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Schon hat sich über David Fürst das Grab geschlossen. Der Große Rat hat die Verkaufs- und Abtretungsverträge Rudolf Fürsts mit der Regierung und der Gemeinde Reifenwerd endgültig gutgeheißen und ist mit einigem Kopfschütteln über die Eingabe Felix Notvests, den merkwürdigen Vorschlag zur Erhaltung der Abtei, hinweggeschritten.
»Was für ein seltsamer, junger Kauz!« spricht man in Stadt und Land.
Gedankenvoll geht der junge Pfarrer eben vom alten Thor der Abtei gegen die Mühle.
An einem zur Abfahrt gerüsteten Fuhrwerk vorbei, auf dem Fabrikkisten hoch geschichtet sind, tritt er in das alte Steinhaus, eilt die ausgelaufene Steintreppe empor, und Sigunde, die sich vor ihm schelmisch hinter die Thüre versteckt hat, bietet ihm mit durstigen, aufleuchtenden Augen und mit zärtlicher Bewegung den schwellenden Mund zum Kuß.
Sie trägt Trauergewänder, ihr blondes Haar aber erflimmert in der Sonne, die durch die blumenumrankten Fenster bricht, sie ist frisch und duftig wie eine Frühlingsblume und erscheint ihm in der Schönheit ihrer Jugend noch viel liebens- und begehrenswerter, seit der Tod ihres Vaters, wie er meint, klärend und läuternd über ihr oft geheimnisreiches, sprunghaftes Wesen gegangen ist.
»Du, Felix,« flüstert sie neckisch, »wie heißt denn das Lateinische im Anfang des Aufsatzes, der im ›Volksboten‹ über dich steht?«
Wie er sie mit seinen braunen, lebhaften Augen überrascht anblickt, reicht sie ihm neugierig das Blatt vom Tisch.
Während des Lesens strömt ihm die Röte ins Gesicht, Scham oder Zorn oder beides zusammen.
»Difficile risum tenere!« beginnt der Leitartikel der in der Stadt erscheinenden, vielgelesenen Zeitung. »Wir sagen das mit Hinblick auf die Eingabe des Herrn Pfarrers Felix Notvest, welche in ihrer Absonderlichkeit wohl überhaupt nur aus Rücksicht für den ehrwürdigen Vater des Antragstellers, den hochgeschätzten Vorsteher unserer Landeskirche, in den Räten zur Behandlung kam. Auch nur dieser Name war es, der den voreiligen jungen Mann vor den Geißeln des Spottes schützte, die seine mittelalterliche Marotte reichlich verdient hat. Über den Unwert der Eingabe ist kein Wort zu verlieren, ihr Grundgedanke ist zu barock, als daß ihr ein vaterländisches Mäntelchen etwas nützte. Unser Volk ist in seiner Rührigkeit zu gesund, als daß es irgend welches Bedürfnis spürte, sich in die verblichenen Ruhmesfahnen alter Jahrhunderte zu hüllen. Der Staat als Sammler alten Glases, alter Grabsteine, alten Blechs und alten Beins! Nein, Herr Pfarrer! Statt daß Sie sich einer halbverzückten, rückblickenden Betrachtung der Dinge, die hinter uns liegen, ergeben, treten Sie hervor aus Ihrer Klause und stellen Sie sich mit uns an den Webstuhl der Zeit!«
Verächtlich schleudert Felix Notvest das Blatt weg.
»Niemals, Herr Viktor Heueler. – Lieber einsam unterliegen, als mit Ihnen auf der Bank der Spötter sitzen!« grollt der Pfarrer, und an der schön gewölbten Stirne pulst die Zornader heftig. »Sigunde, ich bin doch im Tiefsten meiner Seele sicher, daß die Zeit kommt, wo man fragt: ›Was war das für eine Regierung, welche die Heiligtümer des Volkes so leichthin vernichtet hat?‹ Nein, nein, ungestraft entblößt sich kein Land von den Zeugen seiner Geschichte.«
»Wer ist aber denn Viktor Heueler?« fragt Sigunde neugierig.
»Ein verunglückter Kandidat der Theologie, den ich deswegen so gut kenne, weil er bei meinen Eltern häufig Freitisch genossen hat. Begabt, doch händelsüchtig, kam er schon als Student in Prozesse, wurde von der Universität weggewiesen, schloß dann eine vorzeitige unglückliche Ehe, kam mit politischen Plänen auf keinen grünen Ast und ist jetzt der Redakteur des ›Volksboten‹. Wenn dir in der Stadt eine hagere, schlottrige Gestalt mit verbissenem Gesicht, schmalem, langem, rotem Bart begegnet, und der Mann drückt sich, eine schwarze Mappe unter dem Arm, scheu wie das böse Gewissen um eine Ecke, dann ist das Viktor Heueler, der aus seinem Leben nichts Rechtes gestalten kann und deshalb sein zersetzendes Gift auf alles spritzt, was es Gutes und Schönes in der Welt giebt.«
Wegwerfend erzählt Felix Notvest von dem Manne.
»Und was heißt das Lateinische zu Anfang seines Artikels?« wiederholt Sigunde die Frage.
»Es sei schwer, über mich nicht zu lachen,« versetzt der junge Pfarrer, indem er sich mit der Hand verdrossen durch die Locken fährt.
Sigunde überlegt einen Augenblick, dann sagt sie fröhlich und schelmisch: »Du, Felix, das habe ich ja auch schon gedacht. Ich wußte gleich, nachdem ich dir das Wort gegeben hatte, daß du mit der Eingabe nur ein Luftschloß baust!«
Er staunt sie wortlos an.
»Sigunde!« schreit er dann, »das sagst du.«
»Wer anders als du,« lächelt sie begütigend, »wird auch das alte Zeug ernst nehmen! Aber dein Eifer gefiel mir so gut, ich sah ihn gerne, ich hab' mich aus Freude darüber mit dir verlobt – ich liebe deine feurige Art und Weise. – Felix, sei gut!«
Schmeichelnd lehnt sie das schöne Haupt an seine Schulter, aber ihr Scherzton verfängt nicht. Bebend vor Zorn wendet er sich von ihr zum Fenster.
Da fällt mitten im schmerzlichen Wogen der tiefverletzten Seele sein Blick zufällig auf das Warenfuhrwerk, das zur Abfahrt bereit vor der Mühle hält. Neben dem Wagen steht in seiner Arbeitsbluse Karl Wehrli, der Werkführer, und in Sorgen tief gebückt Christlis Mutter, die Frau Schullehrerin; das Kind selber aber kauert, ein Kleiderbündel neben sich, auf der Ladung des Fuhrwerks. Teilnahmlos läßt Christli das mit einem geringen Sommerhut bedeckte Köpfchen in hilfloser Traurigkeit hängen und scheint kaum auf die Wünsche und Zusprüche der Seinen zu horchen. Nichts von der jauchzenden Lieblichkeit der Maililie ist mehr an der zarten Gestalt, und wie sie doch einmal zerstreut die dunklen Augen zu den Fenstern hebt, wendet und verhüllt sie das schmale Gesichtchen mit einer so jähen, schreckhaften Gebärde, daß es Felix Notvest einen Stich durch die Brust giebt.
»Ach, die kleine Geigenspielerin!« lacht Sigunde, die ebenfalls ans Fenster tritt, »jetzt fährt sie ins Oberland, um das Ansetzen der Fäden zu lernen!«
Da wendet sich Felix Notvest ernst und traurig, doch ohne Zorn, an seine Braut.
»Sigunde,« spricht er ruhig, »ich will die schwere Beleidigung, die du mir zugefügt hast, vergessen, wenn du keinen Widerspruch dagegen erhebst, daß ich eine Angelegenheit, die mich im Gewissen quält, wieder gut mache. Ich möchte das dunkle Los Christlis, das zum Tode betrübt ist, in ein Helles verwandeln und das feinfühlige Kind meinen Eltern zuführen, die, wie du weißt, gern ein liebliches Mädchen in ihr Haus aufnehmen würden.«
»Deinen Götzen, die kleine Geigenspielerin, welche dir Ständchen bringt?«
Sigunde spricht es lächelnd, aber wie es keine Erwiderung findet, erlischt das Lächeln, aus den grauen, ins Grünliche spielenden Augen zuckt ein Strahl wilder Leidenschaft, ein kaltes, grausames Feuer, und in einem Ton, der Felix Notvest überrieselt, fährt sie fort: »Das Kind kommt niemals in das Haus deiner Eltern, es sei denn, du wolltest mit mir brechen!«
»So hart bist du, Sigunde?« stammelt er fassungslos, während sich im Hof der Wagen knarrend und rollend in Bewegung setzt.
»Ich hasse sie!« antwortet Sigunde scharf und finster auf feine stumme Frage, »warum, das weiß ich selbst nicht – wohl, weil sie dich liebt!«
»Sigunde! Ich kann nicht mit dir sprechen – wir kämen zu weit.«
Er geht und sucht in der Abtei Beruhigung. Aber ihm ist es, als dufteten die Blumen des Rosengartens nicht mehr wie vor einigen Tagen. In seinem Liebesrausche ist ihm Sigunde fast als Heilige erschienen, wenigstens als die verständnisvolle, in allen Gedanken mitschwingende Freundin seiner Seele, als das herrliche Weib, das den Geliebten mit anfeuerndem Wort zu den höchsten Zielen führt, und als die barmherzige Samariterin bereit, die Wunden, die ihm die Welt schlägt, zu verbinden. Und nun ist sie bloß eine Schauspielerin und er ihr Spielzeug! O, wie weh diese Erkenntnis thut, wie bitter weh! Wozu das arme Christli hassen?
Er ist so erzürnt gegen Sigunde, daß er sie eine Weile nicht aufsucht.
Mit einer Teilnahme, über die er selber erstaunt ist, verfolgt er in seinem Brüten den bereits in Angriff genommenen Abbruch und Umbau des Klosters. Hunderte von Werkleuten sind einige Tage nach der Beerdigung des Großrates Fürst in Reifenwerd eingerückt, sie legen durch die Reif oberhalb der Abtei ein starkes Wehr von Quadersteinen, das die Wasser des Flusses schwellt, sie wühlen das Bett eines Kanales, im Rosengarten werden die tiefen Gruben für die Turbinen gegraben, aber auch drüben beim Dorf ist hastendes Leben; auf dem Burghügel von Reifenloh, wo man die Brücke und die Abtei zu Füßen hat, läßt Rudolf Fürst in die malerischen Ruinen des ehemaligen Schlößchens hinein eine Villa für sich und seine zukünftige Gemahlin bauen, und am Rand des Weinberges wachst bald das Fundament der neuen Kirche aus dem Boden.
In der alten gotischen Abteikirche aber hütet der fremde Krämer Joseph Lombardi mit quecksilberner Unruhe seinen Schatz von Glasgemälden. Innige Freude über die Erwerbung steht in dem gelbledernen Gesicht des Männchens, das kaum recht lesen und schreiben kann und, nachdem es vor Jahren mittellos ins deutsche Land gekommen ist, mit seinem zusammengerackerten Vermögen Kunstaltertümer kauft und in Rheinsee, gleich jenseits der Grenze, von einem hinkenden Sohn und einer einäugigen Tochter bewachen läßt.
Der Pfarrer verplaudert mit ihm manche Stunde, er mag den Kauz leiden; wie er ihn aber wieder einmal erwartet, tritt nicht der Italiener, sondern Sigunde in die Thüre, und von der Flut farbigen Lichtes umspielt, kommt sie ihm, schön wie ein Märchen, entgegen, streckt ihm die von blauen Adern durchzogene Hand entgegen, die strahlenden Augen und der frische Mund heischen Versöhnung, liebkosend drängt sie sich an ihn, mit der gleichen Gewalt wie im Rosengarten empfindet er den Zauber der schmiegsamen Gestalt.
Ein Blick, ein langer, tiefer Kuß und der erste Streit der Liebenden ist vergessen.
Nach wenigen Tagen aber ist Sigunde schon wieder der alte Uebermut.
»Felix,« schmeichelt sie, »ich habe einen Einfall, der mir einmal während deiner Predigt kam, einen Wunsch! Gieb mir einen Kuß auf deiner Kanzel, damit ich am Sonntag unter den vielen steifen Leuten etwas Fröhliches zu denken habe.«
In hohem Ernste erwidert er: »Erfüllte ich dein Verlangen, Sigunde, so würde ich jenes Los verdienen, das die ungetreuen Nonnen traf. Sie wurden lebendig ins Grab gemauert. Ich bin mit meinem Gewissen für die Weihe der Kanzel verantwortlich, auf der ich stehe und predige!«
Da ist sie schon wieder gekränkt, plötzlich zuckt aus ihren Augen der Strahl wilder Leidenschaft, das kalte, grausame Feuer, das Felix Notvest mit einer Art Grauen erfüllt.
»Ich möchte dich einmal für den verweigerten Kuß dürsten lassen, wie Agnes von Ungarn den Ritter auf dem Rad!« lacht sie.
Er ärgert sich über ihren tollen Wunsch, über ihre rohe Antwort und auch darüber, daß sie ihr Denken und Thun so häufig mit der Gestalt der Königin Agnes verbindet, als wäre eine Wesensgemeinschaft zwischen ihr und dem gierigen, unersättlichen Weibe, das als eines der grausamsten im Gedächtnis der Geschichte lebt.
Es ist etwas Fremdes zwischen ihnen, und vielleicht ist es ein Glück für beide, daß die Ankunft Kitty Bells die zerstreuende Wirkung übt, welche das Erscheinen einer neuen Gestalt im gewohnten Kreise immer erzeugt.
Oft wandelt Felix Notvest einsam, und er fühlt es wohl, wie ihm die Dörfler von Reifenwerd ausweichen, wie er ihnen durch die Verlobung mit Sigunde und die ihnen unverständliche Eingabe an die Regierung noch fremder geworden ist. Er sehnt sich nach der Zeit, wo er Privatdozent sein wird.
»Nütze die Stunden, wo sie ihr besseres Selbst sucht, recht gut aus!« Die Worte des Heimgegangenen Großrates David Fürst umklingen ihn, aber er kann sich nicht helfen, Sigunde gleicht in seinen Gedanken dem Schmetterling, welcher den Farbenstaub verloren hat, und dafür gewinnen die goldenen Töne, die an jenem lauen Abende unter den Linden hervorgequollen sind, die heimliche, keusche Huldigung eines Kindes, der seltsame Dank für ein flüchtiges Wort der Güte, in seinem Innenleben plötzlich Bedeutung.
»Christli liebt dich!« Sigunde sagte es. Wie Sigunde aber dein Vertrauen enttäuschte, so hast du in einer Anwandlung unmännlicher Feigheit dasjenige des Kindes enttäuscht, und in seiner Brust ist es jetzt öde wie in der deinen! Der Kunstdrang des herben Mädchens, das im Oberland spinnen lernen soll, erscheint ihm wie etwas Heiliges, und der Wunsch, daß Christli das schöne, doch überstille Haus der Eltern mit holdem Klang erfülle, wird immer lebendiger in ihm.
Während er so träumt und in einen Feldweg schlendert, begegnet ihm Lony, die prächtige, starkgebaute Tochter des Kommandanten, die einen Korb Sommerfrüchte am braunen Arme trägt.
Er wünscht ihr guten Feierabend.
»Noch nicht Feierabend!« erwidert sie frohmütig, »in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag giebt es im Dorf stets ein besonderes Arbeitsstück. Da besorgen die Bursche und Mädchen in Feld und Reben die dringenden Arbeiten für jene Leute, die alt oder krank sind. Heute nacht thun wir es für den Schleifer Keller, dem ein Schleifstein, der zersprungen ist, die Rippen eingeschlagen hat.«
»Ein schöner Brauch!« erwidert Felix Notvest. »Mir ist, ein solches Nachtwerk sei so gut wie ein Gottesdienst!«
»Ja, wenn wir die schönen Bräuche nur behalten können,« erwidert das Mädchen mit vollem Blick der großen blauen Augen, »aber es ändert sich so vieles, und es liegt wie Streit und Leid in der Luft.«
Damit geht Lony, ernst grüßend, und gedankenvoll sieht der Pfarrer der Dahinschreitenden nach.
»Sie spürt es also auch,« murmelt er.