J. C. Heer
Felix Notvest
J. C. Heer

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V.

Unbekümmert um den Streit, der im Dorfe über den Plänen des Leutnants Rudolf Fürst entstanden ist, geht Felix Notvest seinen einsamen Weg. Er zeichnet und malt in der tiefen Ruhe und Kühle der Abteikirche. Er kopiert einige der schönsten alten Glasgemälde, die den hochstrebenden Bau in ein warmes Feuer setzen, und in dem dämmerigen, zauberhaften Licht, das die Sinne von der Gegenwart abwendet, lebt er in der reichen Vergangenheit der Abtei und versenkt sich immer tiefer in das Studium der Glasgemälde.

Ein gutes Stück der Landesgeschichte spiegelt sich in diesen Bilderscheiben, deren älteste bis in die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts zurückreichen, während die jüngsten aus den Jahren unmittelbar vor der Aufhebung der Abtei stammen. Sie geben das fast vollständige Entwickelungsbild einer merkwürdigen und schönen Kunst, die durch die berühmten, spätmittelalterlichen Künstler der nahen Stadt auf eine besonders hohe Stufe geführt worden ist, so daß sie von fernen Städten am Rhein und Main zur Ausschmückung der Dome berufen worden sind. Die ältesten der Gemälde, tiefblaue, sammetrote oder sonnengoldene Wappenscheiben, preisen noch die Ritterzeit, aber bald weichen sie denjenigen der Städte und Landschaften, die sich in gemeinsamem Kampfe gegen die Anmaßungen des Adels die staatliche Selbständigkeit errangen und einander nach den Freiheitskriegen und Siegen die mit Blut besiegelte Freundschaft in prangenden Wappenbilderscheiben beurkundeten, welche sie in die Hut der frommen Frauen von Reifenwerd gaben.

Sie leuchten, und über ihnen strahlt in farbensatter Pracht der Adler des Deutschen Reiches, in dem das Land damals noch seinen Schirmherrn anerkannte.

Wie muß das Gotteshaus in seiner klassischen Zeit von ergreifender Schönheit gewesen sein!

Neben der Farbenherrlichkeit der Fenster prangten damals an den Wänden die in den Freiheitsschlachten eroberten Fahnen, Helme und Panzer, und an den hohen Festtagen wallfahrtete das Volk, pries Gott für die ihm verliehenen Siege und verehrte die Heiligen, die in kunstreich geschnitzten Figuren auf den Altären standen, als seine starken Helfer.

Von dieser hohen Zeit sprechen im Gotteshaus die Glasgemälde und im Kreuzgang die Grabsteine der Ritter, während andere Werke der religiösen Kunst durch die Reformation vernichtet oder zur Zeit der Bauernunruhen in die Stadt übergeführt und bei einem großen Brand das Opfer der Flammen geworden sind.

Die Bilderscheiben aber leuchten und reden!

Aus einer je späteren Zeit sie stammen, um so mehr verschwindet das Zeremoniale, treten die Wappen mit den stilisierten Tieren, Engeln, Damen oder geharnischten Rittern zurück, desto häufiger erscheinen dem Volksleben des fünfzehnten Jahrhunderts nachgebildete Gestalten der christlichen Legende, der griechischen und römischen Göttersage, Darstellungen aus der Heldenzeit der eigenen Geschichte und das damalige Volksleben mit all seiner Daseinsfreude: der Säemann auf dem Feld, der Handwerker in der Werkstatt, der Wandergeselle auf der Straße, die Schützen beim Mahl, die Krieger in der Schlacht, die Herren im Rat, die Priester im Konvent, die Nonnen vor dem Altar. Die Gemälde der Abtei sind eine köstliche zeitgenössische Schilderung des reichen Lebens vergangener Tage, unvergleichliche Zeugen der Geschichte des Volkes.

Aus diesen Denkmälern einer hohen Vergangenheit hat Felix Notvest den Gedanken geschöpft, der jetzt in einer mit Bildern ausgestatteten Denkschrift Ausdruck gewinnt.

Niemand kümmert sich um sein stilles Zeichnen, denn wer tritt am Werktag in die Abtei? – Nur Sigunde Fürst, die sich den Anschein giebt, als sei der Kreuzgang und der Rosengarten ihr besonderer Lieblingsaufenthalt geworden, möchte ihn gern bei seiner einsamen Arbeit beschleichen, und häufig genug taucht der stolze Blondkopf zwischen den blühenden Büschen auf, doch weicht ihr der Pfarrer, wie mächtig er auch den Anreiz des schönen Frauenbildes spürt, immer aus.

Einmal aber steht sie ihm so von Angesicht zu Angesicht gegenüber, daß er nicht ohne ein Wort der Begrüßung an ihr vorübergehen kann.

»Fräulein,« wendet er sich an sie, »sind Sie die Künstlerin, die unter den Linden die Violine so zart und lieblich gespielt hat?«

»Nein, leider nicht!« lächelt sie. »Ich war nur der Störenfried der Ihnen zugedachten Huldigung, die Künstlerin ist eine andere!« Sie spricht es hochmütig neckisch und grüßt in majestätischer Kühle.

»Die Künstlerin ist eine andere!« Doch hat Felix Notvest keine Zeit, über dem Rätsel, das ihm Sigunde Fürst aufgegeben hat, zu grübeln, sein Sinnen und Denken ist von der Schrift erfüllt, in der er den vor der silberbeschlagenen Bibel des Vaters gefaßten großen Entschluß zur Ausführung bringt.

Jetzt ist die Arbeit vollendet, der Wurf gethan!

Die Schrift ist eine Eingabe an die obersten Behörden des Landes, ein flammender Protest dagegen, daß die Abtei Reifenwerd, die Ruhmes- und Siegeshalle der Vorfahren, verkauft und zu einer Fabrik entweiht werde, und das mit gründlichen Belegen versehene Werk enthält den Vorschlag, das geschichtlich wertvolle Kloster in seinem jetzigen Zustand zu erhalten, in seinen Räumen die in Stadt und Land zerstreuten beweglichen Kunstaltertümer und Geschichtsdenkmäler zu sammeln und aufzustellen. Die Abtei soll zu einem bescheidenen geschichtlichen Museum und durch die Würde der Stätte zu einem Delphi gestaltet werden, zu dem das Volk an den Ehrentagen des Landes wallfahrte und in dem es die Gedanken aus den kleinen Kämpfen der Gegenwart zu den Leitsternen seiner Geschichte erhebe.

In der Vollendungsfreude ist ihm, er sei seiner Vorfahren, des Gerbermeisters Denzeler und der Nonne Ursula Demut, würdig, und mit dem Hoffnungsmut der Jugend vertraut er auf den Sieg seines vaterländischen Gedankens über die Nützlichkeitspläne seines Nachbars Rudolf Fürst.


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