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Vierzehntes Kapitel

Er mußte seine Kinder erst kennenlernen, denn er wußte nichts von ihnen. Bis jetzt hatten nur die Sorgen der Vaterschaft auf ihm gelastet, ihre Freuden waren ihm nur wenig zuteil geworden. Jetzt konnte er auch diese genießen. Er mußte seine Zeit zwischen Carolyne und seiner Familie teilen, die Fürstin aber redete ihm selbst zu, sich nicht um sie zu kümmern, sondern zu seinen Kindern zu gehen.

Die Mädchen wohnten in der Rue Casimir Périer, Daniel hatte einen eigenen Erzieher, bei dem er wohnte und von wo aus er das Lyzeum Bonaparte besuchte. Mutter Liszt hatte auch ihr eigenes Heim, und so versammelte Franzi die Seinigen bald hier, bald dort. Und mit größtem Eifer ging er an die wichtigste Eroberung seines Lebens heran: er wollte seine Kinder erobern, die ihm, dem Stockfremden, verstört gegenüberstanden. Das heißt: nur die Mädchen. Daniel fand sofort zum Vater. Vom ersten Augenblick an hatten sie sich als alte vertraute Bekannte angesehen und angelächelt. Die beiden Töchter beantworteten dagegen nur schüchtern und zurückhaltend seine Fragen.

Langsam konnte er sich aber schon über ihre Veranlagung und Natur ein Bild machen. Die beiden Mädchen waren ganz verschieden geartet. Blandine war sanftmütig, bescheiden, errötete schnell, ihre Gedanken arbeiteten bedächtig, hinter ihren Worten verbarg sich eine feine, angeborene Zärtlichkeit. Cosima schien älter als ihre Schwester, obwohl sie die jüngere war. Von ihr ging eine harte Entschlossenheit aus, ihr Gedankengang war schlagfertig, eine fast männliche Kraft und Härte war ihr hervorstechendster Wesenszug. Der Vater machte seinen Töchtern förmlich den Hof, wie ein Freier, der die Zuneigung seiner Dame gewinnen will: er überhäufte sie mit Geschenken, er machte ihnen Komplimente, lobte ihr Haar, ihren Teint, die Anmut ihres Ganges, – im wahrsten Sinne des Wortes liebäugelte er mit ihnen. Wenn er sich je danach gesehnt hatte, Zuneigung zu finden, so sehnte er sich jetzt über alle Maßen nach der Liebe und Zuneigung dieser beiden Mädchen. Mit Blandine hatte er keine schwere Mühe. Sie schmiegte sich schon am zweiten Tage liebevoll an ihn an und lachte über seine kleinen Scherze. Über Cosima war aber der Sieg nicht so leicht. Sie blieb untadelig achtungsvoll, zog aber einen kühlen Zauberkreis um sich und ließ ihren Vater nicht in diesen Kreis eindringen. Um so mehr war der Vater bestrebt, das Herz der zurückhaltenden Tochter zu gewinnen. Äußerlich glich ihm Cosima am meisten: ihrer markanten, vom Vater geerbten Nase wegen konnte man sie nicht einmal hübsch nennen. Blandine glich in ihren Gesichtszügen eher ihrer Mutter; wenn sie auch nicht so blendend schön war, wie Marie einst gewesen, so war sie doch mehr als schön: ihr Gesicht wurde von einer zarten Anmut verklärt, einer Anmut, deren sich das mit einer blonden Haarkrone gekrönte schneeweiße Gesicht der Gräfin D'Agoult niemals hatte rühmen können.

Am meisten glich Daniel seinem Vater. Nicht nur sein Gesicht, sondern auch seine Haltung, sein Gang, die Bewegung seiner Hände, alles war dem Vater sehr ähnlich. Während die beiden jungen Mädchen knapp die Fragen des Vaters beantworteten und sich am liebsten zurückzogen, war der Junge voller Lebendigkeit, voller Mitteilungsbedürfnis, voll sinnender Erregung. Er wartete die Fragen seines Vaters nicht ab, er fragte selbst, zehn Fragen auf einmal über zehn verschiedene Sachen in einem Tempo, daß der Vater kaum zu antworten vermochte. Von den Kindern war zweifellos der Junge am begabtesten. Cosima war vielleicht schlagfertiger, die Intelligenz des Jungen überstrahlte aber seine Schwester, er war innerlich von einer schwärmenden Begeisterung beseelt; sein Vater war ehrlich entzückt von ihm.

»Was willst du einmal werden?« fragte er seinen Sohn.

»Ich will Maler werden und wundervolle, große Bilder malen. Die ganze Welt will ich auf die Leinwand bringen, die Menschen, die Dinge und die Natur, und nichts soll übrig bleiben, was ich nicht gemalt hätte. Bis jetzt habe ich im Lyzeum drei Preise für meine Zeichnungen bekommen. Warten Sie mal, Papa, ich will Ihnen meine Arbeiten gleich zeigen.«

Das Kind schleppte eine große Mappe herbei und breitete mit der Erregung eines seine Werke ausstellenden Künstlers seine Schöpfungen vor dem wichtigsten Publikum aus. Er schien in der Tat sehr begabt. Er war schon bestrebt, nach der Natur zu malen, und seine einzelnen Striche verrieten eine so überraschende Beobachtungsgabe und eine so gereifte Auffassung, die nicht nur einem dreizehnjährigen Kinde, sondern sogar einem jungen Manne hätten zur Ehre gereichen können.

»Bravo«, lobte der Vater, »du hast ganz entschieden Talent.«

»Sie erlauben«, fragte das Kind aufgeregt, »daß ich Maler werden darf?«

»Selbstverständlich. Zuvor mußt du dir aber irgendein Diplom beschaffen. Die Welt ist sehr eigenartig, mein lieber Sohn, und den, der nur Künstler ist, reiht man nur schwer als gleichwertig unter die Menschen ein. Du kannst zum Beispiel Diplomat werden, oder etwas Ähnliches, ich werde dich aber nie zwingen, daß du einen Beruf ergreifst oder eine Arbeit verrichtest, zu der du keine Lust hast. Wenn du dir ein Diplom verschafft hast, kannst du meinetwegen malen, soviel du nur willst.«

»Aber Papa, Sie haben sich doch auch kein Diplom erworben und sind trotzdem weltberühmt geworden. Warum darf ich das nicht auch?«

»Du sollst dich, im Gegenteil, durch mein Beispiel belehren lassen. In meiner Jugend habe ich unter der Einfältigkeit der Menschen sehr viel gelitten, eben weil ich nur ein Künstler war. Wenn du erst größer bist, wirst du das verstehen. Vorerst lerne nur fleißig. Denke immer daran, daß du mir eine unbeschreibliche Freude bereitest, wenn du gut lernst. Wieviel Schüler in deiner Klasse sind denn besser als du?«

»Besser als ich? Aber Papa, ich habe Ihnen doch geschrieben, daß ich nicht nur in der Klasse, sondern im ganzen Lyzeum der Erste bin. Erinnern Sie sich denn gar nicht, daß ich Ihnen das geschrieben habe?«

»Natürlich erinnere ich mich«, log der Vater, »ich kann aber doch nicht wissen, daß das auch so geblieben ist. Wundere dich nur nicht, daß ich dich deswegen nicht besonders lobe. Ich halte es für selbstverständlich, daß ein Liszt dort, wo er ist, stets nur der Erste sein kann. Das erwarte ich auch von dir.«

»Ja«, erwiderte der Junge schlicht und überzeugt, »auch ich denke so.«

Franzi legte seinem Sohne die Hand auf den Kopf und sah ihm in die Augen. Aus den leuchtenden klaren Augen des Knaben strahlte ihm die Gefühlstiefe und der Ehrgeiz seiner eigenen Kindheit entgegen. Er war tief bewegt und hatte das Gefühl, daß weder Liebe noch irgendeine andere Seelenregung sich an Tiefe und Vollkommenheit mit dem vergleichen ließe, was ihn mit diesem entzückenden, klugen und netten Jungen verband. Er wußte, daß er in ihm sich selbst liebte, aber ihn noch viel, viel mehr als sich selbst. Der Gedanke der künstlerischen Unsterblichkeit kam ihm in den Sinn, die ihm jetzt nebensächlich erschien. Das ist die wirkliche Unsterblichkeit, die urälteste und natürlichste Unvergänglichkeit des Menschen, dieser Junge, der seinen Namen trägt, sein Blut und seine Seele besitzt. Wenn er dereinst nicht mehr sein wird, wird er trotzdem in diesem Knaben und später in dessen Kindern weiterleben.

Auch Klavier spielen ließ er seine drei Kinder. Alle drei spielten ausgezeichnet und er fand, daß unter ihnen Cosima der beste Musiker war. Dann befragte er sie eingehend über ihre Spiele, ihre Kameraden, über ihre Neigungen und Zuneigungen und empfand den seltsamen Zauber, in diesen drei Teilen seiner Seele, die sich voneinander so eigenartig unterschieden, nach sich selbst zu forschen. Und endlich mußte auch die heikle Frage gestellt werden:

»Wie geht's eurer Mutter?«

Da wurde Cosima am lebendigsten. Offensichtlich war sie von den drei Kindern ihrer Mutter am meisten zugetan. Aus ihrer Antwort ging hervor, daß es Marie gut ging, sie hatte sich bei den Champs Elysées ein wunderbares kleines Schloß gekauft, man nannte es »Rosenhaus«. Die Kinder erzählten entzückt von diesem Haus, wohin sie nur selten kamen, weil ihr Stundenplan nur den Sonntag frei ließ, die Mutter am Sonntag jedoch ihren Empfangstag hatte, an dem die Kinder ihren politischen und literarischen Gästen nur zur Last gefallen wären.

»Papa«, sprudelte Daniel hervor, »wissen Sie denn schon, daß ich Onkel geworden bin?«

»Wieso?«

»Ja, so ist es, Blandine und Cosima sind Tanten geworden. Claire hat ein kleines Baby bekommen.«

»Claire? Welche Claire?«

Einander überschreiend begannen die drei Kinder zu erklären, von wem die Rede war, und Franzi besann sich langsam. Die Halbschwester seiner Kinder, die älteste Tochter der Gräfin D'Agoult, hatte er ganz vergessen. Die war ja selbst schon eine verheiratete Frau, die Frau des Marquis Charnacé, und Mutter. Marie war also Großmutter geworden. Gott im Himmel, wie die Zeit verging …

»Das muß doch ein entzückendes Baby sein. Seht ihr es öfters?«

»Ich habe es nur einmal gesehen«, sagte Daniel, »ich mag es nicht besonders. Es riecht nach Milch, und ich kann Milch nicht leiden. Die Hochzeit Claires war aber sehr schön. Schade, daß Sie zu dieser Zeit nicht in Paris waren. Wir waren alle in der Kirche, und ich habe einen neuen Anzug bekommen. In der Kirche wurde wunderschön auf der Orgel gespielt, ein herrlicher Marsch, den Mendelssohn komponiert hat. Papa, warum sind Sie nicht zum Komponisten geboren?«

»Was?« Franzi sah seinen Sohn verwundert an. »Ich nicht zum Komponisten geboren? Wo hast du denn das her?«

»Die Mama sagt es.«

Franzi blickte seine Töchter an und erwischte sie, wie sie mit Händen und Füßen dem Jungen Zeichen machten, er möge schweigen. Cosima versuchte schnell die Situation zu retten.

»Rede keine Dummheiten, Daniel, die Mama hat sich nicht so ausgedrückt. Die Mama hat gesagt, der Papa wäre ein großartiger Komponist, aber ein noch viel größerer Klavierkünstler.«

Franzi wußte genug. Er verspürte einen bitteren Geschmack im Munde. Über den Köpfen seiner Kinder sah er Maries kleinlichen Haß schweben. Er wollte aber die Mißstimmung abschwächen:

»Eure Mutter kennt die Sachen nicht, die ich in den letzten Jahren geschrieben habe. Ich bin überzeugt, daß sie ihr sehr gut gefallen würden. Eure Mutter ist auf jedem Gebiet sehr kunstverständig.«

»Ach, Mama ist eine vollkommene Frau«, rief Cosima begeistert, und das musikalische Gehör des Vaters vernahm aus dieser Begeisterung eine Herausforderung, er entdeckte den Unterton der Streitsucht.

»Sehr richtig«, erwiderte er sofort, »so müßt ihr eure Mutter lieben.«

Während der ganzen acht Tage, die er in Paris verbrachte, sprach er so beharrlich mit seinen Kindern von ihrer Mutter. Und er mußte sehen, daß das seine feinfühligen und empfindsamen Kinder überraschte. Es war nicht schwer zu erraten, was hinter alledem verborgen lag: es bestand kein Zweifel, daß Marie ihn vor den Kindern herabminderte. Lange besprach er diesen Umstand mit Mutter Liszt, die empört auf Marie schimpfte.

»Ist denn das eine Mutter?« erregte sich die alte Dame. »Ich habe immer gesagt, daß diese Person in Wahrheit ihre Kinder gar nicht lieb hat. Wenn sie sie wirklich lieb hätte, würde sie in ihnen die Gefühle für ihren Vater nicht zerstören.«

»Lassen Sie nur, Mutter, ich kann das schon vertragen. Die Kinder wachsen ja nun auch langsam heran, werden sich mit der Zeit ihre eigenen Gedanken machen, und dann wird jede Wühlarbeit sowieso vergeblich sein. Man kann ja auch nicht behaupten, daß sie ihre Kinder gar nicht lieb hätte. Sie liebt sie, soweit sie eben überhaupt lieben kann. Daß sie besser hassen kann, dafür kann sie nicht. Sie ist so geboren. Ich kann auch nichts dafür, daß ich blond bin.«

»Das ist alles ganz schön und gut. Es ist aber nicht gleichgültig, was für eine Seele eine Frau hat, die ein Mann zur Mutter seiner Kinder macht.«

»Aber Mutter, folgen Sie doch nicht dem Beispiel Maries. Den Kindern geht nichts ab. Ich habe sie nunmehr kennengelernt, und ich kann Ihnen bloß sagen, daß ein jeder Vater auf drei solche Kinder nur stolz sein kann. Blandine ist die Güte und Zärtlichkeit selbst, Cosima ist sehr klug und tüchtig, und von Daniel bin ich einfach bezaubert. Und ich sehe, daß auch er von mir hingerissen ist. Eine größere Freude kann ich mir vom Herrgott gar nicht erbitten. Der Seele meiner Töchter bin ich auch ein wenig näher gekommen. Von nun an werde ich sie öfter sehen. Sie sollen es noch erleben, wie sehr sie ihren Vater liebhaben werden. Wissen Sie übrigens, wen ich für sie eingeladen habe? Wagner. Ich möchte, daß sie ihn kennenlernen. Das wird ihnen in ihrem ganzen späteren Leben eine große und stolze Erinnerung bleiben. Außerdem habe ich Carolyne und ihre Tochter eingeladen. Ich würde es begrüßen, wenn Manja stich mit den zwei Mädchen anfreundete. Und dann ist es ja auch wichtig, daß sich die jungen Mädchen langsam an Carolyne gewöhnen. Wenn wir verheiratet sind, will ich die Kinder oft und lange bei mir haben.«

»Was ist denn mit der kirchlichen Scheidung?«

»Sie verzögert sich. Wir hoffen aber, daß wir sie fürs nächste Jahr erreichen. Es wird höchste Zeit, denn sowohl Carolyne als auch ich werden langsam dieser unseligen Aufregungen müde.«

Das große Familienmahl veranstaltete Franzi im Palais Royal. Hier traf Carolyne zum ersten Male mit den Kindern zusammen. Schon auf den ersten Blick konnte man sehen, daß sie von der Fürstin sehr viel gehört haben mußten. Daniel ließ sich nicht weiter stören und unterhielt sich artig und klug mit der fremden Dame, und allem Anschein nach gefiel ihm sowohl die Fürstin, als auch die junge Prinzessin. Die beiden Mädchen bezeugten aber lediglich eine kalte Höflichkeit. Sie betrachteten die Fürstin als den größten Feind ihrer Mutter. Blandine vermochte noch ein wenig warm zu werden und zeigte endlich auch Manja gegenüber eine liebenswürdige Freundschaft, aber Cosima blieb standhaft. Sie war zwar ihrem Vater gegenüber höflich, verschloß sich jedoch beharrlich vor jeder Annäherung. Der Ton wurde auch am zweiten Abend, den Franzi im Hause der Frau Patersi veranstaltete, nicht herzlicher. Es waren die gleichen Personen eingeladen, und Wagner las den letzten Akt seiner Tetralogie vor, weil der Vater es sich unter allen Umständen in den Kopf gesetzt hatte, daß seine Kinder von dem größten Werk der Musikgeschichte der Welt wenigstens eine Ahnung haben sollten.

Die Vorlesung fiel diesmal aber durch. Niemand vermochte aufmerksam den Versen zu folgen, eine heikle, gespannte Stimmung lag in der Luft, die durch das unerwartete Eintreffen Berlioz', der wußte, daß man Franzi abends bei seinen Töchtern vorfinden würde, eher noch unerträglicher wurde. Wagner machte Berlioz' Erscheinen nervös. Unlustig las er weiter, um den Vortrag so schnell wie möglich zu beenden. Mit betontem Wohlwollen lobte Berlioz den Text. Franzi machte den Dolmetscher zwischen den beiden. Am nächsten Tage lud Berlioz sowohl Wagner als auch Franzi zu sich zum Mittagessen ein. Er ahnte nicht, daß der deutsche Kollege kein großer Bewunderer von ihm war. Die schwierige Verständigung in deutscher und französischer Sprache, verschiedene kleine störende Einzelheiten und die unverstandene Vorlesung gestalteten die Stimmung so qualvoll, daß das gespannte Verhältnis zwischen Carolyne und Franzis Töchtern nur noch schlechter wurde, statt sich zu bessern.

Das Bekanntwerden mit den Kindern und der ungewohnte Zustand der Vaterschaft nahmen Franzi derartig in Anspruch, daß ihm für die alte Stadt seiner Jugend kaum Zeit übrig blieb. Paris war voller Sehenswürdigkeiten: interessante Theater, luxuriöse Restaurants, die man erst nach seiner Zeit eröffnet hatte, – das gesellschaftliche Leben wurde bestimmt durch die jüngsten Ereignisse: die Wiederherstellung des Kaiserreichs durch Napoleon III. Überall begegnete man dem mit dem N-Buchstaben geschmückten Adler. Das Schicksal der alten Bekannten Franzis hatte sich sehr wechselvoll gestaltet. Er ging trotzdem nirgends hin, nur zu einem Abendessen bei Erards nahm er Wagner mit und dinierte einmal mit ihm bei Berlioz in der Gesellschaft von Jules Janin. Hier hörte er allerlei von den alten Bekannten, und das genügte ihm. Lamartine war vollständig verarmt, Victor Hugo in Ungnade gefallen, George Sand war auf ihr Landgut übergesiedelt, Lamennais kränkelte fortwährend und war sehr alt geworden, Urhan war gestorben, Heine, der sich ihm gegenüber einst so schändlich benommen hatte, lag an Rückenmarkschwindsucht darnieder. Überall Krankheit, überall nur Schlechtes. In diese Welt sehnte sich Franzi nicht mehr zurück. Um aber doch wenigstens einen Eindruck von dem Leben des neuen Paris zu bekommen, nahm er sich eine Loge in der Oper, als Meyerbeers »Prophet« auf dem Spielplan stand. Nach langwierigen Überredungskünsten erreichte er, daß auch Wagner einen Frack anzog, und so gingen sie zu viert mit Carolyne und ihrer Tochter in die Oper. Der Zuschauerraum bot nichts Neues, unter den Zuschauern dieses eindruckslosen Theaterabends entdeckte er sozusagen kein einziges bekanntes Gesicht. Während der ersten Pause nahm er Wagner mit und führte ihn im ganzen Theater herum. Im Foyer, im Vestibül, im Erfrischungsraum – alles öde.

»Ernüchternd«, schüttelte er den Kopf, »ich hatte geglaubt, daß wir wimmelndes, pulsierendes Leben vorfinden würden. Zu meiner Zeit war das ganz anders. Wenn ich daran denke, daß ich hier einst mit der Gräfin Laprunaréde, mit der Herzogin Rauzan, mit der Herzogin Belgiojoso und Chopin auf und ab ging … nein, nein, ich habe jemanden vergessen. An diesem Abend war auch Hiller bei uns.«

»Hiller soll verrecken«, entgegnete Wagner zornig, »wir aber gehen jetzt in unsere Loge zurück, weil ich mich hier langweile.«

Die zwei befrackten Männer schritten langsam ihrer Loge zu. Einer oder der andere erkannte Franzi. Sie blieben verwundert stehen, er aber ging gleichgültig weiter. Von seinen zweiundvierzig Jahren hatte er sechsundzwanzig so verbracht, daß er in ganz Europa bekannt war und man ihm überall nachschaute. Er bemerkte es aber gar nicht. Auch jetzt noch ging ihm Hiller im Kopf herum. Das Foyer dieses Theaters hatte diese Erinnerung noch lebendiger und den Schmerz des Verrates nur noch brennender gemacht. Ganz Paris tat ihm weh. Er freute sich, daß er bald wieder abreisen konnte.

In den letzten Tagen milderten jedoch zwei unerwartete Begegnungen seine schmerzlichen Erinnerungen an Hiller. Zunächst begegnete er der schönen Frau Kalergis, seiner Warschauer Liebe, die ihn später während seines Gallenleidens liebevoll gepflegt hatte und mit der er ab und zu auch jetzt noch im Briefwechsel stand. Er ging gerade mit Wagner in der Rue Royale spazieren, als sie ihnen entgegenkam. Die blonde Schönheit mit ihrer Walkürengestalt war begehrenswerter denn je. Mit stürmischer Freude begrüßten sie sich. Franzi wollte sie mit Wagner bekannt machen, aber es stellte sich heraus, daß das nicht mehr nötig war. Frau Kalergis war bei der durchgefallenen Aufführung des »Tannhäuser« in Dresden zugegen gewesen, hatte sich den Tondichter damals vorstellen lassen und war seit dieser Zeit eine überzeugte Wagnerianerin. Sofort versanken sie und Wagner in tiefgründige Gespräche. Franzi hätte sie unbemerkt verlassen können, wenn er es gewollt hätte.

»Sie soll dir gehören«, dachte er lustig bei sich, »nimm sie mit. Was sollte ich denn mit ihr anfangen?«

Die zweite unerwartete Begegnung griff noch viel weiter in seine Vergangenheit zurück. Die Gräfin D'Artigaux, geborene Caroline Saint-Cricq, gab ihre Visitenkarte bei ihm ab. Darauf stand die Stunde des Wiedersehens vermerkt. Es war nicht weiter überraschend, daß sie in Paris auftauchte, denn Franzi hatte ihren in Weimar erhaltenen Brief beantwortet und ihr ungefähr den Zeitpunkt seiner Reise nach Paris mitgeteilt. Franzi aber konnte zu dieser Zusammenkunft nicht hingehen. Er hatte mit seinen Kindern bereits eine Ausfahrt in das Bois vereinbart, und es wäre sicherlich eine große Enttäuschung für sie gewesen, wenn diese Ausfahrt hätte unterbleiben müssen.

»Gehen Sie statt meiner zu diesem Rendezvous«, bat er die Fürstin, »Sie wissen ja alles, und ich würde mich sehr freuen, wenn Sie sich recht angenehm und lange miteinander unterhalten würden. Entschuldigen Sie mich bei ihr und bitten Sie um eine neue Zusammenkunft für mich.«

Carolyne übernahm neugierig und mit Freuden diese Stellvertretung. Sie ging zusammen mit ihrer Tochter hin.

»Wie haben Sie sie gefunden?« erkundigte sich Franzi, als er spät am Abend die Fürstin traf.

»Wie soll ich Ihnen das sagen: sie muß einst sehr schön gewesen sein. Jetzt steht das viele Leid auf ihrem Gesicht geschrieben. Ihre Gesichtszüge sind hart und trostlos. Auch ihre Kleidung ist ein wenig sonderbar, sie kleidet sich sehr ländlich. Ihr Geist aber ist überwältigend. Sie erzählte, wie herrlich die Liebe zwischen Ihnen beiden war. Sie hat es genau so erzählt wie Sie. Mich hat sie gebeten, Sie glücklich zu machen. Mich und auch Manja hat sie gesegnet. Sie läßt Sie aus ganzem Herzen grüßen. Sie ist schon wieder abgereist, weil sie sich wegen ihrer Tochter sehr beeilen mußte.«

»Dann werde ich sie also nicht so bald wieder sehen. Ich freue mich aber, daß Sie beide sich wenigstens kennengelernt haben, – die beiden Frauen, die für mich ein und dasselbe bedeuten. Was war sonst Neues?«

»Wagner war hier und hat Sie gesucht. Ich habe mich eine ganze Weile lang mit ihm unterhalten. Von Ihren Kindern. Von Daniel sprach er im höchsten Tone der Begeisterung. Es gefällt ihm ausnehmend gut, daß Daniel auch ein ungarisches Gedicht aufsagen kann. Seiner Meinung nach ist der Junge vor allem eine große Sprachbegabung.«

»Und von den Töchtern?«

»Da hat er sich ziemlich unhöflich geäußert. Er sagte, daß es ihm gar nicht eingefallen wäre, Blandine und Cosima näher zu betrachten, ihn habe nur der Junge interessiert.«

Vor seiner Abreise brachte Franzi zum letzten Male seine Kinder nochmals mit Carolyne und ihrer Tochter zusammen. Die Stimmung war nicht mehr so gequält, wie im Anfang, wurde aber auch jetzt noch nicht vertrauter. Als sie sich an der Ecke der Rue Casimir Périer in einen Wagen setzten, um nach Hause zu fahren, da sie im selben Hotel wohnten, ergriff Franzi die Hand der kleinen Prinzessin.

»Kleine Manja, ich danke Ihnen herzlichst für alles, was Sie während dieser Tage in Paris für mich getan haben. Ich habe Sie auch heute abend beobachtet, wie tapfer Sie bestrebt waren, das Herz meiner Töchter zu gewinnen. Sie wissen ja alles und können sich deshalb auch vorstellen, wie dankbar ich bin. Sie werden schon sehen, daß Sie noch sehr gute Freunde werden, wenn Sie erst einmal alle beisammen sind.«

»Ach«, fiel ihm Manja plötzlich ins Wort, unterdrückte aber schnell, was sie sagen wollte und erwiderte nur: »Die Mädchen sind sehr lieb.«

Franzi erriet aber ganz genau, was Manja hatte sagen wollen. »Ach, wo werde ich dann schon sein!« Sie konnte kaum erwarten, aus seiner und ihrer Mutter Umgebung wegzukommen.

Der Wagen ratterte am lauen Oktober-Abend durch das glanzerfüllte Paris dahin. Sie schwiegen. Und Franzi sann darüber nach, von welchem Fluch er wohl verfolgt sein mochte: wohin ihn sein Weg auch nur führte, – überall entstand nur Verwirrung, Schmerz und Unglück in den Familien. Und als er auf die Pariser Straßen hinaussah, blitzte in ihm für eine Sekunde die große Sehnsucht seiner Jugend in Paris auf: wie glückbringend, wie schön wäre es, Mönch zu sein, nur den Herrgott durch die Musik loben zu können und auf dieser großen unbarmherzigen Welt von keinem etwas empfangen, keinem etwas nehmen zu müssen …


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