheit, für diese Musik trete ich rückhaltslos mit meiner ganzen Person ein. Ich bitte, die ganze Angelegenheit so zu betrachten, als ob es ein Werk von mir wäre.«
»Wenn Sie mir das Messer an die Kehle setzen, kann ich freilich nichts anderes als ja sagen.«
»Ich kann also dem Intendanten mitteilen, daß der Hof die Festaufführung des ›Tannhäuser‹ genehmigt?«
»Das können Sie. Der Intendant soll es morgen meinem Manne offiziell melden, und mein Mann wird seine Zustimmung erteilen.«
Franzi rannte zu Ziegesar. Dieser war ein Mann von hohem Geist und erlesenem Geschmack, der dank seiner gesunden Einstellung mehr von Musik verstand als viele andere mit ihrer mühsam erlernten Wissenschaft. Die »Tannhäuser«-Ouvertüre hatte ihn außerordentlich gefesselt. Und als ihm Franzi den kühnen Plan verriet, half er gerne mit. Innerhalb von drei Tagen wußte schon jedermann am Theater, daß als Festaufführung im Februar die durchgefallene Oper des Dresdner Dirigenten in Aussicht genommen war, die bis jetzt noch jedes Theater lächelnd zurückgewiesen hatte. Diese Nachricht versetzte sowohl die Sänger als auch die Musiker in maßlose Verwunderung. Hatte dieser Liszt denn den Verstand verloren?
Am Abend speiste er im »Erbprinzen«. Er war sehr schlechter Laune, denn die Zeitungen enthielten verhängnisvolle, blutige Nachrichten aus Ungarn. Die Armee Franz Josephs war unter der Führung des Herzogs Windischgraetz in einer Schlacht nach der anderen siegreich gewesen. Kossuth hatte die Habsburger abgesetzt und damit den Weg zum Frieden verbaut. Schober, der sich als österreichisch-ungarischer Gesandtschaftsrat in Weimar aufhielt, war gezwungen, diese Nachrichten zu bestätigen. Franzi war zerstreut und nervös. Die Gesellschaft an seinem Tisch machte ihn noch unmutiger, denn alle sprachen nur von »Tannhäuser« und machten kein Hehl daraus, daß sie die Wahl zumindest für sehr übereilt hielten. Insbesondere ein großherzoglicher Kammerherr, namens von Mangold, der wegen seiner Großspurigkeit berühmt war, redete in höchsten Tönen.
»Ich verstehe Sie einfach nicht, Meister, haben Sie denn kein anderes Stück finden können?«
»Doch, ich hatte eins. Berlioz' Oper ›Benvenuto Cellini‹. Wenn ich die neue musikalische Bewegung in Weimar zu Ansehen bringen will, stünde das erste Wort gewiß Berlioz zu. Er ist Wagner vorausgegangen. Aber der Komponist des ›Benvenuto Cellini‹ ist Franzose, und die Oper spielt in Italien. Ich halte es daher nicht für angebracht, gerade dieses Werk an einem deutschen Nationalfeiertage aufzuführen. Wagner ist Deutscher, und auch der Inhalt seines Werkes ist wahrhaft deutsch. Glauben Sie nicht, meine Herren, daß mir die Sache leicht gefallen ist. Ich schätze zum Beispiel auch Meyerbeer sehr hoch. Für die Festvorstellung käme er ebensogut in Betracht. Ich habe trotzdem Wagner gewählt, obwohl ich weiß, daß er Meyerbeer als Meister der Instrumentation bald weit hinter sich lassen wird. Ich habe mir alles das gründlich überlegt, fügen Sie sich, meine Herren.«
»Ich füge mich aber nicht«, entgegnete von Mangold beleidigt, »und wenn Sie meine Meinung schon herausfordern: ich halte diese Wahl für eine Eselei.«
Franzi sah den erregten Mann lange an. So etwas hatte noch nie jemand zu ihm gesagt.
»Sie halten es für eine Eselei? Ich hingegen weiß, daß mein Weg zwischen vielen Eseln hindurchführt. Trotzdem gehe ich meinen Weg. Der ›Tannhäuser‹ wird aufgeführt. Haben Sie verstanden?«
Der Kammerherr wurde blaß, erwiderte nichts, erhob sich und ging hinaus.
Nach einigen Tagen erhielt Franzi eine Vorladung vom Weimarer Gericht. Der Kammerherr hatte ihn angezeigt: Franz Liszt habe das Weimarer Publikum »Esel« beschimpft. Laut Paragraph soundsoviel des Großherzoglich Weimarischen Strafgesetzbuches sei jedoch eine Beleidigung der gesamten Bürgerschaft zu ahnden.
»Angeklagter, haben Sie diese Äußerung getan?«
»Jawohl. Die Vernehmung der Zeugen ist überflüssig. Ich habe es nur nicht so gemeint, wie es mir der Kläger auslegt.«
»Bedaure. Das Urteil lautet: zwanzig Taler Strafe. Erkennen Sie dieses Urteil an, oder wollen Sie Berufung beim Oberlandesgericht in Jena einlegen?«
»Ich lege Berufung ein.«
Die Gerichtsverhandlung dauerte fünf Minuten, die Berufung wochenlang. Franzi wäre am liebsten aus der Haut gefahren vor Zorn, als er mitten in der angestrengtesten Probezeit einen vollen Tag durch die Jenaer Gerichtsverhandlung verlor, obwohl die ganze Sache nur eine Formalität war. Der Richter in Jena erhielt nämlich von der Großherzogin Maria Pawlowna eine vertrauliche Mitteilung, wonach der Hof zwar nicht beabsichtige, das Urteil des Gerichts zu beeinflussen, trotzdem aber die Verurteilung von Franz Liszt nicht für wünschenswert halte. Der Richter in Jena sprach den Angeklagten frei.
Franzi nahm die Gelegenheit wahr, mit seinem Freund Gille, dem Jenaer Komponisten, der viel für die moderne Richtung in der Musik übrig hatte, noch schnell zu Mittag zu speisen, dann fuhr er in aller Eile nach Weimar zurück. Er hatte den Kopf voller Sorgen. Die Musiker lachten die neue Musik einfach aus. Offen getrauten sie sich zwar nicht mit ihrer Meinung heraus, sobald Franzi ihnen aber den Rücken drehte, höhnten und spotteten sie. Sie probten nur ganz oberflächlich, und der Dirigent mußte eine übermenschliche Kraft aufwenden, um etwas aus ihnen herauszuholen. Die Sänger studierten ihre Rollen auch nur mit halbem Herzen, er war auf einen großen Mißerfolg vorbereitet. Die Dekorationen waren auch nicht gerade zum besten ausgefallen, und sogar der gutmütige Intendant wurde ungemütlich, als für noch eine neue Dekoration und neue Kostüme Geld verlangt wurde. Der Hauptdarsteller, Herr Götze, gab seine Rolle sechs Tage vor der Aufführung zurück, meldete sich krank und legte sich ins Bett. Er bangte für den guten Ruf seines Namens im Falle eines Mißerfolges. Franzi schickte den Regisseur Genast sofort nach Dresden, um den ersten »Tannhäuser«, den ausgezeichneten Tichatschek, zu bitten, ihm behilflich zu sein. Der wäre auch gern gekommen, aber der Intendant in Dresden, Lüttichau, der Wagner keineswegs zugetan war, verweigerte ihm den Urlaub. Franzi lief zum Hof und bat um Unterstützung. Er kam aber gerade sehr ungelegen, denn die Erbgroßherzogin lag im Wochenbett. Alles ging schief, alles Unheil brach mit einemmal über ihn herein, er wurde von dem vielen Schreien ganz heiser und zog sich auch noch eine Erkältung zu. Vom Fieber geplagt, besuchte er die Proben und konnte nachts vor Hustenanfällen kaum schlafen.
Und am Festabend wurde »Tannhäuser« doch aufgeführt. Vor dem Dirigentenpult stand im Frack der langhaarige Mann, der mit so stählerner Hartnäckigkeit und Zähigkeit die ganze schon als verloren geltende Sache vorwärtsgetrieben hatte. In der Hofloge saß die großherzogliche Familie, neugierig, was wohl aus dieser unsinnigen Sache werden würde, in die sie ihr eigensinniger Liebling hineingetrieben hatte. In einer anderen Loge hatte die Fürstin Sayn-Wittgenstein Platz genommen, mit vor Erregung blassem Gesicht. Dem Komponisten selbst war es nicht vergönnt, anwesend zu sein, er konnte als Operndirigent sein Dresdner Theater nicht im Stich lassen.
Vor einem lächerlichen Mißerfolg konnte ihn an diesem Abend nur ein Wunder retten. Und das Wunder geschah. Das Stück fiel nicht durch. Die Ouvertüre, die das Publikum schon zum zweiten Male hörte, wurde begeistert aufgenommen. Tichatschek, einer der besten Tenöre der deutschen Bühne, ein echter, großer Künstler, hatte doch noch Urlaub bekommen und sang herrlich. Selbst die Musiker wußten nicht, wie ihnen geschah, irgendwoher strömte ihnen ein erregendes Feuer zu, das sie unwiderstehlich mitriß. Dasselbe widerfuhr den Sängern und sogar den Zuhörern. Als ob eine überirdische Gewalt sie alle verzaubert hätte. Auf den ersten Akt folgte lebhafter Beifall, nach dem zweiten Akt steigerte er sich gewaltig, und als Milde, der Bariton, mit seiner schönen Stimme als Wolfram das Lied vom Abendstern sang, brachen die Zuhörer bei offener Szene in einen wahren Beifallssturm aus. Das Publikum verließ das Theater mit dem klaren Bewußtsein, daß diese Aufführung ein großer Erfolg gewesen war.
Drei Tage danach fand die Wiederholung statt, obwohl es anfangs unmöglich schien, das Stück nach der Erstaufführung noch einmal auf den Spielplan zu setzen. Auch die zweite Aufführung war gut besucht. Man hätte es sogar noch ein drittes Mal spielen können. Der Tenor mußte jedoch wieder nach Dresden zurück. Daß er dort dem Komponisten den großen Erfolg begeistert geschildert hatte, war aus dem Briefe Wagners ersichtlich. Franzi selbst war auch glücklich. Um das Eisen zu schmieden, solange es heiß war, besuchte er den Erbgroßherzog und berichtete ihm über den »Lohengrin«. Er erzählte ihm den ganzen Inhalt und machte ihn am Klavier mit den Schönheiten der Musik bekannt. Der Erbgroßherzog, dem auch der Tannhäuser sehr gut gefallen hatte, fing Feuer. In seiner Begeisterung schrieb er Wagner einen Brief, in dem er mit seiner Anerkennung nicht geizte. Er bezeichnete den »Lohengrin« schlankweg als »die größte Schöpfung unserer Zeit«. An den Abenden, die Franzi mit der Fürstin verbrachte, erklärte er ihr mit leuchtenden Augen, daß dies alles nur der Anfang sei. Er würde auch weiterhin so mit Siebenmeilenstiefeln vorwärtsgehen, Weimar würde der Mittelpunkt der musikalischen Welt werden. Was einst Goethe und Schiller durch ihre Dichtungen aus dieser Stadt gemacht hatten, das würde er durch die Musik schaffen.
Sobald sie aber von etwas anderem als von Musik redeten, hatten sie allen Grund, mit sorgenvoller Miene in die Zukunft zu sehen. Eines Tages stürzte Schober bleich zu ihnen herein. Er brachte eine furchtbare Nachricht. Kaiser Franz Joseph war es gelungen, die Hilfe des Zaren gegen die sich tapfer wehrenden Ungarn zu gewinnen. Eine riesengroße russische Armee wälzte sich nach Ungarn. Das Schicksal des Landes war damit besiegelt. So zu dritt bildeten sie eine sonderbare Gesellschaft: zwei, die in Ungarn geboren waren und die beide nicht ungarisch sprechen konnten, wobei aber der eine am Weimarer Hof die Macht vertrat, die jetzt sein Land niederzwang, – und als dritte die polnische Fürstin, die den sich als Schicksal aufspielenden Zaren aus ganzem Herzen verfluchte und zitternd auf Nachrichten über den legendären Polen, den auf Seite der Ungarn kämpfenden General Bem, wartete.
Nicht nur wegen ihrer polnischen Abstammung mochte sie dem Zaren bitter grollen, sondern auch aus einem anderen Grunde: es war nunmehr klar geworden, daß alle gutgemeinte Unterstützung seitens der Großherzogin ihre Ehescheidung weder beschleunigen noch erleichtern konnte. Der Zar hatte seiner Schwester geantwortet. Diese Antwort schien wenig Hoffnung zu geben, da die Großherzogin sie der Fürstin nicht einmal zeigen wollte, sondern nur obenhin bemerkte:
»Seine Majestät will sich die Sache überlegen.«
Er hatte sich die Sache auch überlegt und zwar nahm er die Partei der Wittgensteinschen Verwandtschaft. Über die kirchliche Scheidung war die Entscheidung bereits eingetroffen: Hotoniewski, der katholische Erzbischof von Petersburg, hatte den Scheidungsantrag nicht nur einfach abgelehnt, sondern es außerdem für nötig erachtet, in der Begründung seinen Standpunkt über das Verhalten der Fürstin zum Ausdruck zu bringen. Damit gaben sich jedoch die Wittgensteins noch nicht zufrieden. Eines Tages ließ die Großherzogin Franzi zu sich bitten.
»Lesen Sie diesen Brief, mein lieber Freund, ich will die Fürstin damit nicht aufregen.«
Franzi sah auf die Unterschrift: der Brief war von der Fürstin Sayn-Wittgenstein, der Schwiegermutter Carolynes, an Maria Pawlowna gerichtet. Sie rügte in aufgebrachtem Tone die skandalöse Liebesaffäre ihrer Schwiegertochter und gab zwischen den Zeilen ihrer Verwunderung darüber Ausdruck, daß die Schwester des Zaren sie in ihrem Hause empfange. Sie bat, energisch einzugreifen und die Fürstin Carolyne nach Hause zu schicken.
»Was werden Sie darauf erwidern, kaiserliche Hoheit?« erkundigte sich Franzi.
»Ich habe die Antwort bereits geschrieben, ich wollte aber gern, daß Sie sie lesen, ehe ich sie absende.«
Sie reichte ihm den mit der Weimarer Krone geschmückten Briefbogen, auf dem nur wenige Zeilen standen. Die Großherzogin teilte kühl und höflich mit, daß sie zu der in Rede stehenden Angelegenheit keine Stellung nehmen könne, da sie keinen Anlaß habe, gegen ihre Freundin, die Fürstin Carolyne, vorzugehen.
»Sind Sie mit mir zufrieden?«
Franzi küßte ihr stumm und ergriffen die Hand. Er setzte zu einer langatmigen Dankrede an, die Großherzogin unterbrach ihn aber.
»Sie haben nichts zu danken. Was ich tue, tue ich aus egoistischem Staatsinteresse. Ich will Ihre Arbeitslust und Ihre Nerven erhalten, da Sie für Weimar arbeiten sollen. Ich will Ihnen behilflich sein, damit Sie heiraten und in Weimar mit Ihrer Familie heimisch werden können.«
Aber die Wärme, die aus ihren Augen glänzte, strafte diese gemessenen Worte Lügen.
»Ich danke Ihnen für Ihre Güte, kaiserliche Hoheit, sie rührt mich in diesem Augenblick um so mehr, als Ihr erlauchter Bruder meine Heimat unterjocht.«
Aus den Augen Maria Pawlownas strahlte herzliches Mitgefühl.
»Es steht mir nicht zu, mit Ihnen über Politik zu reden. Auf Wiedersehen.«
Franzi entfernte sich gehorsam, von der Tür aus sah er aber noch einmal zurück und fing den ihn begleitenden Blick der Großherzogin auf. Aus diesem Blick sprach tiefe menschliche Anteilnahme. In der Altenburg erzählte er dann alles Carolyne. Sie begann zu schluchzen. Tagelang war sie nicht zu beruhigen. Sie weinte nicht vor Kummer, sondern in ohnmächtigem Zorn. Diese unheimliche Macht, die Macht des Zaren, schwebte wie ein erdrückender Schatten über ihrem Leben, ihrer Heimat und ihrer Zukunft.
Nur die Arbeit vermochte ihm in diesen düsteren und schweren Tagen Trost zu spenden und die Musik Wagners, die die qualvollen Gedanken an die politische Lage zurückdrängte. Im Mai waren die Dinge dann so weit gediehen, daß die Politik auch Wagner zum Unheil geriet.
Es war am 13. Mai, einem unfreundlichen, regnerischen und düsteren Tag. Franzi hatte keine Probe, er arbeitete in seinem Zimmer im »Erbprinzen«. Er saß über einer Phantasie über die Arien aus dem »Propheten« von Meyerbeer. Er hatte nämlich aus Paris erfahren, daß Meyerbeer es seinem alten Freunde übel genommen habe, daß er zu einer Festaufführung statt des »Propheten« die Oper eines unbekannten Dirigenten habe aufführen lassen. Franzi wollte nun den zürnenden Alten mit dieser Propheten-Phantasie versöhnen. Plötzlich ging die Tür auf. Mit aufgewühltem Gesicht, ganz erregt stürzte Wagner herein. Statt jeder Begrüßung stieß er hervor:
»Schließen Sie die Tür und lassen Sie niemanden herein. Kein Mensch darf erfahren, daß ich hier bin. Ich werde verfolgt.«
»Sind Sie verrückt geworden? Welcher Teufel verfolgt Sie denn?«
»In Dresden hat man gegen mich einen Haftbefehl wegen meines politischen Verhaltens erlassen. Ich bitte Sie um des Himmels willen, retten Sie mich.«
»Aber setzen Sie sich doch erst, stellen Sie Ihre Reisetasche weg und erzählen Sie. Hierher kommt niemand.«
Zur Beruhigung Wagners drehte er den Schlüssel um. Zunächst trank Wagner zwei Glas Wasser und dann fing er an zu berichten. Sein vollständig zerfahrener Vortrag begann mit einer Baßklarinette. Für sein »Lohengrin«-Orchester benötigte er eine Baßklarinette, das Dresdner Orchester hatte aber ein solches Instrument nicht zur Verfügung. Daraufhin forderte er das Instrument von dem Intendanten, seinem alten Feind. Dieser Klarinette wegen waren sie in einen heftigen Streit geraten. Wagner lehnte sich gegen die Unterdrückung auf, er veröffentlichte in der Presse Artikel, in denen er seine Vorgesetzten schmähte und verspottete, er hielt eine aufwieglerische Rede. Das Ende vom Liede war, daß man ihn jetzt verhaften wollte. Im letzten Augenblick war es ihm noch gelungen, sich einen falschen Paß zu verschaffen, der auf den Namen eines Schriftstellers Wiedemann lautete. Wohin hätte er sonst flüchten sollen, wenn nicht zu Liszt?
»Was soll ich jetzt mit Ihnen machen, Sie Unglücksmensch?« fragte Franzi bedenklich.
»Das fragen Sie mich?Das frage ich Sie.«
»Mir bleibt der Verstand stehen. Ich habe in solchen revolutionären Angelegenheiten gar keine Erfahrung. Vielleicht hat die Fürstin einen guten Einfall? Sie ist Polin und in Rußland aufgewachsen. Ihre Vettern leben in der Verbannung in Sibirien. Wir gehen in die Altenburg und besprechen die ganze Angelegenheit mit ihr.«
»Nein, nein! Wenn mich jemand erkennt … ich gehe …«
Der Revolutionär der Klarinetten-Affäre war stark mitgenommen. Er war verstört, zornig, ängstlich und unschlüssig. Franzi sprach auf ihn ein und tröstete ihn, bis es dunkel wurde. Dann gab er ihm von seinen Sachen einen Hut und einen Mantel. Wagner stülpte den Kragen des Mantels hoch und zog den Hut tief ins Gesicht. In der Dämmerung bei langsam rieselndem Regen schlichen sie sich an den Häusern entlang bis zur Brücke, liefen hinüber und zur Altenburg.
Die Fürstin war über den unerwarteten Besuch sehr verwundert. Als man ihr erzählte, warum er hier sei, wurde sie mit einem Male lebhaft – wie eine Schauspielerin, der man eine große Rolle anvertraut hatte. Sie fühlte sich in ihrem Element.
»Hat man den Haftbefehl in Dresden schon veröffentlicht?«
»Noch nicht, das geht seinen bürokratischen Weg. Es vergehen noch einige Tage, bis er in die einzelnen Städte verschickt wird.«
»Warum regen Sie sich dann auf? Für ein paar Tage können Sie also ruhig bei uns bleiben. Auf alle Fälle wohnen Sie hier in der Altenburg. Wir lassen das Fremdenzimmer herrichten und Ihre Reisetasche aus dem ›Erbprinzen‹ holen.«
»Ich danke Ihnen gütigst, Fürstin. Was geschieht aber dann? Und was wird, wenn zum Beispiel dieser Haftbefehl schon morgen hier ist?«
»Ich habe eine Idee. Franzi geht sofort zur Großherzogin und trägt ihr die ganze Angelegenheit aufrichtig vor. Aber sofort, denn die Großherzogin will verreisen.«
Wagner sprang erschrocken auf.
»Aber Fürstin! Sie wird mich sofort verhaften lassen! Diese Herrscherfamilien sind alle gleich. Ich bitte Sie um des Himmels willen, verraten Sie mich nicht!«
Die beiden versuchten umsonst, ihn zu überzeugen, es war nichts mit ihm anzufangen. Franzi verzichtete schließlich zum Schein auf die Ausführung dieses Gedankens. Gut, er ging also nicht zur Großherzogin, die Reisetasche aber wollte er selbst aus dem »Erbprinzen« abholen. Er sah die Fürstin an, kniff schelmisch ein Auge zu und ging. Geradewegs in das großherzogliche Schloß. Dort eilte er nach dem ersten Stock, hielt eine Zofe an und ließ sich zu dem diensthabenden Kämmerer führen. Er bat um eine sofortige Audienz. Der Kämmerer schüttelte bedauernd den Kopf: er habe Befehl, niemanden vorzulassen, die Großherzogin sei beim Packen, sie reise morgen auf einige Tage zur Erholung auf die Wartburg. Franzi blieb aber dabei, eine wichtige Angelegenheit melden zu müssen.
»Was ist denn los«, erkundigte sich die Großherzogin zwischen zwei packenden Zofen, »brennt das Haus?«
»Beinahe, kaiserliche Hoheit. Ich flehe Sie um eine Audienz von zehn Minuten an.«
Die Großherzogin winkte, die Zofen entfernten sich, die Reisekoffer und die Wäschestöße blieben auf dem Teppich liegen.
»Würden sich kaiserliche Hoheit damit abfinden können, wenn wir des höchsten Wertes unserer Weimarer Pläne verlustig gingen?«
»Natürlich nicht, reden Sie deutlich.«
»Se. Majestät der König von Sachsen hat gegen Weimar einen Haftbefehl erlassen, weil Wagner für sein Orchester keine Baßklarinette erhielt und sich deswegen zu revolutionären Reden hinreißen ließ.«
Die Großherzogin verzog den Mund zu einem Lächeln.
»Eine fertige Serenissimus-Komödie.«
Sie besann sich aber schnell.
»Hören Sie einmal, Liszt, Sie machen mich ja dadurch zum Mitwisser. Meine Pflicht wäre es jetzt, die ganze Angelegenheit sofort der Regierung meines Mannes zu melden. In der heutigen Zeit pflegt man mit Revolutionären nicht zu spaßen.«
»Sicher. Auch Wagner ist davon überzeugt, daß kaiserliche Hoheit dies tun werden.«
»Er ist davon überzeugt? Der Esel! Was soll ich also tun? Schnell, ich habe Eile.«
»Ich bitte Eure kaiserliche Hoheit, unter der Hand anzuordnen, daß ich sofort verständigt werde, wenn dieser Haftbefehl gegen Wagner nach Weimar kommt. Die Behörden brauchen nicht zu erfahren warum. So kann Wagner ruhig in der Altenburg sitzen, bis wir beraten haben, wohin er sich von hier aus wenden kann. Den romantischen Flüchtling beherbergt nämlich augenblicklich die Fürstin Carolyne.«
»Gut, so soll es sein. Sagen Sie dem Kämmerer, daß ich den Marschall noch heute abend zu sprechen wünsche. Und jetzt gehen Sie, denn ich habe es nicht gerne, wenn fremde Männer zwischen meinen Unterröcken herumlaufen.«
Franzi verbeugte sich dankbar. Maria Pawlowna rief ihn aber an der Tür nochmals zurück.
»Warten Sie einmal, Liszt, ich habe eine sonderbare Idee … Ich weiß eigentlich nicht, ob ich sie Ihnen verraten soll … Ich bin auf diesen Wagner nämlich sehr neugierig … Wenn Sie es fertig bringen könnten, daß Wagner die Wartburg besichtigt, während ich mich dort aufhalte …«
»Ich werde es einrichten, kaiserliche Hoheit.«
»Gut. Wenn Sie mich meinem Mann und meinem Sohn verraten, schlage ich Sie tot. Auf Wiedersehen.«
Franzi verbeugte sich noch einmal tief, obwohl er die Großherzogin am liebsten umarmt und geküßt hätte. Er lief in den »Erbprinzen«, um die Reisetasche zu holen, und dann zurück in die Altenburg. Zu Hause traf er die Fürstin und den steckbrieflich verfolgten Komponisten mitten in einem heftigen Streit an. Er fuhr dazwischen und erzählte, daß er doch bei der Großherzogin gewesen sei, die Wagner wegen seiner Zumutung, daß sie ihn verraten könne, allergnädigst einen Esel genannt habe, und dann berichtete er, was sie vereinbart hatten. Den sonderbaren Plan der Großherzogin mit der Wartburg verschwieg er aber vorläufig noch. Wagner beruhigte sich.
»Worüber haben Sie denn so heftig gestritten?«
»Lieber Franzi«, sprach die Fürstin nicht ganz ohne Schärfe. »Ihr Freund ist gar kein so unschuldiger Klarinetten-Revolutionär. Er vertritt Ansichten, die mich ein wenig erschrecken.«
»Hören Sie mich an, Liszt«, fiel ihr Wagner feurig ins Wort, »wir sprachen vom Plan meiner Christus-Tragödie und von der Kunst überhaupt. Ich behaupte, daß die Griechen dem wahren Begriff der Kunst am nächsten gekommen sind. Die fast zwei Jahrtausende Christentum vermochten diesen Gipfel der Kunst nicht mehr zu erreichen. Die Fürstin leugnet das heftig, mich aber kann sie nicht überzeugen. Nein, widersprechen Sie nicht, reden Sie mir jetzt nicht dazwischen, ich will alles verständlich erklären. In der antiken, griechischen Tragödie waren alle Kunstgattungen enthalten. Seit dem Christentum aber zerfiel die griechische Tragödie in ihre einzelnen Bestandteile: Drama, Musik, Architektur und was weiß ich sonst noch alles. Demzufolge ist es die Aufgabe jedes wahren Künstlers, die Revolution zu verkünden, das ganze heutige Theater einzureißen, um das alte griechische Kunstideal, das Gesamtkunstwerk, auf diesen Trümmern wieder aufzubauen. Deswegen schuf ich das Musikdrama, das keine Oper ist, das verbitte ich mir. Mit einem Wort, die heutige Kunst kann nur eine revolutionäre sein …«
»Gut«, entgegnete die Fürstin leidenschaftlich, »das Musikdrama allein ist aber noch lange kein Grund dafür, daß Sie den Katholizismus als kunstfremd bezeichnen. Was ist denn dann die bildende Kunst des Mittelalters? Gab die Kirche sie nicht der ganzen Welt?«
»Nein! Ich bedaure außerordentlich, Fürstin, nein! Die bildende Kunst des Mittelalters hat die historischen Gestalten der Glaubensüberlieferung mit sinnlicher Schönheit erfüllt, hat sie mit der ganzen Freude der Kunst an sich selbst dargestellt. Dadurch hat sie das Christentum also verleugnet. Die Kirche weiß das ja auch nur zu gut, aber in der Zeit der Renaissance nahm sie trotzdem das Eigentumsrecht für sich in Anspruch. Sie war eben scheinheilig. Die griechische Kunst dagegen war nicht scheinheilig. Lieber einen halben Tag ein Sterblicher unter den alten Griechen, als auf ewig unsterblich im Christentum. Warum lachen Sie, Liszt?«
»Ich freue mich, mein Lieber, daß Sie ein so großer Phantast sind. Noch vor einer Stunde war es Ihre größte Sorge, gerettet zu werden, und jetzt, wo Sie sich nur ein wenig sicher fühlen, wollen Sie schon die Kirche, ja sogar die ganze Welt einreißen … Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie Atheist sind.«
»Ich? Nicht im geringsten. Im Gegenteil, ich bin ein sehr gottgläubiger Mensch. Aber auf meine Art, nicht im Sinne des Dogmas.«
»Dann werden Sie in diesem Hause noch reichlich Gelegenheit haben, zu debattieren, denn unsere verehrte Herrin hält fest am Dogma. So fest, daß sie auch mich langsam wieder zu den lange verleugneten Lehren der Kirche bekehrt.«
Wagner holte tief Atem, um ausführlich zu erwidern. Auch die Fürstin konnte kaum erwarten, den Streit von neuem aufzunehmen. Keiner von ihnen konnte aber im Augenblick etwas sagen, denn das Stubenmädchen meldete, daß das Abendessen aufgetragen sei. Die kleine liebliche Prinzessin Maria trat in Begleitung von Miß Anderson ein, und die Fürstin ermahnte beide sofort: Herr Wagner hält sich im geheimen hier auf, von seinem Aufenthalt darf niemand etwas erfahren.
Nach dem Abendessen blieben sie wieder zu dritt. Und die Debatte begann von neuem. Wagner war ein ebenso leidenschaftlicher und starrsinniger Streiter, wie die Fürstin geschickt und mit Feuer debattieren konnte. Stundenlang ging das Wortgefecht hinüber und herüber, ohne daß einer den anderen überzeugt hätte. Beide verteidigten ihren Standpunkt nur noch hartnäckiger. Wie es bei solchen Gelegenheiten zu gehen pflegt, verrannte sich jeder nur noch mehr in seine Auffassung, ohne den anderen überzeugen zu können. Franzi hörte zu und unterbrach die beiden nur selten. Er hatte seine helle Freude an den Streitlustigen. Er war von Carolynes scharfem Verstand, ihrer blitzschnellen Auffassungsgabe, ihrer hohen Bildung und der felsenfesten Unerschütterlichkeit ihres Glaubens entzückt. Und er war von Wagner hingerissen: immer stärker sah er in ihm das Genie, den fanatischen Gläubigen der Kunst, den vom Schicksal bestimmten Entdecker bisher unentdeckter Wege.
Es wurde immer später, und er mußte sich verabschieden. Wagner blieb in der Altenburg. Aus dem Dunkel der Nacht sah Franzi von der Ilmbrücke nochmals zurück auf die hellerleuchteten Fenster. Und während er die Brücke überschritt, begann er darüber nachzudenken, durch welche sonderbare Fügung der Herrgott ihm gerade diese Frau und gerade diesen Manu auf seinen Lebensweg geschickt hatte.
Wagner blieb eine Woche lang in der Altenburg. Am zweiten Tag war seine Furcht schon völlig überwunden, und am dritten Tage waren Franzi und die Fürstin bereits gezwungen, ihn zur Vorsicht zu mahnen. Als er erfuhr, daß im Theater eine Probe für die Wiederholung des »Tannhäuser« angesetzt sei, quälte er Franzi solange, bis dieser ihn in einem geschlossenen Wagen ins Theater brachte und in den dunklen Zuschauerraum schmuggelte, damit er der Probe beiwohnen könne. Die Probe entzückte Wagner wiederum so sehr, daß er unter allen Umständen mit Genast und dem Bariton Milde sprechen wollte. Franzi mußte also diese einweihen. In einem abgelegenen Zimmer des »Russischen Hofes« veranstalteten sie ein geheimes Abendessen. Wagner lachte und scherzte und war in ausgelassenster Laune. Franzi ließ Sekt bringen, alle tranken Brüderschaft miteinander, und als die Stimmung schon sehr intim geworden war, brachte Wagner seinen geheimsten Plan vor, die größte Symphonie seines Lebens … Wenn er einst berühmt geworden wäre und seine Werke das ganze Land erobert hätten, dann würde er ein Theater bauen, in dem man nichts anderes aufführen würde, als seine Musikdramen. Es würde ein Theater nach griechischer Art werden und trotzdem das modernste, das man sich überhaupt vorstellen könnte, nur Auserwählte dürften den Aufführungen beiwohnen, die aber würden kein Eintrittsgeld bezahlen.
»Darauf trinken wir«, schrie Milde, der Bariton.
Sie tranken alle vier. Drei von ihnen aber lächelten über den kindlichen Traum dieses Schwärmers.
Nach Ablauf einer Woche traf die vertrauliche Mitteilung im »Erbprinzen« ein, daß der Haftbefehl eingegangen sei. Bis dahin war der Plan Wagners schon fertig. Seine Taschen waren gefüllt mit Empfehlungsbriefen, die ihm Franzi an die wichtigsten Persönlichkeiten in Paris mitgegeben hatte. Sie waren nämlich endlich übereingekommen, daß er am besten täte, nach Paris zu flüchten. Er hatte auch einiges Geld bei sich, dazu hatte Franzi noch von der Fürstin borgen müssen, denn er selbst stand augenblicklich finanziell ziemlich schwach da. Sie gingen gemeinsam auf die Reise, weil sich Franzi erboten hatte, den Flüchtling bis Eisenach zu begleiten. Wagner nahm diese Begleitung mit Freuden an. Unterwegs begann Franzi von der Wartburg zu erzählen.
»Warst du schon einmal auf der Wartburg, Richard, wo sich dein Sängerkrieg abgespielt hat?«
»Nein, noch nie.«
»Sie liegt ganz dicht bei Eisenach. Hättest du keine Lust, sie zu besichtigen? Ich habe nämlich schon lange vor, sie mir anzusehen, denn ich war auch noch nicht dort. Gehen wir doch gemeinsam hin. Du verlierst kaum Zeit, und deine Sicherheit ist dort nicht gefährdet.«
Wagner willigte ein. Von Eisenach aus fuhren sie mit einem Mietwagen auf die Wartburg. Vom Berggipfel blickte die wunderbare Burg mit romantischem Stolz ins Tal herab, und Wagner betrachtete sie so, als ob das ganze Gebäude ihm gehörte. Plötzlich kam Wagner die ganze Angelegenheit etwas verdächtig vor. Franzi besprach leise etwas mit dem Posten.
»Was ist los?« erkundigte sich Wagner unruhig, denn er sah in dieser Zeit nur ungern einen Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr.
»Nichts, komm nur getrost mit.«
Irgendwoher kam ein Offizier zum Vorschein, der sie über Treppen und Gänge führte. Wagner fühlte sich unheimlich und sah Franzi bestürzt an. In einem offenbar bewohnten Zimmer machten sie Halt, der Offizier verschwand.
»Jetzt nimm dich gut zusammen«, sagte Franzi, »ich werde dich der Großherzogin von Weimar vorstellen, der du deine Freiheit verdankst und die sich zur Zeit gerade hier aufhält. Sei nicht übermütig und gib Acht auf dich.«
Wagner konnte sich kaum besinnen, da ging auch schon die Tür auf. Sie traten ein. In einem Saal mit altertümlichen Möbeln stand die Großherzogin vor ihnen.
»Kaiserliche Hoheit gestatten, daß ich den hervorragenden Komponisten unseres Theaters, Richard Wagner, vorstelle. Mit gnädigster Erlaubnis werde ich mich für die Dauer der Audienz jetzt ein wenig in der Burg umsehen.«
Schon war er fort und ließ den verwunderten Komponisten in der größten Verlegenheit zurück. Der diensthabende Offizier, selbstverständlich ein alter Bekannter von Franzi, war sogleich bereit, ihm die Schätze und Altertümlichkeiten der Burg zu zeigen. Die Säle des vernachlässigten und überall abbröckelnden Gebäudes erfüllten ihn mit der tieftraurigen Stimmung der Vergänglichkeit. Den Sängerwettstreit Tannhäusers vermochte er hier in keiner Weise unterzubringen. Es störte ihn, daß dieser Raum im Theater ganz anders dargestellt wurde, als er hier aussah.
»Wir müssen zurück«, sagte der Offizier, auf seine Uhr blickend.
Sie gingen also zurück bis zur Türe des Saales, in dem sich die Großherzogin mit dem steckbrieflich verfolgten Revolutionär unterhielt. Sie warteten. Es verging noch eine gute Viertelstunde, ehe sich die Tür öffnete. Begeistert, mit freudig gerötetem Gesicht trat Wagner heraus.
»Welch eine Frau!« rief er begeistert. »Welche Güte, welcher Geist! Ich danke dir tausendmal für diese Freude, Franzi!«
Noch auf dem ganzen Wege nach Eisenach schwärmte Wagner von der Großherzogin. In Eisenach trennten sie sich. Franzi wünschte ihm aus ganzem Herzen viel Glück zur Flucht und für Paris, dann fuhr er zurück nach Weimar.
Zu Hause erwartete ihn ein Brief seiner Mutter: Blandine und Cosima würden demnächst zum ersten Male an der heiligen Kommunion teilnehmen und es wäre deshalb sehr gut, wenn ihr Vater zu dieser Gelegenheit ein paar liebevolle Worte an sie richtete. Franzi schrieb seinen Kindern sofort einen langen Brief. Liebevoll und zärtlich. Er ermahnte sie, für ihre Mutter und Großmutter zu beten. Beim Schreiben füllten sich seine Augen mit Tränen. Er schrieb den Brief in der Altenburg, während die Fürstin am anderen Ende des Tisches seine Noten ordnete. Schnell ließ er etwas herunterfallen, um unter dem Tisch seine Tränen abwischen zu können. Die Fürstin konnte aber nur zu gut in diesem Gesicht lesen, in dem ihr jeder Ausdruck vertraut war.
»Wenn Sie den Brief beendet haben, Franzi, möchte ich mit Ihnen über Ihre Kinder sprechen. Das habe ich schon seit langem vor.«
»Bitte. Den Brief kann ich ja auch später beenden.«
»Könnte man die Kinder nicht hierher bringen? Wir würden doch sicherlich mit ihnen und meiner Maria gut auskommen. Und ich könnte sie sehr lieb haben.«
»Sie sind eine große Seele, Carolyne, und ich kann Ihnen für Ihre Feinfühligkeit gar nicht dankbar genug sein. Das ist aber leider unmöglich. Die Mutter meiner Kinder, die sich sonst kaum um sie kümmert, besteht darauf, daß sie in ihrer Nähe bleiben. Dies ist der Preis des Friedens zwischen uns. Sobald ich diese Frage anschneiden würde, ginge ein fürchterlicher Krieg los. Die Gräfin D'Agoult ist keine gute Mutter, und mich haßt sie viel mehr, als sie ihre Kinder liebt. Glauben Sie mir, mich bewegt diese Frage schon seit vielen Jahren. Schon damals, als ich noch reisender Virtuose war, tat es mir weh, daß sie nicht bei mir sein konnten. Aber es ging ja nicht. Wenn dieser Schmerz in mir erwacht, so schläfere ich ihn irgendwie ein. Später brennt er aber um so mehr. Es ist furchtbar, daß ich sie mir nicht einmal vorstellen kann. Verstehen Sie das? Ich muß sogar darüber nachdenken, wie alt sie sein mögen. Blandine wird jetzt wohl vierzehn Jahre, Cosima zwölf und Daniel zehn. Als ich sie das letzte Mal sah, waren sie viel kleiner. Wie sie heute aussehen, weiß ich nicht. Das ist so bitter, daß Sie es Gott sei Dank gar nicht verstehen können. Ich kann aber daran nichts ändern. Ich sorge bloß übermäßig für sie, ich kenne aber keines von ihnen.«
»Das darf aber nicht so bleiben. Ich will die ganze Angelegenheit in meine Hand nehmen. Ich weiß auch schon wie. Die Mädchen sind im Bernardschen Internat, der Junge im Lyzeum. Und Sie behaupten, daß man daran nichts ändern kann? Versuchen Sie es doch. Ordnen Sie an, daß Sie kraft Ihrer väterlichen Autorität Ihre Töchter in ein anderes Internat zu geben wünschen. Sagen wir in das Internat von Madame Patersi, die einst meine Erzieherin war und eine ganz hervorragende Pädagogin ist. Die Gräfin D'Agoult wird dagegen nichts einwenden können. Und wenn die Sache erst einmal im Rollen ist, wird es auch leicht sein, den nächsten Schritt zu tun. Sind Sie damit einverstanden?«
»Carolyne, Sie sind die Sonne meines Lebens, ich möchte Ihnen zu Füßen liegen.«
»Das ist unbequem, lieber an meinem Herzen …«
Sie küßten sich. Ihre Liebe war vollkommen; sie waren unsagbar glücklich. Die Fürstin setzte sich sofort hin und fragte bei ihrer ehemaligen Erzieherin an, ob sie die kleinen Mädchen zu sich nehmen wolle. Franzi ließ Manja kommen. Manja war der Kosename der kleinen Prinzessin Maria. Er nahm sie auf seinen Schoß und wollte wissen, was sie wohl zu drei großen Geschwistern sagen würde, zu zwei Mädchen in ihrem Alter und zu einem Jungen. Die kleine Maria antwortete liebenswürdig und gescheit. Sie freute sich sehr auf die Geschwister und bat sich lediglich aus, daß Fainéant – so nannte das kleine Mädchen Franzi – diese Geschwister nicht mehr liebhaben solle als sie.
Aus Paris traf auch bald die Nachricht ein, daß Wagner glücklich angelangt war. Er war auch schon bei Mutter Liszt gewesen und fand sie entzückend.
»Gott sei Dank, daß diese Angelegenheit wenigstens erledigt ist«, sagte Franzi, während er den langen Brief las.
Dann setzte er sich zurück an seine Arbeit. Er arbeitete an einem großen Werk, an einer Symphonie über »Tasso« für die bevorstehende Feier von Goethes hundertstem Geburtstag.