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Das Eine

Die Nacht webt dichter und dichter
um mich der Schleier viele,
ich schaue viele Gesichter
und fühle tausend Gefühle.

Und wenn ich zurückewende
den Blick auf vertobte Stunden,
so scheint mir, daß ich am Ende
derselben kein Ende gefunden.

Der Freunde reges Gestreite,
das Pochen auf jede Meinung,
das Dringen in dämmernde Weite,
das Bäumen gegen die Einung,

des Wahnes stete Bekennung
und doch das Pochen auf Wahrheit,
das düstere Ringen nach Klarheit
und unsere ewige Trennung:

es läßt in der tätigen Seele
ein Brennen, ein Fluten, ein Sieden,
man lechzt mit durstiger Kehle
nach Frieden, nach Frieden, nach Frieden!

Die Nacht webt dichter und dichter
um mich der Schleier viele;
ich schaue viele Gesichter
und fühle tausend Gefühle.

Ihr leugnet im Menschen das Sehnen,
das heiße, das wilde, nach oben;
kein überirdisches Wähnen
hat je euch den Busen gehoben.

In unsrer Seele Gründen,
da brennt eine einsame Kerze,
ihr könnt sie allwegs finden
und fühlt ihr Flackern im Schmerze.

Sie flackert im kleinen Raume,
entfacht von Jammer und Wonne;
sie leuchtet und strahlet im Traume
hoch auf und verdunkelt die Sonne.

In unsrer Seele Tiefen,
da mahnen uns viele Stimmen,
es klingt, als ob sie uns riefen,
empor zu den Sternen zu klimmen.

Und wieder den blinkenden Sternen
entfallen geheiligte Laute,
es ist, als ob durch die Fernen
befruchtender Balsam taute.

Die Laute fallen hernieder
wohl täglich in tausend Seelen,
die Laute bauen sich Lieder
in ungezähleten Kehlen.

Und könnt ihr sie nicht verstehen,
so habt ihr verdorbene Ohren,
dann ist das Singen und Wehen
der Winde an euch verloren.

Dann ist das Rauschen der Meere
für euch ein leeres Getöne,
ihr nehmt dem Großen das Hehre
und nehmt dem Guten das Schöne.

Die Nacht webt dichter und dichter
um mich der Schleier viele,
ich schaue viele Gesichter
und fühle tausend Gefühle.

Und fühle mit eurer Seele
das Leere, das Öde, das Kleine
und trage in eigener Kehle
das Eine, das Eine, das Eine!


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