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Der schauerliche Abend
So hatte der geniale Fremdling mich und noch zwölf bis fünfzehn Herren und Damen in einen tollen Strudel der Freude gerissen. Beinahe alle waren ohne Zweck in diesem Haus, und doch wagte keiner, den Gedanken an die Abreise sich auch nur entfernt vorzustellen. Im Gegenteil, wenn wir morgens lange ausgeschlafen, mittags lange getafelt, abends lange gespielt und nachts lange getrunken, geschwatzt und gelacht hatten, schien der Zauber, der uns an dies Haus band, nur eine neue Kette um den Fuß geschlungen zu haben.
Doch es sollte anders werden, vielleicht zu unserem Heil. An dem sechsten Tage unseres Freudenreiches, einem Sonntag, war unser Herr v. Natas im ganzen Gasthof nicht zu finden. Die Kellner entschuldigten ihn mit einer kleinen Reise; er werde vor Sonnenuntergang nicht kommen, aber zum Tee, zur Nachttafel unfehlbar da sein.
Wir waren schon so an den Unentbehrlichen gewöhnt, daß uns diese Nachricht ganz betreten machte, es war uns, als würden uns die Flügel zusammengebunden und man befehle uns zu fliegen.
Das Gespräch kam, wie natürlich, auf den Abwesenden und auf seine auffallende, glänzende Erscheinung. Sonderbar war es, daß es mir nicht aus dem Sinne kommen wollte, ich habe ihn, nur unter einer andern Gestalt, schon früher einmal auf meinem Lebenswege begegnet; so abgeschmackt auch der Gedanke war, so unwiderstehlich drängte er sich mir immer wieder auf. Aus früheren Jahren her erinnerte ich mich nämlich eines Mannes, der in seinem Wesen, in seinem Blick hauptsächlich, große Ähnlichkeit mit ihm hatte. Jener war ein fremder Arzt, besuchte nur hie und da meine Vaterstadt, und lebte dort immer von Anfang sehr still, hatte aber bald einen Kreis von Anbetern um sich versammelt. Die Erinnerung an jenen Menschen war mir übrigens fatal, denn man behauptete, daß, sooft er uns besucht habe, immer ein bedeutendes Unglück erfolgt sei, aber dennoch konnte ich den Gedanken nicht loswerden, Natas habe die größte Ähnlichkeit mit ihm, ja es sei eine und dieselbe Person.
Ich erzählte meinen Tischnachbarn den unablässig mich verfolgenden Gedanken und die unangenehme Vergleichung eines mir so grausenhaften Wesens, wie der Fremde in meiner Vaterstadt war, mit unserm Freunde, der so ganz meine Achtung und Liebe sich erworben hatte; aber noch unglaublicher klingt es vielleicht, wenn ich versichere, daß meine Nachbarn ganz den nämlichen Gedanken hatten; auch sie glaubten unter einer ganz andern Gestalt unsern geistreichen Gesellschafter gesehen zu haben.
»Sie könnten einem ganz bange machen«, sagte die Baronin von Thingen, die nicht weit von mir saß. »Sie wollen unsern guten Natas am Ende zum Ewigen Juden oder, Gott weiß, zu was sonst noch machen!«
Ein kleiner ältlicher Herr, Professor in T., der seit einigen Tagen sich auch an unsere Gesellschaft angeschlossen, und immer stillvergnügt, hie und da etwas weinselig, mitlebte, hatte während unserer »vergleichenden Anatomie«, wie er es nannte, still vor sich hin gelächelt und mit kunstfertiger Schnelligkeit seine ovale Dose zwischen den Fingern umgedreht, daß sie wie ein Rad anzusehen war.
»Ich kann mit meiner Bemerkung nicht mehr länger hinter dem Berge halten«, brach er endlich los, »wenn Sie erlauben, Gnädigste, so halte ich ihn nicht gerade für den Ewigen Juden, aber doch für einen ganz absonderlichen Menschen. Solange er zugegen war, wollte wohl hie und da der Gedanke in mir aufblitzen, ›Den hast du schon gesehen, wo war es doch?‹ aber wie durch Zauber krochen diese Erinnerungen zurück, wenn er mich mit dem schwarzen umherspringenden Auge erfaßte.«
»So war es mir gerade auch, mir auch, mir auch«, riefen wir alle verwundert.
»Hm! he, hm!« lachte der Professor. »Jetzt fällt es mir aber von den Augen wie Schuppen, daß es niemand ist als der, den ich schon vor zwölf Jahren in Stuttgart gesehen habe.«
»Wie, Sie haben ihn gesehen und in welchen Verhältnissen?« fragte Frau v. Thingen eifrig, und errötete bald über den allzu großen Eifer, den sie verraten hatte.
Der Professor nahm eine Prise, klopfte den Jabot aus und begann: »Es mögen nun ungefähr zwölf Jahre sein, als ich wegen eines Prozesses einige Monate in Stuttgart zubrachte. Ich wohnte in einem der ersten Gasthöfe und speiste auch dort gewöhnlich in großer Gesellschaft an der Wirtstafel. Einmal kam ich nach einigen Tagen, in welchen ich das Zimmer hatte hüten müssen, zum erstenmal wieder zu Tisch. Man sprach sehr eifrig über einen gewissen Herrn Barighi, der seit einiger Zeit die Mittagsgäste durch seinen lebhaften Witz, durch seine Gewandtheit in allen Sprachen entzücke; in seinem Lob waren alle einstimmig, nur über seinen Charakter war man nicht recht einig, denn die einen machten ihn zum Diplomaten, die andern zu einem Sprachmeister, die dritten zu einem hohen Verbannten, wieder andere zu einem Spion. Die Türe ging auf, man war still, beinahe verlegen, den Streit so laut geführt zu haben; ich merkte, daß der Besprochene sich eingefunden habe und sah –«
»Nun? ich bitte Sie! denselben, der uns« – »denselben, der uns seit einigen Tagen so trefflich unterhält. Dies wäre übrigens gerade nichts Übernatürliches, aber hören Sie weiter: zwei Tage schon hatte uns Herr Barighi, so nannte sich der Fremde, durch seine geistreiche Unterhaltung die Tafel gewürzt, als uns einmal der Wirt des Gasthofs unterbrach: ›Meine Herren‹, sagte der Höfliche, ›bereiten Sie sich auf eine köstliche Unterhaltung, die Ihnen morgen zuteil werden wird, vor; der Herr Oberjustizrat Hasentreffer zog heute aus, und zieht morgen ein.‹
Wir fragten, was dies zu bedeuten habe, und ein alter grauer Hauptmann, der schon seit vielen Jahren den obersten Platz in diesem Gasthof behauptete, teilte uns den Schwank mit: gerade dem Speisesaal gegenüber wohnt ein alter Junggeselle, einsam in einem großen öden Haus; er ist Oberjustizrat außer Dienst, lebt von einer anständigen Pension, und soll überdies ein enormes Vermögen besitzen.
Derselbe ist aber ein kompletter Narr und hat ganz eigene Gewohnheiten, wie z. B. daß er sich selbst oft große Gesellschaft gibt, wobei es immer flott hergeht. Er läßt zwölf Couverts aus dem Wirtshaus kommen, feine Weine hat er im Keller, und einer oder der andere unsrer Marqueurs hat die Ehre zu servieren. Man denkt vielleicht, er hat allerlei hungrige oder durstige Menschen bei sich? Mitnichten! alte, gelbe Stammbuchblätter, auf jedem ein großes Kreuz, liegen auf den Stühlen, dem alten Kauz ist aber so wohl, als wenn er unter den lustigsten Kameraden wäre; er spricht und lacht mit ihnen, und das Ding soll so greulich anzusehen sein, daß man immer die neuen Kellner dazu braucht, denn wer einmal bei einem solchen Souper war, geht nicht mehr in das öde Haus.
Vorgestern war wieder ein Souper, und unser neuer Franz dort schwört Himmel und Erde, ihn bringe keine Seele mehr hinüber. Den andern Tag nach dem Gastmahl kommt dann die zweite Sonderbarkeit des Oberjustizrats. Er fährt morgens früh aus der Stadt, und kehrt erst den andern Morgen zurück; nicht aber in sein Haus, das um diese Zeit fest verriegelt und verschlossen ist, sondern hierher ins Wirtshaus.
Da tut er dann ganz fremd gegen Leute, welche er das ganze Jahr täglich sieht, speist zu Mittag, und stellt sich nachher an ein Fenster, und betrachtet sein Haus gegenüber von oben bis unten.
›Wem gehört das Haus da drüben?‹ fragt er dann den Wirt.
Pflichtmäßig bückt sich dieser jedesmal und antwortet: ›Dem Herrn Oberjustizrat Hasentreffer, Ew. Exzellenz aufzuwarten‹«. – »Aber Herr Professor, wie hängt denn Ihr toller Hasentreffer mit unserem Natas zusammen?« fragte ich.
»Belieben Sie sich doch zu gedulden, Herr Doktor«, antwortete jener, »es wird Ihnen gleich wie ein Licht aufgehen. Der Hasentreffer beschaut also das Haus und erfährt, daß es dem Hasentreffer gehöre. ›Ach! derselbe, der in Tübingen zu meiner Zeit studierte?‹ fragt er dann, reißt das Fenster auf, streckt den gepuderten Kopf hinaus, und schreit ›Ha–a–asentreffer – Ha–a–asentreffer.‹
Natürlich antwortet niemand, er aber sagt dann, ›Der Alte würde es mir nie vergessen, wenn ich nicht bei ihm einkehrte‹, nimmt Hut und Stock, schließt sein eigenes Haus auf, und so geht es nach wie vor.
Wir alle«, fuhr der Professor in seiner Erzählung fort, »waren sehr erstaunt über diese sonderbare Erscheinung, und freuten uns königlich auf den morgenden Spaß. Herr Barighi aber nahm uns das Versprechen ab, ihn nicht verraten zu wollen, indem er einen köstlichen Scherz mit dem Oberjustizrat vorhabe.
Früher als gewöhnlich versammelten wir uns an der Wirtstafel und belagerten die Fenster. Eine alte baufällige Chaise wurde von zwei alten Kleppern die Straße herangeschleppt, sie hielt vor dem Wirtshaus; ›Das ist der Hasentreffer, der Hasentreffer‹, tönte es von aller Mund, und eine ganz besondere Fröhlichkeit bemächtigte sich unser, als wir das Männlein, zierlich gepudert, mit einem stahlgrauen Röcklein angetan, ein mächtiges Meerrohr in der Hand, aussteigen sahen. Ein Schwanz von wenigstens zehn Kellnern schloß sich ihm an; so gelangte er ins Speisezimmer.
Man schritt sogleich zur Tafel; ich habe selten so viel gelacht, als damals, denn mit der größten Kaltblütigkeit behauptete der Alte, geraden Weges aus Kassel zu kommen, und vor sechs Tagen in Frankfurt im ›Schwanen‹ recht gut logiert zu haben. Schon vor dem Dessert mußte Barighi verschwunden sein, denn als der Oberjustizrat aufstand, und sich auch die übrigen Gäste erwartungsvoll erhoben, war er nirgends mehr zu sehen.
Der Oberjustizrat stellte sich ans Fenster, wir alle folgten seinem Beispiele und beobachteten ihn. Das Haus gegenüber schien öde und unbewohnt; auf der Türschwelle sproßte Gras, die Jalousien waren geschlossen, zwischen einigen schienen sich Vögel eingebaut zu haben.
›Ein hübsches Haus da drüben‹, begann der Alte zu dem Wirt, der immer in der dritten Stellung hinter ihm stand. ›Wem gehört es?‹ ›Dem Oberjustizrat Hasentreffer, Eurer Exzellenz aufzuwarten.‹
›Ei, das ist wohl der nämliche, der mit mir studiert hat?‹ rief er aus; ›der würde mir es nie verzeihen, wenn ich ihm nicht meine Anwesenheit kundtäte.‹ Er riß das Fenster auf, ›Hasentreffer – Hasentreffer‹, schrie er mit heiserer Stimme hinaus – Aber wer beschreibt unseren Schrecken, als gegenüber in dem öden Haus, das wir wohl verschlossen und verriegelt wußten, ein Fensterladen langsam sich öffnete; ein Fenster tat sich auf, und heraus schaute der Oberjustizrat Hasentreffer im zitzenen Schlafrock und der weißen Mütze, unter welcher wenige graue Löckchen hervorquollen; so, gerade so pflegte er sich zu Haus zu tragen. Bis auf das kleinste Fältchen des bleichen Gesichtes, war der gegenüber der nämliche wie der, der bei uns stand. Aber Entsetzen ergriff uns, als der im Schlafrock mit derselben heiseren Stimme über die Straße herüberrief: ›Was will man, wem ruft man? he!‹
›Sind Sie der Herr Oberjustizrat Hasentreffer?‹ rief der auf unserer Seite, bleich wie der Tod, mit zitternder Stimme, indem er sich bebend am Fenster hielt.
›Der bin ich‹, kreischte jener, und nickte freundlich grinsend mit dem Kopfe; ›steht etwas zu Befehl?‹
›Ich bin er ja auch‹, rief der auf unserer Seite wehmütig, ›wie ist denn dies möglich?‹
›Sie irren sich, Wertester‹, schrie jener herüber, ›Sie sind der dreizehnte; kommen Sie nur ein wenig herüber in meine Behausung, daß ich Ihnen den Hals umdrehe; es tut nicht weh.‹
›Kellner, Stock und Hut!‹ rief der Oberjustizrat, matt bis zum Tod, und die Stimme schlich ihm in kläglichen Tönen aus der hohlen Brust herauf. ›In meinem Haus ist der Satan, und will meine Seele; – vergnügten Abend meine Herrn‹; setzte er hinzu, indem er sich mit einem freundlichen Bückling zu uns wandte, und dann den Saal verließ.
›Was war das?‹ fragten wir uns, ›sind wir alle wahnsinnig?‹ –
Der im Schlafrock schaute noch immer ganz ruhig zum Fenster hinaus, während unser gutes altes Närrchen in steifen Schritten über die Straße stieg. An der Haustüre zog er einen großen Schlüsselbund aus der Tasche, riegelte – der im Schlafrock sah ihm ganz gleichgültig zu –, riegelte die schwere, knarrende Haustüre auf, und trat ein.
Jetzt zog sich auch der andere vom Fenster zurück, man sah wie er dem unsrigen an die Zimmertüre entgegenging.
Unser Wirt, die zehn Kellner waren alle bleich von Entsetzen und zitterten: ›Meine Herren‹, sagte jener, ›Gott sei dem armen Hasentreffer gnädig, denn einer von beiden war der Leibhaftige.‹ – Wir lachten den Wirt aus, und wollten uns selbst bereden, daß es ein Scherz von Barighi sei, aber der Wirt versicherte, es habe niemand in das Haus gehen können, außer mit den überaus künstlichen Schlüsseln des Rats, Barighi sei 10 Minuten, ehe das Gräßliche geschehen, noch an der Tafel gesessen, wie hätte er denn in so kurzer Zeit die täuschende Maske anziehen können, vorausgesetzt auch, er hätte sich das fremde Haus zu öffnen gewußt. Die beiden seien aber einander so greulich ähnlich gewesen, daß er, ein zwanzigjähriger Nachbar, den echten nicht hätte unterscheiden können. ›Aber um Gottes willen, meine Herrn, hören Sie nicht das gräßliche Geschrei da drüben?‹
Wir sprangen ans Fenster, schreckliche trauervolle Stimmen tönten aus dem öden Hause herüber, einigemal war es uns, als sähen wir unsern alten Oberjustizrat, verfolgt von seinem Ebenbild im Schlafrock am Fenster vorbeijagen. Plötzlich aber war alles still.
Wir sahen einander an; der Beherzteste machte den Vorschlag, hinüberzugehen; alle stimmten überein. Man zog über die Straße, die große Hausglocke an des Alten Haus tönte dreimal, aber es wollte sich niemand hören lassen: da fing uns an zu grauen; wir schickten nach der Polizei und dem Schlosser, man brach die Türe auf, der ganze Strom der Neugierigen zog die breite, stille Treppe hinauf, alle Türen waren verschlossen; eine ging endlich auf, in einem prachtvollen Zimmer lag der Oberjustizrat im zerrissenen stahlfarbigen Röcklein, die zierliche Frisur schrecklich verzaust, tot, erwürgt auf dem Sofa.
Von Barighi hat man weder in Stuttgart, noch sonst irgendwo jemals eine Spur gesehen.«