Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Czernowitz, Galaz, das Schwarze Meer, Konstantinopel.
Inmitten aller Schönheiten der türkischen Hauptstadt dachte er immerwährend an die Fürstin. Sein Ruhm übertraf auch hier alle bisher dagewesenen Konzerterfolge. Der Sultan empfing ihn in Audienz und sprach lange mit ihm. Dabei zeigte sich nicht nur seine große Gewandtheit im Gebrauch der französischen Sprache, sondern auch seine Geschicklichkeit in der Erledigung europäischer Angelegenheiten. Franzi erzählte dem erlauchtesten Herrscher, daß ihn in Istambul statt einer Siegessäule ein Haftbefehl erwartet hatte, weil er mit jemand anderem verwechselt worden war. Der erlauchte Padischah lachte minutenlang über diese Begebenheit. Dann schenkte er ihm eine mit Email eingelegte Golddose voller Goldstücke. Und einen Orden. Als man ihn aus dem Palais geleitete, bemerkte ein Würdenträger der Hohen Pforte anerkennend, vor dem Sultan hätten schon sehr viele Klavier gespielt, so schnell aber wie er sei noch keiner imstande gewesen, seine Finger zu bewegen …
Ununterbrochen ging die Reise weiter und so kam endlich langsam der Sommer heran. Es wurde Juli, und man konnte nach Odessa fahren. Die Stadt und die Badeorte ihrer Umgebung waren diesen Sommer besuchter denn je. In der Nähe fanden die großen Manöver statt, deshalb strömten die vornehmen Familien der zaristischen Welt alle hierher. Der Generalstab war im benachbarten Jelisawetgrad einquartiert, und der General von Osten-Sacken lud den Klavierkünstler zu sich ein.
Belloni hatte kühn den Saal für zehn Abende belegt. Kühn und zugleich voller Abschiedsschmerz: sein Herr hatte ihm bereits mitgeteilt, daß seine Virtuosen-Laufbahn nunmehr beendet sei und er keinen Impresario mehr brauche.
»Und was wird aus mir?« fragte Belloni mit gebrochener Stimme.
»Sie werden von dem bescheidenen Betrag leben müssen, den Sie aus dem Vertrag mit mir verdient haben, des weiteren aus dem noch viel größeren Betrage, den Sie irrtümlicherweise zu Ihren Gunsten gebucht haben.«
Belloni fuhr auf und wollte selbstbewußt widersprechen. Dann überlegte er es sich aber und schwieg. Franzi unterhielt sich köstlich über ihn. In den langen Jahren ihrer Verbindung hatte er unzählige Warnungen erhalten, daß Belloni ihn nachweisbar schwer bestehle. Er hatte sich nicht darum gekümmert. Er ließ den strebsamen Belloni verdienen. Geld hatte für ihn keine Bedeutung. Was er in die Hände bekam, damit war er zufrieden. Schnell hintereinander schickte er an seine Mutter zehntausend, ein andermal fünfzehntausend Franken, er gab überall Unsummen für wohltätige Zwecke aus und verbrauchte auch für sich viel Geld. Dieser gute Belloni sollte auch leben. Der arme Kerl war, obwohl verheiratet, doch nie zu Hause und reiste andauernd der Liszt-Konzerte wegen in der Welt herum. Mochte er nun mit seinem geschickt zusammengescharrten Vermögen an der Seite seiner guten Frau in Brüssel ruhig leben!
Ein ganzer Stoß Briefe erwartete ihn in Odessa. Die Firma Haslinger in Wien war seine ständige europäische Anschrift. Alle seine Briefe gingen dort ein, und Haslinger beförderte sie unter genauer Beachtung des Konzertkalenders und der Reisemöglichkeiten in die entsprechenden Städte. Unter den Briefen waren zwei, die ihn zum Nachdenken mahnten. Der eine kam von Frau Calergis, der andere von Frau Solnzew. Ohne Zögern antwortete er beiden sofort herzlich und höflich, jedoch mit einer gewissen Zurückhaltung. War es denn mit der großen, vollkommenen Liebe, die er von der Fürstin erhoffte und zu finden sich sehnte, zu vereinbaren, daß er mit den schönen Frauen seiner Vergangenheit auch weiterhin in Briefwechsel blieb? …
Wer kann sich der Weisheit rühmen, seine Gefühle zu kennen? Die größten Geheimnisse bietet uns nicht die Außenwelt, die tragen wir in uns. Man rupft die Blütenblätter einer Blume aus und fragt: – sie liebt mich, sie liebt mich nicht … Obwohl die Frage tausendmal wichtiger ist: – liebe ich sie oder liebe ich sie nicht … Und bei wem soll jener eine ihn voll befriedigende Antwort suchen, der im Begriff ist, auf einem neuerwachten Gefühl seine ganze Zukunft aufzubauen? Daß er die Gräfin D'Agoult ernstlich liebte, durfte er seinerzeit mit Recht glauben. Und was war aus dem himmelhoch lodernden Feuer geworden? Schutt und graue Asche, die die bitteren, auch in der Vergangenheit noch fallenden Tränen zu einer häßlichen Masse formten.
Als er die Fürstin in Odessa wiedersah, durchflutete ihn das Gefühl einer glücklichen Erleichterung. Das Wiedersehen bereitete ihm eine so große Freude, daß er es wagte, seinen Gefühlen zu trauen. Minutenlang hielten sie einander bei der Hand, minutenlang sahen sie sich in die Augen.
»Habe ich Sie lieb, Carolyne?«
»Das fragen Sie mich?«
»Ja, das frage ich Sie. Sie sind so klug, daß ich Sie manchmal für einen Gelehrten halte. Ich kenne mich dagegen noch nicht einmal selbst zur Genüge. Hören Sie mich einmal an: ich schildere Ihnen meine Probleme, meine Vorliebe für schöne Frauen, meine von meiner Wunderkind-Laufbahn herrührende Eitelkeit. Dann urteilen Sie selbst.«
Er beichtete ihr vor allem die Angelegenheit mit den Briefen. Die Fürstin war der Meinung, daß unter Menschen vornehmer Gesinnung sich aus entschlummerter Liebe die schönsten Freundschaften bilden könnten. Wenn die betreffenden Frauen menschlich wertvoll seien, so müsse er die Bekanntschaft aufrecht erhalten. Selbstverständlich ließ sie keinen Zweifel darüber aufkommen, daß von Liebe keine Rede mehr sein dürfe.
»Und Sie sind nicht eifersüchtig?«
»Nein. Sobald man um jemanden Angst haben muß, kann man ihn nicht mehr lieben. Bei mir ist es mit der Liebe nicht anders wie mit dem Glauben. Wenn ich keinen hemmungslosen Glauben hätte, könnte ich nicht religiös sein. Sind Sie eifersüchtig?«
»Ich muß Ihnen gestehen, daß ich auf Sie sehr eifersüchtig bin. Sie erwähnten, daß Sie sich hier in Odessa mit Ihrem Gatten treffen. Dieser Gedanke hat mir viele unruhige und schlaflose Stunden verursacht. Ist Ihr Mann hier?«
»Er war da, ist aber schon wieder fort. Zu Unruhe haben Sie keinen Grund. Mein Mann ist schon seit langem nicht mehr mein Mann. Sprechen wir jetzt von anderen Dingen. Haben Sie an etwas gearbeitet? Was sind Ihre Zukunftspläne? Was ist mit Weimar?«
Franzi berichtete genau von allen Möglichkeiten seiner Zukunft. Er hatte zwischen drei Städten wählen können. In Wien war der Platz von Otto Nicolai frei geworden. Sechs Monate Arbeit im Jahr, viertausend Gulden Gehalt, Hoftitel, schöner Arbeitskreis. In Paris wurde die Stellung des armen, durch Geisteskrankheit elend zugrunde gegangenen Donizetti frei: Hoftitel, anständiges Gehalt, genügend freie Zeit. Und Weimar. Weimar könnte man auch neben Paris und neben Wien beibehalten. Für Paris sprach die Anwesenheit der Kinder, dagegen die Anwesenheit der Gräfin D'Agoult. Für Wien sprach die Nähe Ungarns, dagegen das zu große Gebiet des musikalischen Lebens, das einheitlich nur schwer in der Hand zu halten war, und außerdem noch viele tausend Kleinigkeiten, die das Vorhaben entweder nach rechts oder nach links beeinflussen würden.
Stundenlang beratschlagten sie über diese Möglichkeiten. Die Fürstin war unter allen Umständen für Weimar. Sie meinte, wenn das Erbe Goethes und Schillers frei sei, dürfe man nicht zögern, es anzutreten. Sie werde zweimal im Jahre nach Weimar zu Besuch kommen. Franzi war nicht abgeneigt, die Wiener und Pariser Pläne aufzugeben und nebenbei einen anderen ständigen Arbeitskreis nicht zu übernehmen.
»Was wird aber aus uns beiden?«
»Wir lieben uns«, erwiderte die Fürstin, »ist das nicht genug?«
»Nein, so ist es nicht genug. Ich habe Sie ja noch nicht einmal geküßt.«
»Weil es nicht erlaubt ist. Ich bin eine verheiratete Frau und halte es meiner für unwürdig, hinter dem Rücken meines Gatten zu handeln.«
»Das ist ein sehr vornehmer Standpunkt. Wird das immer so sein?«
»Quälen Sie mich nicht, darauf kann ich Ihnen nicht antworten. Ich leide sowieso schon sehr. Machen Sie nicht alles noch schlimmer.«
Je mehr sich die mädchenhafte, zarte Gestalt der Umarmung entziehen wollte, um so heftiger wurde das Begehren des Mannes. Dem Großherzog von Weimar hatte er bereits mitgeteilt, daß er seine Virtuosen-Laufbahn beendet und sich endgültig entschlossen habe, Weimar seine ganze Arbeitskraft zu widmen. Er wolle durch Opernaufführungen und Konzerte Weimar zur berühmtesten Musikstadt Europas machen. In seinen Briefen nahm er zu den kleinsten Einzelheiten Stellung, er griff in die Angelegenheiten des Weimarer Intendanten ein, er setzte sich für vorteilhaftere Tantiemen für Schriftsteller und Komponisten am Weimarer Theater ein, er legte dem Großherzog nahe, die älteren Primadonnen abzulösen und den Chor aufzufrischen, – mit einem Wort, er begann sich für die große Aufgabe vorzubereiten. Sein Gewissen ließ ihm aber inzwischen keine Ruhe. Er hatte sich in Verdacht, daß er alle diese Pläne sofort im Stich lassen würde, wenn er sich von der Fürstin trennen müßte. Er war schon dort angelangt, daß er ohne die Fürstin, die er noch nicht einmal umarmt hatte, nicht mehr leben konnte. Seit diese Frau auf ihr Gut zurückgereist war, fand er nirgends mehr seinen Platz.
An einem Oktobertage des Jahres 1847, kurz vor seinem sechsunddreißigsten Geburtstage, gab er in Jelisawetgrad sein letztes Konzert als weltbereisender Klavierkünstler. Das russische Publikum, fast ausschließlich Offiziere, ahnte nicht, was dieses Konzert für den Meister war. Und was ihm der H-dur-Akkord bedeutete, den er immer und immer wieder mit einer donnernden Kraft anschlug, als ob er nicht aufhören könnte, nach einem langen Satz seines Lebens endlich einen Punkt zu machen. Mit diesem Akkord verabschiedete er sich von den ununterbrochenen Reisen, von dem heimatlosen Zigeunerleben, von all den heute kennengelernten und morgen wieder vergessenen Gesichtern. Was er noch nie getan hatte: nach dem letzten Vortragsstück schloß er mit lautem Knall den Deckel des Klaviers. Der erste Klavierspieler der Welt, dieser unvergleichliche Zauberer, trat in einer russischen Kleinstadt vom Podium ab. Der letzte Applaus dröhnte noch in seinen Ohren, als er am gleichen Abend noch nach Odessa abreiste.
»Das Schicksal trieb ein sonderbares Spiel mit mir«, schrieb er am anderen Tage der Fürstin. »Es wählte mich dazu aus, der letzte zu sein, der die unmenschlichen Beschwernisse des Virtuosenlebens durchmachen muß. Jetzt hat man die Eisenbahn erfunden. Schon das kleine Weimar hat seine Eisenbahn. Die nach mir kommen, werden nicht mehr ermessen können, was die Postkutsche oder der eigene Reisewagen für den reisenden Künstler bedeutete. Und ich ziehe mich gerade jetzt zurück, wo meine Laufbahn bequemer zu werden sich anschickt. Ich bedaure es aber nicht. › Multo maiora canamus‹. Die Faust-Symphonie, die Gedichte Victor Hugos, die Lamartineschen Ideale, den Totentanz. Alles, alles. Vorerst aber muß ich mich gründlich ausruhen …«
Den Brief brachte er nicht zur Post, sondern bewahrte ihn in seiner Tasche auf. Er nahm ihn mit nach Schloß Woronice, wo er sich eine längere Ruhepause gönnen wollte. Die Fürstin hatte ihre Einladung in Odessa damit begründet, daß er doch nach den unmenschlichen Anstrengungen der Virtuosenjahre in einer ausgiebigen Erholung Kraft für die künftige große Arbeit sammeln müsse. Er aber ging nicht der Erholung wegen nach Woronice, sondern der Frau wegen.
Mitte Oktober kam er mit dem Vorsatz an, zwei Wochen lang zu bleiben. Am 22. Oktober, an seinem Geburtstage, veranstaltete die Fürstin ihm zu Ehren ein großes Fest. Sie ließ aus ganz Podolien die besten Zigeuner kommen, die den ganzen Geburtstag über ununterbrochen musizierten. Mit der Gier des Jägers lauschte Franzi den unbekannten Motiven der ukrainischen Volkslieder und zeichnete sie für sich auf. Von diesem Tage an saß er tagelang am Klavier und spielte diese Melodien. Endlich faßte er sie in einer Phantasie zusammen, schrieb das Ganze nochmals sauber ab, und eines Tages bekam die Fürstin das neue Werk ihres Gastes als Morgengabe zum Tee. Es trug den Titel » Les glanes de Woronice«, damit das kleine ukrainische Dorf ebenfalls seinen Platz in der Musikgeschichte erhalte.
Die Zeit verging, und Franzi beeilte sich, hin und wieder zu betonen, daß er nun wirklich abreisen müsse. Aber nur der Form halber. Schon nach der ersten Aufforderung, noch länger zu verweilen, blieb er. So verging der November und so kam Weihnachten heran. Den ganzen Tag und bis spät in die Nacht hinein waren sie ständig zusammen und entdeckten immer und immer wieder neue Züge aneinander. Ihre Liebe wurde mit jedem Tage tiefer und inniger. Daß sie sich aber endlich angehören sollten, dagegen kämpfte die in ihren Grundsätzen unbeirrbare starke Fürstin noch heftig an. Sie saß neben dem Klavier, während ihr Gast durch die Musik die nunmehr schon seit zehn bis fünfzehn Jahren in ihm lebenden Gedanken auszudrücken versuchte, wie sie Victor Hugos Gedichte in ihm erweckt hatten … »Was man auf den Bergen hört …« Oder aber sie lasen Dante zusammen, damit Franzi die großen Empfindungen dieser Dichtung in sich aufnehme. Sie waren in ihren Gedanken eins und sprachen von ihrer Liebe wie von einem ewigen Bestandteil ihres Lebens. Ihre schwärmerischen Worte aber waren von keiner einzigen Umarmung begleitet.
»Ich verstehe Sie nicht, Carolyne, aus was für einem Stoff hat Sie der liebe Gott eigentlich geschaffen? Wir sind allein miteinander, wir lieben uns von ganzem Herzen, um uns herum tagereisenweit endloser Schnee und unendliche Stille, als ob wir zwei ganz allein auf einer kleinen Insel des Ozeans lebten. Und Sie wollen nicht die Meine werden. Ihre Grundsätze kann ich verstehen. Die Frau aber, die verstehe ich nicht.«
»Ich habe Sie doch schon unzählige Male gebeten, mich damit nicht zu quälen. Es ist genug, wenn ich mich selbst quäle.«
Dasselbe Zwiegespräch hatte sich schon so oft wiederholt, daß Franzi des dauernden Mißerfolges und des Liebeswerbens müde wurde. Die Zeit verging, er war noch immer nicht abgereist. Weihnachten kam heran. Draußen tobte Schneesturm, die Bauern brachten jeden Tag ein oder auch zwei frisch abgehäutete Wolfsfelle. Franzi und Carolyne verließen tagelang das Haus nicht, dessen überheizte und dumpfe Luft ihren zurückgedrängten Gefühlen ganz ähnlich war.
So kam das Jahr achtzehnhundertachtundvierzig heran.
In einer Januarnacht, als er sich nach einem Gedankenaustausch über Dante in sein Zimmer zurückzog, setzte er sich noch hin, um Briefe zu schreiben. Manchmal vergingen zehn Tage, ehe sie eine Verbindung zur Außenwelt bekamen. Bei solchen Gelegenheiten übergab er dann dem sich in die Schneefelder hinauswagenden Reiter ein ganzes Paket Briefe. Der Reiter brachte ihm dann wiederum eine ganze Menge aus Berditschew, der nächsten Poststation, mit. Jetzt schrieb er gerade an Karl Hugo, einen Pester Theaterschriftsteller, der gern nach Paris wollte und ihn um geldliche Unterstützung und Empfehlungen gebeten hatte. Er stellte einen Wechsel über hundert Gulden aus und gab in dem Begleitbrief die Anschrift seiner Mutter, 20, Rue Louis le Grand, und die Bellonis, der diesen Winter in Paris verbrachte, 5, Rue St. Georges, an.
Er war in seinem Brief gerade an dieser Stelle angelangt, als ihn in der tiefen Stille, in der man sogar das Knistern der Kerze hören konnte, ein Geräusch von der Türe her aufhorchen ließ. Er erhob sich und sah nach. Vor der Türe stand die Fürstin Carolyne und lächelte verstört. Sie war trotz der nächtlichen Stunde noch vollständig angezogen.
»Ich wollte eben bei Ihnen anklopfen. Wie sonderbar, daß Sie die Türe gerade in dem Augenblick geöffnet haben.«
»Was ist? Ist etwas geschehen?«
»Es ist nichts geschehen. Ich muß mit Ihnen sprechen. Ich habe mich entschlossen.«
Sie traten zusammen ins Zimmer. Die Fürstin setzte sich und hieß auch ihn Platz nehmen, als ob sie in ihrem eigenen Zimmer wäre.
»Hören Sie mich bitte an, Franzi. Ich habe alles genau überlegt. Die letzte Minute, bis zu der ich es aushalten konnte, ist nun da. Ich kann nicht mehr.«
Franzi war schon im Begriff, sich von seinem Stuhle zu erheben wie ein Löwe, der auf dem Sprung ist. In dem Blick der Frau lag aber etwas, das ihn zurückhielt. Die Fürstin fuhr fort:
»Ich werde mich von meinem Mann scheiden lassen und Ihre Frau werden. Ich will als Frau Liszt in Weimar leben und an Ihrer Arbeit teilnehmen. Warum machen Sie so ein erschrockenes Gesicht? Ich dachte, Sie würden sich freuen.«
Da erhob sich Franzi doch von seinem Stuhl, um das Zimmer zweimal zu durchqueren. Die Fran sah ihn tief erschüttert an.
»Warum sagen Sie nichts? Lieben Sie mich denn nicht? War das Ganze nur ein Spiel? Und weichen Sie jetzt, wo es ernst wird, zurück?«
»Das ist nicht so einfach«, entgegnete er, vor der Frau stehenbleibend, »ich kann solange vor Freude nicht jauchzen, als Sie meine Bedingungen nicht erfüllt haben.«
»Bitte. Was sind diese Bedingungen?«
»Meine Bedingungen sind materieller Art …«
Die Frau schrie leise auf vor Angst. In ihrem Gesicht stand Entsetzen. Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und sprach weiter:
»Hören Sie mich bis zum Schluß an. Ihre finanzielle Lage kenne ich sehr gut. Meine Bedingung ist, daß Sie ein Opfer für mich bringen. Wenn Sie meine Frau werden, dann bringen Sie nur soviel Vermögen mit, als Sie in die Ehe mitgebracht haben. Ich weiß, wieviel das ist. Es reicht aus, daß Sie neben mir, der noch für eine Mutter und drei Kinder zu sorgen hat, nicht in Armut zu leben brauchen.«
»Gut, Franzi, – aber das andere … was soll mit diesem Riesengut … ich begreife nicht.«
»Lassen Sie das alles auf den Namen Ihrer Tochter schreiben. Ich will durch Ihre Liebe nicht steinreich werden. Nein, nein, darüber kann man nicht verhandeln, das können Sie nur entweder mit ja oder nein beantworten. Diese Lösung der Angelegenheit habe ich schon lange mit mir herumgeschleppt. Ich habe bisher davon nur nicht sprechen können. Sie sind so unendlich reich, daß ich über eine Heirat nicht habe mit Ihnen sprechen können. Wenn Sie aber gewillt sind, mein Leben zu teilen, so möge Sie der Herrgott mit allen beiden Händen dafür segnen, daß Sie einen Menschen so glücklich machen! Nun, ja oder nein?«
»Ohne Überlegung: ja!«
»Recht so. Dessen war ich sicher. Jetzt müssen wir wohl darüber sprechen, wie Sie sich die Abwicklung der ganzen Angelegenheit gedacht haben. Vor allem, können Sie sich scheiden lassen?«
»Die Zustimmung meines Mannes betrachte ich als zweifelsfrei. Ihm ist schon seit langem die Gewißheit des Nichtbestehens dieser Ehe nur eine Qual. Davon abgesehen ist er ein Protestant, für ihn bedeutet die Ehe also kein Sakrament. Die Hauptsache ist hier die kirchliche Scheidung. Kann man in Rom die Annullierung meiner Ehe durchsetzen oder nicht? Ich habe das Kirchenrecht gründlich durchstudiert. Es gibt einen Paragraphen, nach dem eine Ehe ungültig ist, wenn man ein minderjähriges Mädchen dazu gezwungen hat. Das werde ich nachweisen. Sobald die kirchliche Scheidung ausgesprochen ist, werden wir uns sofort trauen lassen. Bis dahin … habe ich mir die Sache so vorgestellt, daß ich unter dem Vorwand einer Reise nach Karlsbad aus diesem Lande flüchte, denn wenn ich hier bleibe, kommt die ganze Familie und Verwandtschaft Wittgenstein, mobilisiert den Hof des Zaren und unternimmt alles mögliche, um mich zu quälen und zu nötigen. Das will ich nicht erleben. Ich fliehe. Das Kind nehme ich selbstverständlich mit, denn der Vater könnte sowieso mit ihm nichts anfangen, und ich könnte mich von ihm auch nicht trennen.«
»Ich auch schon nicht mehr. In meinem Herzen lebt es wie meine anderen Kinder. Jetzt sind wir also im Grunde genommen heimlich Braut und Bräutigam!«
Mit strahlenden Augen neigte er sich der Fran zu. Sie aber merkte die Absicht des Kusses und entzog sich ihm.
»Nein, nein, bleiben Sie nur auf dem Stuhl sitzen. Ich will einfach nicht, daß Sie mich in diesem Hause küssen. Wenn wir solange gewartet haben, können wir jetzt auch noch warten. Nicht mehr lange. Mich hält hier nichts mehr. Auch die Möglichkeit habe ich schon aus dem Wege geräumt, daß etwa die Familie Wittgenstein durch den Hof mein Vermögen beschlagnahmen läßt. Für den größten Teil des Gutes habe ich bereits einen Käufer. Der bezahlt mir Bargeld. Das Geld werde ich mitnehmen und bei einer sicheren Bank deponieren. Wenn Sie es so wollen, dann eben auf Marias Namen. Das alles habe ich schon erledigt. Es fehlen nur noch einige geringfügige Formalitäten, dann kann ich gehen.«
Die Dienerschaft im Hause begann schon aufzustehen. Sie konnten aber die Unterhaltung noch immer nicht abbrechen. Sie gingen ins grüne Zimmer, ließen sich Tee kommen und fuhren in der Besprechung ihres Planes fort. Inzwischen war auch die kleine Prinzessin mit Miß Anderson aufgestanden und fand verwundert die Mutter in ihrem gestrigen Kleide vor. Franzi und Carolyne besprachen unentwegt die Zukunft. Vormittags um zehn Uhr wankten sie zu Tode erschöpft, blaß und mit tiefliegenden Augen in ihre Zimmer, um ein Weilchen zu schlafen.
Am 24. Januar reiste Franzi ab. Drei Monate lang hatte er mit dieser Fran unter einem Dache gewohnt, die ihn liebte, die er wiederliebte und die er doch noch nicht ein einziges Mal geküßt hatte.
Er fuhr geradewegs nach Ratibor, nachdem er den dort weilenden Fürsten Felix Lichnowsky benachrichtigt hatte, daß er eine lebenswichtige Angelegenheit mit ihm besprechen müsse. In Ratibor erzählte er dem Fürsten den Heiratsplan und bat um seine Hilfe. Der Fürst wollte mit Freuden bei dieser romantischen Geschichte mitwirken. Sie vereinbarten, daß Franzi nach Weimar weiterfahren und dort die Niederlassung vorbereiten solle; währenddessen würde Fürst Felix der Fürstin Carolyne bis zur russischen Grenze entgegenreisen und sie dann in sein Schloß nach Kryzanovicz mitnehmen. Dort würden sich die Liebenden wiedertreffen, um dann gemeinsam nach Weimar zu reisen. Die Fürstin selbst sollte einige Wochen in Weimar verbringen und dann in irgendeiner naheliegenden Stadt Aufenthalt nehmen, bis die kirchliche Scheidung ausgesprochen wäre.
Franzi begab sich nach Weimar. Er stieg im »Erbprinzen« ab und meldete sich sofort zu einer Audienz beim Großherzog an. Diese Audienz währte nicht lange. Seine Hoheit gab seiner Freude darüber Ausdruck, daß der Meister sich nunmehr entschlossen habe, dann sandte er seinen Adjutanten zu Maria Pawlowna, um Liszt anzumelden. Diese Audienz dauerte schon bedeutend länger. Vor allem mußte er über die Neuigkeiten in der russischen Gesellschaft berichten, von den Manövern in Jelisawetgrad und von der Badegesellschaft in Odessa. Franzi vermied zunächst vorsichtig den Namen der Fürstin Sayn-Wittgenstein. Dann kamen sie auf die Weimarer Neuigkeiten zu sprechen: dem Erbprinzen ginge es gut, der Großherzog habe dem Wunsche des Meisters Rechnung getragen und Herrn von Ziegesar zum Intendanten ernannt, Herr Chelard laufe mit saurer Miene herum, das Theater sei schlecht besucht und so weiter, und so weiter. Dann kamen Franzis Pläne an die Reihe. Einige Wochen lang wollte er jetzt hierbleiben, die Leitung der Opernaufführungen übernehmen, ein oder zwei Konzerte am Hofe veranstalten. Er stellte sich zugleich der Großherzogin und der Erbgroßherzogin zu Gesangsstunden und Harmonielehre zur Verfügung. Dann müsse er noch eine Auslandsreise unternehmen, das würde aber bestimmt die allerletzte sein …
»Wieder reisen? Wohin wollen Sie denn nun schon wieder um des Himmels willen?«
»Ich muß kaiserliche Hoheit überraschen: ich fahre an die schlesische Grenze, um meine Braut abzuholen, die kaiserliche Hoheit gut kennt.«
Maria Pawlowna nickte ohne jede Überraschung.
»Der Klatsch beruht also auf Wahrheit. Von der Carolyne Wittgenstein ist doch die Rede, nicht wahr?«
»Ja, von ihr. Kaiserliche Hoheit wissen es schon?«
»Mein lieber Freund, mir bringt die Post viele Briefe aus Rußland. Sie haben drei Monate laug bei der Fürstin gewohnt. Sie sind hoffentlich nicht der Meinung, daß man darüber nicht gesprochen hat? Ich beglückwünsche Sie meinerseits auf alle Fälle und wünsche Ihnen, daß Sie glücklich werden. Ich wünsche Ihnen auch Kraft zu Ihren Kämpfen. Denn damit müssen Sie rechnen, daß diese Scheidung nicht einfach sein wird.«
»Wir haben damit gerechnet, kaiserliche Hoheit. Unsere größte Hoffnung sind Eure kaiserliche Hoheit. Die Fürstin bat mich, Eurer kaiserlichen Hoheit ihre tiefe Verehrung auszusprechen; sobald sie nach Weimar komme, werde sie sich sofort zur Audienz melden und sich dem Schutze Eurer kaiserlichen Hoheit unterstellen.«
»Die Fürstin kommt hierher nach Weimar?« erkundigte sich die Großherzogin und machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Wir haben es so geplant. Sie möchte in der Nähe Eurer kaiserlichen Hoheit sein. Vielleicht werden Eure kaiserliche Hoheit verstehen, daß, wenn das Schicksal uns mit der Zuneigung der Schwester des Zaren beschenkt, wir uns dann erlauben, im Kampf für unser Glück diese Zuneigung in Anspruch zu nehmen.«
»Nun ja, die Zuneigung ist auch da. Ich erinnere mich noch gut an die Fürstin Carolyne. Ich fand sie sehr klug und interessant, als man sie mir am Hofe in Petersburg vorstellte. Ich helfe ihr natürlich gern. Aber würde das nicht einen Verstoß gegen die gesellschaftlichen Formen bedeuten?«
»Kaiserliche Hoheit, Weimar ist eine Stadt, in der es jedermann natürlich findet, wenn sich jemand ein paar Wochen hier aufhält. Dann aber kommt die Fürstin nicht meinetwegen hierher, sondern Eurer kaiserlichen Hoheit wegen.«
Doch von dem klugen Gesicht der Großherzogin wollte der Schatten nicht weichen. Franzi versuchte, in einem anderen Tone zu bitten.
»Kaiserliche Hoheit haben mich immer gern gehabt und waren stets gütig zu mir …«
Die Schwester des Zaren errötete leicht. Diese leichte Röte bewies, daß auch sie dem zauberhaftesten Mann Europas gegenüber nicht ganz gleichgültig geblieben war. Ihre Züge hellten sich auf. Sie nickte.
»Vertrauen Sie mir. Und jetzt entlasse ich Sie in Gnaden.«
Franzi verbeugte sich tief. Und die Großherzogin glich ihr leichtes Erröten damit aus, daß sie ihm diesmal ihre Hand nicht zum Kuß reichte. Er aber eilte nach Hause in den »Erbprinzen«, um der Fürstin diese Unterredung sofort zu berichten. Dann lief er eilig ins Theater, wo er mit dem Intendanten Ziegesar verabredet war. Dieser hatte ihn im Direktionsbüro bereits erwartet und sobald Franzi eintrat, sagte er zu dem Diener:
»Ich lasse die Herren bitten.«
Drei Herren traten ein. Chelard, Eberwein und Genast. Chelard war der bisherige Leiter des Weimarer Musiklebens, ein eitler, talentloser Mann, derselbe, der bei dem Bonner Bankett den Aufruhr gegen Liszt in Szene gesetzt hatte. Eberwein war der musikalische Direktor des Theaters, ein ausgezeichneter Musiker, ein guter, aufrechter und humorvoller Mensch, ohne persönlichen Ehrgeiz. Genast war der Regisseur, der erste Weimarer Bekannte Franzis, jetzt sein guter Freund. Der Intendant hieß die in ihren Kreis tretende neue Arbeitskraft feierlich willkommen, wünschte viel Erfolg zur Ausführung aller seiner Pläne und bat die anwesenden Herren, seine Arbeit nach bestem Wissen und Können zu unterstützen.
»Ich befürchte«, fiel Chelard sofort sauer ein, »daß die stark modernen Pläne des Monsieur Liszt hier Hindernissen begegnen werden.«
»Diese Hindernisse werde ich zu überwinden wissen, Monsieur Chelard!«
Eine sekundenlange, peinliche Pause entstand. Der Intendant hüstelte, um zu dieser heiklen Frage keine Stellung nehmen zu müssen. Er brauchte aber auch gar nicht zu antworten, denn Franzi riß alsbald das Gespräch an sich.
»Das erste, was ich zustandebringen will, ist eine würdige ›Fidelio‹-Aufführung. Damit werden wir aber bis zum sechzehnten, dem Geburtstag der Großherzogin, noch nicht fertig sein. Für diese Festvorstellung benötigen wir ein leichteres Stück. Ich bitte darüber unterrichtet zu werden, welche Werke bereits erworben sind und der Aufführung harren.«
Darauf hätte eigentlich Chelard antworten müssen, der aber schweigend mit den Fingern auf dem Schreibtisch trommelte und zum Fenster hinaussah. Genast antwortete statt seiner und zählte eine ganze Reihe von Opern auf, deren Mehrzahl Franzi unbekannt war. Er ließ sich die Partituren ins Hotel hinüberschicken, damit er sie noch am gleichen Tage durchstudieren könne. Dann bat er um eine vollständige Liste der Mitglieder des Theaters mit genauen Einzelheiten über ihre Vertragsbedingungen. Er verlangte ferner Auskunft über den Bestand an Instrumenten im Orchester, ein genaues Verzeichnis über das in der Theaterbibliothek vorhandene Notenmaterial und die Kassenberichte der letzten drei Jahre. Nur er sprach, die anderen machten sich Notizen. Auf den folgenden Tag setzte er eine Probe des »Fidelio« fest und bat auch um die Partitur dieses Werkes, damit er die üblichen barbarischen Striche wieder auflösen könne. Endlich erhob er sich.
»Ich hoffe«, ließ sich endlich Chelard vernehmen, »daß Sie als Dirigent des Orchesters ebenso erfolgreich abschneiden, wie hier.«
»Das hoffe ich auch«, entgegnete Franzi sofort, »denn der Musiker, der auf den Wink nicht unverzüglich einsetzt, kann gleich seine Sachen packen und gehen.«
Den ganzen Tag lang arbeitete er ununterbrochen, auch das Essen ließ er sich auf das Zimmer bringen. Er spielte in größter Eile sechs Opern hintereinander durch und entschloß sich für das gefällige Werk »Martha« des Dirigenten Flotow. Dann vertiefte er sich in »Fidelio«. Er arbeitete bis zum Morgengrauen daran, schlief drei Stunden und eilte ins Theater zur Probe. Dort machte er sich mit all den Leuten bekannt, die er noch nicht gesehen hatte, und wechselte mit jedem Mitglied des Ensembles einige höfliche Worte wie ein König, der eine Audienz abhält. Dann kam die Reihe an die Mitglieder des Orchesters. Endlich trat er zum Dirigentenpult, bekreuzigte sich und ergriff den Dirigentenstab. Er klopfte. Das Orchester begann mit der »Leonoren«-Ouvertüre. Nach fünf Takten klopfte er ab.
»Nein, meine Herren, so geht das nicht. Ich bitte jeden einzelnen, sich vorzustellen, daß er sich in einer Kirche befindet und zu spielen hat wie ein Apostel. So geht das nicht. Das ist ein Leierkasten. Von heute ab ist damit Schluß. Von heute ab ist hier jeder Tag ein Feiertag. Also vorwärts!«
Die Ouvertüre begann von neuem. Beim zehnten Takt runzelte Franzi die Stirne und witterte suchend umher, als ob er zwischen den einzelnen Tönen einen schlechten Geruch wahrgenommen hätte. Seine unbeirrbaren Ohren hatten irgend etwas aufgefangen. Sein Blick fiel auf eine Oboe. Es war ein kleiner, schwarzer Mann mit niedriger Stirn und hinterhältigem Blick. Franzi war sich sofort im klaren. Er klopfte ab und deutete auf den Musiker.
»Nicht doch, mein Freund, diese Anstrengung ist vergeblich. Sie spielen absichtlich falsch, um mich zu prüfen. Sind Sie verrückt, mein Sohn? Die Ohren Franz Liszts wollen Sie betrügen? Zunächst begnüge ich mich damit, daß ich Sie auslache und Sie auch der Heiterkeit der anderen Herren überlasse.«
Das Orchester lachte tatsächlich gut gelaunt über diesen kleinen Zwischenfall. Der Oboist schwieg verstört mit schiefem Blick.
»Lassen wir diese Scherze, meine Herren, hier muß sich jeder darein finden, daß der Dirigentenstab in meiner Hand ist. Und jetzt los, meine Herren, zum Teufel noch mal. Es soll klingen wie ein Gebet! Wir spielen Beethoven, meine Herren, Beethoven, der gleich nach dem Herrgott kommt.«
Nun verlief die Probe wie am Schnürchen. Und genau so war es mit den Säugern. Jeder Musiker und jeder Sänger bestaunte kopfschüttelnd diesen mit dämonischem Feuer dirigierenden, langhaarigen Menschen, der ihnen Vorschriften machte, die ihnen wie ein Rätsel vorkamen.
»Nicht ›singen‹, meine Gnädige, sondern singen Sie!«
»Dieses Piano ist nicht duftig genug. Mehr Duft, bitte! Verstehen die Herren nicht, was Duft ist?«
»Dieser Einsatz ist nicht gut! Er darf nicht einschneidend sein, sondern muß einfließen. Das ist ein großer Unterschied! Weiter, bitte!«
Nach der Probe geschah ein Wunder: die Mitglieder des Orchesters sowohl, als auch die Sänger blieben noch da. Sie mußten sich über diesen neuen phantastischen Menschen aussprechen, den sie zwar schon des öfteren Klavier spielen gehört, nicht aber am Dirigentenpult gesehen hatten. Sein sonderbares, beunruhigendes Verhalten hatte sie aufgewühlt, in Erregung gebracht und entweder zu heftigem Widerstand oder zu begeistertem Gehorsam gezwungen. Während der gehetzten Proben aber wurde der Widerstand immer geringer, die Begeisterung immer größer.
Außerhalb des Theaters ging es in diesen Tagen immer sehr laut zu. Franzi traf ab und zu demonstrierende Menschenmassen. Das ärgerte ihn stets, denn er mußte meistens stehenbleiben, bis die Demonstranten vorbei waren. Er aber hatte Eile. Warum sie demonstrierten, interessierte ihn nicht allzusehr. Er kannte die inneren Angelegenheiten des kleinen Weimarer Staates noch nicht genügend, um sich über solche Dinge ein Urteil bilden zu können. Er wußte nur soviel, daß ein Advokat namens Wydenbruck an der Spitze der Demonstranten stand und auch erreichte, daß ihn der Großherzog an der Arbeit des Grafen Hatzfeld teilnehmen ließ. Insbesondere am 15. März waren die Ansammlungen auf den Straßen sehr groß. Der Hauptplatz war von einer dichten Menschenmenge besetzt, und vom Balkon des Stadthauses hielt Wydenbruck eine Ansprache ans Volk. Franzi konnte sich kaum einen Weg bahnen, um in seinem Stammlokal Mittag zu essen.
»Was, zum Teufel, ist denn da draußen los?« erkundigte er sich beim Kellner.
»Wissen Sie denn nicht, daß wir jetzt Revolution haben?«
Franzi lächelte. Es schien ihm außerordentlich komisch, daß man das Revolution nannte, wenn jemand von einem Balkon herab eine Rede hielt, die von den friedlichen Bürgern ruhig angehört wurde. Er dachte zurück an die Juli-Revolution in Paris, die einst in seiner Jugend eine so große Rolle gespielt hatte. Ja, das war eine Revolution. Hier aber wurde bloß demonstriert, man jubelte der Freiheit und zugleich auch dem Großherzog zu.
Er achtete auch gar nicht weiter auf das Ganze. Die Bewegung verursachte auch im großherzoglichen Schloß keiner besondere Aufregung. Die Damen unterhielten sich lächelnd über Herrn Wydenbruck und setzten ihre musikalischen Studien fort. Nur der Großherzog war mehr beschäftigt als sonst. Er verhandelte von früh bis abends mit den verschiedensten Stadtvätern. Genau so der Erbgroßherzog, der jetzt tagelang keine Zeit fand, Franzi zu empfangen, worüber sich dieser aber nur freute, denn er brauchte jede Viertelstunde für den »Fidelio«.
»Martha« wurde erst in zweiter Linie geprobt, er wurde aber trotzdem auch damit fertig. Am Abend der Festvorstellung dirigierte Franzi im Frack. Die schöne, leichte Musik gefiel den Zuhörern ausnehmend, und in der Hofloge spendeten die hohen Herrschaften auffallenden Beifall. Der neue Dirigent konnte einen Erfolg buchen, als ob er Klavier gespielt hätte. In der Pause stattete er dem Großherzog einen Höflichkeitsbesuch ab.
»Es war vorzüglich!« lobte die Großherzogin begeistert.
»Sparen Sie Ihre Anerkennung, kaiserliche Hoheit«, wehrte er ab, »das war noch nichts. Das war nicht die Musik, die ich in Weimar einführen will. Im Herbst fange ich erst richtig an. Dann wird schon vieles anders sein … Dann …«
Er hielt ein und beendete den Satz nicht. Der Großherzog unterhielt sich mit dem Erbgroßherzog, niemand hörte der Großherzogin und dem Künstler zu.
»Sind Sie sehr verliebt?« fragte die Großherzogin.
»Wie ein Schüler«, gestand er verschämt und zugleich stolz.
Als er spät in der Nacht nach Hause kam, konnte er vor Müdigkeit nur einen ganz kurzen Brief an die Fürstin schreiben. Auf dem Briefbogen stand nur: » BBBBB«. Den Sinn dieser fünf Buchstaben verstanden nur sie beide. In ihrer Geheimsprache bedeuteten diese fünf Buchstaben ein französisch-polnisches Sprichwort: » Bon Boje bénira bons bessons, – der liebe Gott möge die beiden guten Geschwister segnen«. Sie, sie beide … Ja, er wird sie segnen … Die Scheidung wird gelingen, sie werden einander ewig angehören. Das Leben wird in der Herrlichkeit befriedigender und schöpferischer Arbeit solange währen, bis der erhabene, heilige Augenblick des Todes gekommen ist. Gott gebe, daß er recht spät eintrifft.