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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Die politische Lage Wagners hatte sich gebessert. Sachsen blieb ihm zwar verschlossen, aber in den anderen deutschen Ländern durfte er sich schon frei bewegen. Er wohnte auch in Weimar der Tonkünstlerversammlung bei, dem Fest, das anläßlich der Gründung des »Allgemeinen Deutschen Musikvereins« dort stattfand. Diese Gründung war Franzis Idee, eine Weiterbildung des im Sande verlaufenen Planes der Goethe-Olympiade. Dieses eine war wenigstens gelungen. Der Verein faßte alle Musiker Deutschlands in einem Lager zusammen, und der Zauber des Namens Liszt trug auch das seinige dazu bei, daß Franzi in den Vorstand gewählt wurde und Einfluß auf die neue Musik nehmen konnte. Es war beschlossen worden, daß der Verein jedes Jahr eine feierliche Versammlung mit großangelegten Konzerten abhalten solle. Das erste Konzert verlangte Franzi für Weimar, und so geschah es auch. Wagner kam ganz überraschend an. Man war eben bei der Probe, Franzi dirigierte. Der heimgekehrte Flüchtling, der meistangegriffene und bekrittelte Tondichter Europas trat in den Saal. Erstaunen, Begeisterung, Tumult. Dann ein dröhnender, begeisterter Tusch. Ollivier und Blandine, Bülow und Cosima waren ebenfalls anwesend. Von überall her waren zahllose Gäste eingetroffen. Wagner verbrachte seine ganze Zeit mit Franzis Familie. Insbesondere mit Bülows. Hans wurde in seiner tiefen Schwärmerei ganz rot, wenn der Halbgott seiner musikalischen Träume ihn auch nur anredete. Franzi hatte den Großherzog mehrfach gebeten, Wagner den Falkenorden zu verleihen oder ihn zumindest einmal zu einem Diner am Hofe einzuladen. Der Großherzog widerstand aber dieser Bitte ebenso höflich wie hartnäckig. Er begründete seinen Standpunkt damit, daß er einen Mann, dem das Betreten des Königreiches Sachsen verboten sei, nicht auszeichnen könne, und wenn er sämtliche Werke Shakespeares geschrieben hätte. Wer dem König von Sachsen nicht genug sei, dürfe auch ihm nicht passen. Wagner solle sich damit begnügen, daß sein Werk in Weimar aufgeführt worden sei, und zwar zu einer Zeit, wo man es nirgends auf der Welt aufgeführt hätte.

Das war die letzte Bitte, mit der Franzi den Großherzog anging, denn da kam das Telegramm aus Rom und zu gleicher Zeit das Schreiben aus Fulda. Die Kardinalskonferenz hatte der Fürstin auch zum zweiten Male recht gegeben und ihre Ehe annulliert. Kardinal Lucca, der Wiener Nuntius, hatte sich nicht mehr gesträubt. Carolyne telegraphierte Franzi, daß es ihr Wunsch wäre, sich an seinem fünfzigsten Geburtstag, am 22. Oktober, trauen zu lassen, Franzi möge also sofort kommen.

Da war keine Zeit zu verlieren. Franzi ließ von der Einrichtung eine Bestandsaufnahme machen und alles versiegeln, weil er noch ganz unschlüssig war, was er nach der Hochzeit anfangen würde. Er entließ seine Schüler, schrieb einen langen Brief an Agnes nach Brüssel, verabschiedete sich von dem großherzoglichen Paar und von der Familie Schorn, der einzigen, die Carolyne gesellschaftlich beigestanden hatte, dann reiste er ab. Aus dem Fenster des Eisenbahnwagens sah er gerührt auf die entzückende kleine Stadt zurück, wo er zwölf Jahre seines Lebens verbracht hatte und von wo aus er Wagners Musik in die große Welt hinausgehen ließ.

Nach einer langen und beschwerlichen Fahrt kam er in Rom an. Zwei Tage vor der Hochzeit, am 20. Oktober. Auf dem Bahnhof erwartete ihn Carolyne, die er seit eineinhalb Jahren nicht mehr gesehen hatte. Aus dem Wagen, der sie in die Stadt brachte, warf er keinen Blick auf die neue Umgebung. Er sah die Fürstin an, die erschreckend gealtert war, obwohl sie erst zweiundvierzig Jahre zählte. Die Kraftanstrengungen und Aufregungen der kampferfüllten Jahre in Rom hatten sie zugrunde gerichtet. Ihr Gesicht war eingefallen und hatte im Ausdruck etwas Raubvogelartiges bekommen, ihr Haar war voll weißer Strähnen. Franzi betrachtete alles das mit heißer Anteilnahme. Wenn diese Frau gelitten hatte, dann hatte sie seinetwegen gelitten. Im Wagen hielten sie einander bei der Hand.

»Ein wunderbarer Mensch ist er«, schwärmte die Fürstin, »gar kein Mensch mehr, sondern hier auf der Erde schon ein Geist und ein Heiliger.«

»Wer?«

»Der Papst. Ich behaupte, daß er wundertätig ist. Ich habe wochenlang an einer hartnäckigen Augenkrankheit gelitten, sie wollte nicht wieder vergehen. Da habe ich dem Papst aufgelauert, als er spazieren ging. Ich warf mich vor ihm nieder, daß er mich segnen möge. Er segnete mich. Am anderen Tage fehlte meinen Augen nichts mehr.«

Franzi sah Carolyne schweigend an. Sie sprach wie von Alkohol berauscht. Anscheinend hatte sie, wie immer, wenn die Nervenkraft versagte, der Mystizismus wieder übermannt. Gleichviel. In der vertrauten Ruhe ihres Ehelebens würde das wieder besser werden. Da begann Carolyne zu weinen.

»Franzi, Franzi, es ist fürchterlich, ich habe vor einem großen Unglück Angst. Schon die zweite Nacht träumte ich von dem Sarge meiner Mutter.«

Er bemühte sich, sie zu beruhigen. Er streichelte ihre Hand und sagte ihr zärtliche Worte. Der Wagen rasselte über das holprige Pflaster dunkler Gassen. Endlich waren sie bei dem kleinen Gasthaus angelangt, wo Carolyne für ihren Bräutigam ein Zimmer besorgt hatte. Sie brachten nur hastig das Gepäck unter, dann gingen sie Abendbrot essen. Anderthalb Stunden lang schilderte Carolyne nochmals den ganzen Leidensweg, dessen Einzelheiten ihre Briefe schon berichtet hatten. Dann erzählte sie, daß sie für die Hochzeit schon alles vorbereitet habe. Sie sollten in einer entzückenden, kleinen Kirche getraut werden, in der San Carlo di Corso. Die Kirche sollte über und über mit Blumen geschmückt sein, die morgen geliefert würden, Carolyne würde gerade noch Zeit haben, zu beichten und zu kommunizieren, sonst würde sie den ganzen Tag mit der Ausschmückung der Kirche beschäftigt sein … Das Restaurant, in dem sie saßen, wurde um Mitternacht geschlossen, Franzi begleitete die Fürstin im Wagen nach Hause.

Anderntags sah er sich ihr künftiges Heim an. Es war eine kleine Wohnung im zweiten Stock eines Hauses der Via del Babuino. Er beschloß sofort, dort nicht zu bleiben. Er wollte eine größere, hellere Wohnung haben. Davon sagte er aber Carolyne vorläufig noch nichts. Sie gingen zusammen in die Kirche und Franzi beichtete. Am Abend vorher hatte er sich für diese Beichte bis zum Morgengrauen sorgfältig vorbereitet.

Es war eine langen Beichte, weil es schon sehr, sehr lange her war, seit er zuletzt gebeichtet hatte. Insbesondere die Sünden des Fleisches nahmen in dieser Beichte viel Platz ein. Seine letzte Sünde war Emilie Genast, die Tochter des ersten Weimarer Regisseurs, eine Schauspielerin, eine junge Frau. Einige Tage vor dem Musikfest hatte Franzi kurze Zeit in Löwenberg als Gast des Fürsten Hohenzollern-Hechingen geweilt. Bereits einen Tag nach seiner Ankunft meldete ihm ein Lakai, daß ihn ein junger Engländer zu sprechen wünsche. Er ließ bitten, und in Männerkleidung trat Emilie ein. Franzi schlug erschrocken die Hände zusammen, sie beteuerte aber, sie sei leidenschaftlich in ihn verliebt und es sei ihr ganz gleichgültig, was daraus würde. Franzi konnte seinen Gast kaum aus dem Schloß schmuggeln. Dieses Abenteuer schien ihm jetzt in weiter, weiter Ferne zu liegen, als ob es vor zehn Jahren geschehen wäre. Er beichtete es. Und er beichtete gleich mit, daß er es nicht besonders bereute. Der Beichtvater gab ihm Pönitenz, und er ging zur heiligen Kommunion. Mit bebender Andacht, glücklich, mit einem unendlichen Dank zu Gott im Herzen. Dann arbeitete er bis spät abends mit der Fürstin zusammen an der Ausschmückung der Kirche. Am anderen Tage, morgens um sechs Uhr, sollte die Trauung stattfinden.

Als sie mit der Ausschmückung endlich fertig waren, gingen sie gemeinsam zur Fürstin Abend essen. Sie unterhielten sich noch lange, erfüllt von einem Gefühl erhabener Reinheit, schneeweißen Glücks, wie es Kinder bei der ersten Kommunion verspüren. Franzi wollte aber nicht allzulange verweilen, um am kommenden Morgen pünktlich um fünf Uhr aufstehen zu können. Er küßte Carolyne gerade die Hand, als es im Vorzimmer läutete.

»Das muß ein Irrtum sein,« sagte Carolyne, »es ist halb elf Uhr, ich erwarte niemanden mehr. Bleiben Sie doch noch einen Augenblick.«

Sie ging hinaus und kam nach einer Weile mit einem sehr hochgewachsenen, hageren Pfarrer zurück. Der Pfarrer stellte sich vor, er nannte irgendeinen italienischen Namen und drückte auch Franzi die Hand.

»Ich komme im Auftrage Seiner Eminenz, des Kardinals Antonelli. Seine Eminenz läßt mitteilen, daß Seine Heiligkeit der Papst die Heiratserlaubnis Eurer Hoheit zurückzieht. Er wünscht die ganze Angelegenheit noch einmal zu untersuchen. Seine Heiligkeit lassen durch Seine Eminenz mitteilen, Eure Hoheit möchten mir alle diese Angelegenheit betreffenden Akten aushändigen. Der Seelsorger der Kirche San Carlo di Corso erhält in diesem Augenblick gleichfalls die Anweisung, daß die Trauung morgen nicht stattfinden dürfe.«

Franzi saß wie versteinert am Tisch. Er glaubte, Carolyne würde in Ohnmacht fallen oder irrsinnig werden. Statt besten erwiderte Carolyne dem Geistlichen mit schauerlicher Ruhe und dumpfer Stimme:

»Ich habe es gewußt. Ich war darauf vorbereitet. Richten Sie bitte Seiner Eminenz aus, daß ich die Herausgabe der Akten verweigere. Auf die Eheschließung verzichte ich hiermit ein für allemal.«

»Carolyne!« rief Franzi aufspringend.

»Es soll so sein«, fuhr die Frau ruhig fort, »Eure Hochwürden will ich nicht länger aufhalten.«

Der Pfarrer verabschiedete sich, Carolyne gab ihm das Geleit. Franzi stand unbeweglich neben dem Tisch, als ob seine Füße gelähmt seien. Er hörte, wie draußen die Türe zufiel. Carolyne kam zurück. Es war schauerlich, ihr ins Gesicht zu blicken. Ihr Mund zuckte in einem wehmütigen Lächeln.

»Sagen Sie nichts, Franzi. Ich habe es schon seit drei Tagen aus verschiedenen göttlichen Zeichen gewußt. Wir dürfen uns nicht heiraten. Gott will es nicht. Was jetzt geschehen ist, war der Fingerzeig Gottes. Gehen Sie jetzt nach Hause.«

»Aber Carolyne, um Himmels willen …«

Da schrie Carolyne gequält und entsetzt auf:

»Gehen Sie! Ich bete Sie an, aber Gott will es nicht. Verstehen Sie denn das nicht? Sprechen Sie mir nie mehr von Heirat! Gott hat ein Zeichen gegeben. Er hat ein Zeichen gegeben! Gehen Sie sofort, sündigen Sie nicht gegen Gott!«

Mit einem Male begann sie am ganzen Körper zu zittern. Ihr Gesicht war das einer Heimgesuchten. Sie sah Franzi starr an, und Franzi sah, daß er hier nichts mehr tun konnte. Das Ergebnis von vierzehn Jahren qualvollen Wartens, unendlichen Mühens und Strebens war innerhalb einer einzigen Minute vernichtet worden. Mit besorgtem Blick ging er auf die Türe zu. Er sah noch einmal zurück, die Fürstin sah ihn aber nicht mehr an. Sie stand reglos neben dem Tisch und bebte am ganzen Körper.

Draußen regnete es. Er ging auf die andere Seite der Straße und sah zum zweiten Stock hinauf. Das Fenster war erleuchtet. Er wartete lange und wußte selbst nicht worauf. Dann erlosch oben das Licht. Sein Mantel war vollkommen durchnäßt. Auf der Straße keine Seele weit und breit.

Langsam und zögernd ging er auf die Piazza di Spagna zu.

*


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