J. C. Heer
Felix Notvest
J. C. Heer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXXIV.

Es blüht der Mai! Banner und Wimpel flattern über der ersten großen Ausstellung des Landes. Sie steht erhaben und malerisch nahe bei der Villa Venedig in einem Lusthaine am Ufer des Sees. Blaue Fluten schwellen heran, duftsatte Winde und weiße Segel streichen über den See, und aus der Ferne schauen die hohen Berge wie Gestalten aus der Heldenzeit des Volkes in sonnigem Ernste auf die festlichen Türme und Zinnen, unter denen der Schaffensreichtum des Landes weit hingebreitet ruht.

Sonntagsstimmung erfüllt das Volk, frei, weit und tief atmet seine Seele bei dem erfreulichen Bilde, und selbst in den Söhnen des Landes, die fern von der Heimat unter Fremden das Brot suchen, regt es sich, wie zur Zeit der Rebenblüte der Wein im Faß. Sie müssen zum Besuche der Ausstellung heimwärts ziehen.

Da findet in hoher vaterländischer Stimmung auch einer den Heimweg, der es im Drang seines Berufes, in einer an Arbeit, Erfolgen und Ehren reichen Laufbahn kaum wahrgenommen hat, wie viele Jahre gekommen und gegangen sind, seit er mit seiner jungen, vom Elternhaus verstoßenen Braut lebensmutig in die Welt gegangen ist.

Direktor Karl Wehrli ist da!

Er ist ein Mann in der Vollkraft der Jahre, um sein Gesicht rahmt sich ein glänzend schwarzer, großer Bart, in den Augen blitzt noch das Frische, Freie, Mutige, das schon den Werkführer ausgezeichnet hat. Mit herzinnig gesundem Lachen erzählt er: »Mutter, endlich los aus Lyon, ganz los, aber Schmerzen hat es gekostet!« Und er blickt ernst. »Besonders auf dem Kirchhof! Wie seltsam steht unter den vielen französischen Mälern Lonys Stein mit der deutschen Inschrift: ›Wem Gott ein treues Lieb beschert, der soll von ihm nit lassen.‹ Nun, es war ihr heiligster Wunsch, daß ich in die Heimat ziehe. Und ich bin da, Mutter, ich bin da!« lacht er wieder herzinnig und küßt die Stirne der alten Frau.

In dem alten Patrizierhaus am Strom, in dem Felix Notvest mit den Seinen bescheiden wohnt, ist großes Fest. Die alte gebückte Frau Wehrli hört die Engel im Himmel singen. Sie hält ein halbwüchsiges Mädchen im Arm und stammelt: »Wenn das nicht die bare Lony ist!« Und ein Knabe, der schon ein Jüngling werden will, hängt am Hals Christus, welche, den Stürmer von sich drängend, wehrt:

»Nicht so wild, Hans Ulrich!«

Die beiden Schwäger Felix Notvest und Karl Wehrli sind die herzlichsten Freunde, die man sich denken kann. Manchmal hangen die Augen Karls sinnend an dem zermarterten Gesicht, an den weißen Locken Felix Notvests. »Von seinem Edelmut hat er also nichts davongetragen als Wunden und Narben und das gebrochene Herz,« flüstert er Christli zu.

Ein ehrlicher Zorn gegen die Härte seines Volkes will in Karl Wehrli überwallen.

Da sänftigt ihn Felix Notvest selbst.

Mit einer Glut, in der unendliche Bewunderung, nie wankender Glaube liegt, umhalst Christli ihren Gatten, und eine Liebe waltet zwischen den beiden, als wollten sie das versäumte Glück schmerzvoller Trennungsjahre in Stunden und Tagen einholen.

Karl spürt es: In der Liebe Christlis ist Felix Notvest doch ein gesegneter Mann. Er muß sich von dem rührenden Bild der Treue wenden und wehmutsvoll seiner Lony gedenken.

Wenn sie diese freudige Heimkehr hätte miterleben dürfen!

In warmer Eintracht wandeln der Kunstfreund und der Techniker, der Mann, der liebevoll an der Vergangenheit des Volkes hängt, und derjenige, der hoffnungsreich seine Zukunft fördern möchte, durch die mannigfaltigen, schönen und erquicklichen Bilder der ersten großen Landesausstellung. Im Grunde seines Herzens ist Karl Wehrli der nämliche für die Wohlfahrt des Landes schwärmende Volksmann wie Felix Notvest.

Stets kommt er mit leuchtenden Augen von seinen Gängen zurück. »Christli, es ist im Vaterland groß vorwärts gegangen, es ist eine Freude, zu leben; da bekommt man selber Lust, bald wieder etwas Großes anzugreifen! Ich stand heute wieder vor dem prächtigen Maschinensortiment des Obersten Fürst, des Maschinenkönigs! Christli, wie das in Armen und Händen juckte!«

Der kraftvolle Mann macht eine Bewegung, wie wenn er gleich an die Arbeit treten möchte.

»Seht den Bruder, der sich hat ausruhen und die Natur genießen wollen!« scherzt Christli.

»Es ist eine Freude, zu leben!« lacht Karl.

Gleich in den ersten Tagen treibt es ihn auch nach Reifenwerd. Da will er sich in seinen Jugenderinnerungen ergehen und seinem Geschäftsfreund, dem Obersten Fürst, guten Tag sagen.

»Und dem alten Stockar, daß er seine Gußtanse für immer abstelle, nicht wahr, Karl!« lächelt Frau Wehrli.

»Du wirst mit mir zufrieden sein, Mutter,« erwidert er frohgelaunt.

Eine kurze Fahrt, er tritt aus dem Bahnhof von Reifenwerd. Da beklemmt es ihm schon die Brust. Wo die Fruchtzelgen der Bauern im Morgenwinde wallten, erheben sich von Spekulanten hergebaute schreiend neue Miethäuser, sie verdecken den ehemals so hübschen Umriß des Dorfes, und die Läden und die Wirtschaften in den Erdgeschossen erinnern ihn an Vorstadtstraßen. Jetzt aber hat er das alte Reifenwerd erreicht, das sich so behaglich an die Landstraße baut. Die drei Brunnen plaudern wie ehemals das Dorf entlang. Er denkt an Lony. Schmerzvoll wogt es in seiner Brust, und beim Anblick des ehemaligen Kommandantenhauses wird ihm nicht wohler. Die Fenster sind halb erblindet, wo die weißen Vorhänge durch das grüne Spalier leuchteten, hängt altes Zeug, mit unbestimmten, abgestorbenen Farben, der Garten ist verwildert. Überall der gleiche Anblick. Der ehemalige, altväterisch stattliche Gasthof zum Hirschen verrät es von ferne, daß er gesunken ist, und nur wenige jener goldenen Dungstöcke, die einst der Stolz der Landleute von Reifenwerd gewesen sind, geben Kunde, daß da noch Bauern wohnen. Der ehrenfesteste steht vor dem Hause des verstorbenen Säckelmeisters.

Direktor Wehrli fragt einen vorübergehenden Buben: »Wohnt hier der Großrat Stamm?«

Da tritt der Bauer, der die Frage gehört hat, selbst aus der Futtertenne und grüßt den vornehmen Fremden, der doch die heimische Sprache spricht, mit lebhafter Ueberraschung. »Endlich ein bekanntes Gesicht,« grüßt Karl Wehrli treuherzig, »wie geht es, Hilfgott?« Einen Augenblick starrt ihn der Bauer an und sucht in seinem Gedächtnis.

»Du bist es, Karl!« ruft er erfreut, »herzlich willkommen in der Heimat. Heute mache ich Sonntag!«

Die beiden Jugendfreunde schütteln sich die Hände.

»Eine Stunde, Hilfgott,« erwidert Karl Wehrli, »ich habe mich auf elf Uhr zur Begrüßung beim Obersten angemeldet.«

In dem alten, schönen Bauernhaus des Großrates sitzen die beiden Männer und plaudern von vergangener und jetziger Zeit. Indem sie die Gläser voll Rotwein aneinanderstoßen, spricht der Bauer: »Wer weiß, wie lange man noch den Reifenwerder trinkt, den unsere Väter so hoch gehalten haben. Schau empor zu unserem Rebberg! Man hat mitten durch das Gelände eine leicht steigende Straße gebaut.«

– »Und wer sitzt in den niedlichen Backsteinhäusern, die daran stehen?« fragt Karl Wehrli.–

»Schreiber und Angestellte des Obersten, die Töchter unserer Bauern geheiratet haben, als diese noch Vermögen besaßen. Es ist gut, daß der Weinberg wenigstens als Bauquartier etwas wert ist. Die Alten, die sich auf das Rebwerk verstanden, sterben langsam weg, und die Jungen lernen es nicht. Für diese Arbeit hält sich eine Schreibersfrau viel zu vornehm, aber so wohl ist ihnen unter ihren Sonnenschirmen gewiß nicht, wie den ehemaligen sommerverbrannten Bäuerinnen.«

Gedankenvoll hört Karl Wehrli zu. »In Lyon haben Lony und ich stets im alten Reifenwerd gelebt, wir dachten gar nicht an die Veränderungen; du weißt, in dem Reifenwerd mit dem Tätschschießen, mit dem Volksliedergesang der braunen Mädchen, wie oft haben wir zusammen gesprochen: ›Nur noch einmal auf dem Kiesbett der Reif Erdäpfel in den Agelnfeuern braten!‹«

»Agelnfeuer,« lacht Gotthilf Stamm, »ich kam letzthin bei einem Schulbesuch drauf. Ich brachte Hanf und Flachs mit in die Schule. ›Wer kennt das?‹ Ein paar wenige! ›Was bleibt, wenn man sie bricht?‹ Früher hätte die ganze Schule gerufen: ›Ageln,‹ jetzt blieb alles still. In Reifenwerd baut kein Mensch mehr Lein. Du sprichst vom Tätschschießen. Kein Junge weiß mehr, was ein Tätsch ist. Vom Volksliedergesang der braunen Mädchen! Es giebt keine braunen Mädchen mehr, aber einen Gesangverein, doch kann er seine künstlichen Lieder nur singen, wenn der Leiter mit dem Taktstock vor ihm steht, ein echtes, rechtes Volkslied hörst du durch unsere ganze Gemarkung nicht mehr. Weiß der Teufel, was in unserer Jugend steckt, sie hat sogar das Lichterschwemmen am Sankt Fridolinstag vergessen und zu Sankt Nikolaus läuft dir kein Bube mehr mit Feuermütze und Schellenring umher. Dafür an der Fastnacht geringe Masken genug. Ja, ja, Karl, der Kommandant hat gut gesprochen, als er im Hirschen polterte. Wie Zunder ist den Bauern vor der Baumwolle der Lein vom Leibe gefallen, zugleich dem Dorf die alten Bräuche, es lümpelt ein wenig, wo du hinsiehst, und wenn du von einer scheinbar ehrenfesten Schüssel den Deckel hebst, so schwimmt darin die Armensuppe. Und die alten Reifenwerder trägt man im Fötzelhemd zur Grube.«

»Ich muß jetzt gehen, Hilfgott,« entschuldigt sich Direktor Wehrli etwas beklommen, »es ist bald elf!«

Großrat Stamm giebt ihm das Geleite bis zur Brücke.

»O Hilfgott,« versetzt Karl Wehrli peinvoll, »wie schwer wird es mir, meinem Schwiegervater, dem armen alten Stockar, gegenüber zu treten, diesen unglücklichen Reifenwerdern allen. Ich möchte nicht der Oberst sein, ich hätte das Herz nicht, die Leute in meinem Geschäft zu sehen. Wie stellt er sich denn zu ihnen?«

Hilfgott Stamm zuckt die Schultern. »Fünf, sechs Tage in der Woche,« erwidert er, »ist der Oberst der Fabrikherr, wie er sein soll, der Donnerstag aber ist seine böse Ecke. Er reitet morgens zur Börse, bei dem reichlichen Mittagessen wird der Champagner ausgewürfelt, gegen fünf kommt er zurückgeritten, und den Wein leicht im Kopf, macht er noch einen Gang durch die Werkstätten. Dann wendet er sich wohl manchmal an die Grauköpfe, die den Guß tragen. ›Ihr alten Herrn von Reifenwerd, wie geht's?‹ scherzt und höhnt er. ›Hirschenwirt, nicht wahr, das war eine andere Zeit, als wo Ihr das Kartenspiel umlegtet?‹«

»Der Hirschenwirt ist auch unter den Tansenträgern?« fragt Karl Wehrli erstaunt. »Ich glaubte, er sei Winkelwirt in der Stadt.«

»Die Berechtigung ist ihm entzogen worden– vor einem Jahr kam er und bat um Arbeit, er hat gerade das erste Dutzend alter Reifenwerder Konkursiten in der Fabrik voll gemacht.«

»Es soll an einem Wink, was sich gegen alte unglückliche Leute schickt, nicht fehlen,« versetzt Karl Wehrli, und am Eingang der Brücke scheiden die beiden Freunde.

Direktor Wehrli wird im Hause des Obersten als großer Gast empfangen, selbst Frau Kitty Fürst, die steife Engländerin, bemüht sich redlich, gegenüber dem erfolgreichen technischen Erfinder aus der beklemmenden Zurückhaltung, mit der sie sonst die Geschäftsfreunde ihres Gatten empfängt, herauszutreten, doch will Karl Wehrli das vornehme Schlößchen mit seiner kostbaren Ausstattung als ein anfröstelnd kaltes Haus erscheinen. Kein liebliches Kind trippelt mit fröhlicher Stimme durch die Gemächer und die Dienstboten gehen furchtsam und freudlos zu und ab.

Oberst Fürst! Sein angegrautes Haar hat sich so gelichtet, daß er, um die Glatze notdürftig zu verbergen, ein paar Seitensträhnen darüber ziehen muß, in seinem harten, doch bedeutenden Gesicht zuckt ein Muskel dann und wann von selbst. Er raucht die schwersten Zigarren, die es geben kann, gießt sich scharfe Wasser in den Kaffee, trinkt lebhaft französischen Rotwein, doch sichtlich ohne Genuß. »Ich muß etwas haben, was mir die Nerven zusammenhält!« entschuldigt er sich gegen Direktor Wehrli, der nur langsam raucht und trinkt. Allein die Sorgfalt seines Äußeren, eine gewisse militärische Straffheit der Haltung, die Schnelligkeit und Treffsicherheit, mit der er spricht, das Auge, das klar und lebhaft blitzt, eine gewisse Schärfe seines ganzen Wesens verleihen dem Obersten den Anschein der Kraft und Frische.

Die beiden Industriellen besprechen weitgehende Pläne, eine warme Hochachtung verbindet den Fabrikherrn und seinen früheren Angestellten.

»Ich werde mir die Wasserkraft in den Bergen einmal ansehen!« versetzt Direktor Wehrli.

»Und meine Erfahrungen stehen Ihnen zur Verfügung,« erwidert Rudolf Fürst. Damit ist die Tafel aufgehoben.

Ein Gang durch die weitläufigen Werkstätten der ehemaligen Abtei. In der Kirche, die zu einer Schlosserei und Dreherei umgewandelt ist, treffen die Geschäftsfreunde einige der alten Reifenwerder, die das Arbeitsmaterial von Werkbank zu Werkbank tragen. O, Karl Wehrli kennt sie schon, die geschwärzten, halbverblödeten Leute, die einen stierenden Blick auf den Fremdling werfen und weiter schlurfen.

Was waren das einst für stolze Bauern.

»Gott, der Vater Lonys!« Das hagere Zerrbild des Kommandanten, eine greise Gestalt mit unwirschem Stoppelbart und zerbissenen Lippen glotzt ihn an. Und es ist doch noch der Kommandant!

»Vater,« geht Karl Wehrli auf ihn zu, »stellt Eure Tanse nieder. Macht für immer Feierabend!« Er ist überwältigt vom Schmerz der Erinnerungen.

»Habt Ihr mir zu befehlen, ich habe geglaubt, der Herr Oberst da!« Ein böses, mißtrauisches Feuer sprüht unter den buschigen Brauen des alten Stockar hervor. »Was wollt Ihr von mir?«

»So kennt mich doch, Vater. Ich bin Karl Wehrli!«

Der Direktor will dem alten Handlanger die Tanse von der Schulter heben.

Da brennt der alte Stockar auf: »Karl Wehrli!– Anschicksmann, Spion! Ihr seid der Schuft, der nur meine Lony entführt hat– meine Lony.– Geht, geht, oder– –«

Wütend ergreift er ein Eisenstück.

»Herr Direktor, kommen Sie!« mahnt der Oberst, »er ist ein böswilliger Narr!«

Lange noch grollt der vom Unglück zerschmetterte, nur halb zurechnungsfähige Kommandant dem Direktor in Schimpfworten nach.

Früh am Abend, in weher Verstimmung, kehrt Karl Wehrli zu den Seinen zurück.

»Und nicht einmal nach den Kindern seiner Lony hat der alte Stockar Verlangen gezeigt?« seufzt Frau Wehrli kummervoll.

Sie hat geträumt, goldene Abendsonne würde für den Ärmsten unter den Reifenwerdern aus den Wolken brechen.

»So weit kamen wir in der Unterredung nicht!« erwidert Karl gedrückt.

»Was hältst du eigentlich vom Obersten Fürst?« fragt Felix Notvest.

»Ein technisches Genie und eine Ruine. Schade um Fürst! Was ist aber Reifenwerd unter ihm für ein freudloses Nest geworden. Das Liebe und Trauliche ist dahin und das Neue ist unerquicklich. Ich mag es nicht wiedersehen, es hat mich so aus meinem Glück gerissen, daß ich wohl nach Lyon zurückkehre, um einmal auf der Stätte meiner schönsten Wirksamkeit und größten Erfolge Feierabend zu halten.«

So enttäuscht ist er von seinem Besuch in Reifenwerd.

»Nein, Karl,« bittet Christli, »schenke den Kindern die Heimat!«

Und seine gesunde Natur siegt. Wie er einmal von der Ausstellung kommt, lacht er doch wieder: »Es ist eine Freude zu leben!– Ich muß in der Heimat bleiben– und die Wasserkraft in den Bergen bringe ich auch nicht aus dem Sinn.«


 << zurück weiter >>