J. C. Heer
Felix Notvest
J. C. Heer

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XI.

Eine leistraurige Stimmung lagert sich über dem Dorf Reifenwerd. Der Auszug des Liebespaares hat eine stille Bestürzung hervorgerufen, manchen Bewohnern ist es, als ob mit dem lebensmutigen Karl Wehrli, mit der treuen Lony Stockar ein Teil des guten Geistes, welcher bis dahin die Gemeinde beseelt hat, geschieden sei. »Das kommt von der Fabrik!« sagen die Leute, wie aber der erste Zornausbruch, der erste Groll über die Härte des Kommandanten verwunden ist, da spüren gerade die ehrenfestesten der Bauern, daß eine Stimme in ihrem Innersten doch seine Handlungsweise entschuldigt und verteidigt.

Welcher von ihnen würde sein Kind gern an einen Mann hingeben, der von Gottes großer Erde kein Sandkorn sein eigen nennt? Ein strebsamer Mann wie Karl Wehrli ist an sich gewiß aller Achtung wert, aber er lebt von der Hand in den Mund, eine Laune seines Herrn, und er ist brotlos, er flattert wie der Vogel von Zweig zu Zweig, er hat kein Nest und weiß nicht, auf welchen Ast er sich am anderen Morgen setzt. Was besitzt er anders als seine hellen Augen und seine geschickten Hände. Wie bald aber können sich Augen schließen, Hände ermatten und kalt werden! Das arme Weib, die armen Kinder! Mit dem Manne trägt man das letzte Stück Brot aus dem Haus. – Das ist der Fabrikarbeiter!

Anders der Bauer! Wie die Eiche mit seinem Grund und Boden verwurzelt, von Gott im Himmel geschirmt, mehrt er das väterliche Vermögen, spart in guten und schlechten Jahren, und wenn sein letztes Stündchen kommt, so spricht er zu den Seinen, die am Sterbebette stehen: »Fürchtet euch nicht! Da ist euer wohlgefügtes Dach, in der Truhe liegen die Gülten [R1 Wertbriefe] und bei meinem Totenmahl backt Kuchen, laßt ein Faß auslaufen, ihr habt ja Kornfeld, ihr habt Reben genug!«

Solche Vergleiche ziehen die zu Reifenwerd, und dabei kommt ihnen zum Bewußtsein, daß es in Zukunft zweierlei Bewohner ihres Dorfes geben wird: Bauern und Fabrikarbeiter! Sie schütteln die Köpfe zu den großen Veränderungen in der Abtei, sie nennen die Werke Rudolf Fürsts spottweise Kleinamerika.

»Was geht uns dieses Treiben an? Zwischen ihm und uns liegt ja die Reif,« lachen sie trocken, »wir bleiben Bauern, und unsere Töchter werden keine Männer aus dem Spinnervolk heiraten.«

Wie ein warnendes Beispiel steht aber doch der Auszug Karl Wehrlis und Lonys vor ihren Augen.

Nein, das Treiben in der Abtei geht sie nichts an. Die Jugend schießt am Sonntagnachmittag unter der Leitung des neuen Tätschmeisters Hilfgott Stamm wie sonst mit Pfeil und Bogen nach dem Ziel, bis die Erntezeit dem munteren Spiel ein Ende steckt. Dann schwanken die stolzen Wagen mit den hochgetürmten goldenen Garben die Straße entlang, das Niederlegen der Sicheln bildet ein sangreiches Fest, und nicht viel später, wenn die Trauben zu reifen beginnen, tönt der klappernde Schlag der Ratschen durchs Dorf. Die Frauen und Mädchen brechen auf den weißen Kiesbänken der Reif den Hanf, die Agelnfeuer leuchten in die blaue Herbstdämmerung und weithin verbreitet sich der Duft der Erdäpfel, welche sich die Jugend in den Gluten brät. Aus der Herbstweide erheben die Glocken des Viehes ihr Spiel, der Schimmer anblauender Trauben grüßt vom Rebenhang. Die Weinlese jauchzt. Dann girren die mächtigen Eichbäume der Kelter in hohem Ton, durch die Straße schweben die Duftschwaden des jungen Weines und ziehen die Fuhrwerke mit den grünbemalten Fässern, aus denen die letzten Herbststräuße ragen. Dazu erklingt Tag und Nacht das Schellengeläute der nach der Stadt rollenden Fuhren.

So geht das Bauernleben freundlich und behaglich in Reifenwerd.

In aller Herrgottsfrühe aber, am Mittag und am Abend, gleitet durch dieses behagliche Leben eine schmächtige Gestalt, wie ein Häufchen Unglück.

Es ist Christli, das aus dem Oberland zurückgekehrt ist, an den ersten Maschinen spinnt, die Rudolf Fürst in der Abtei eingerichtet hat, und bei seiner Mutter im Dorfe wohnt, während anderes Spinnervolk, das der rastlose Fabrikant herzugezogen hat, zunächst die Räume der Abtei bewohnt.

Mag Christli noch so säuberlich sein, irgendwo hängt, wenn es ins Dorf tritt, ein Flöckchen Baumwolle an seinem Kleid, das einst so frische Gesichtchen ist blaß, und scheu, ängstlich, mit gesenkten Blicken, wie eine, die kein gutes Gewissen hat, hastet das schmale Mädchen durchs Dorf und ist der Spott aller. Hinter den Häuserecken hervor rufen die Buben: »Spinnmädchen! Schäme dich, Spinnmädchen!« Sie schaben Rüben gegen das Kind, und wo sich Christli, das vorher so beliebt unter den Dörflern war, blicken läßt, ist sie wie die Eule unter den Vögeln.

»Auf die Seite, Spinnmädchen!« Der Kommandant ruft es, der mit seiner Tochter Judith nach Hause fährt. Und die hochmütige junge Bauerntochter, die ihre Tracht mit Silberketten verschönert hat, halt die Hand vor die Nase, als belästige sie der Fabrikgeruch, der aus den Kleidern der Spinnerin strömt. Mit trostlosem Blick laßt Christli das Gespann vorüberleiten.

Es klagt nicht, es weint nicht, es ist nur unheimlich still und in sich verhärtet.

Am Sonntagnachmittag sagt die Mutter, die selber von allem Unglück der letzten Zeit, besonders von der Beleidigung, die ihr Judith zugefügt hat, wie zerdrückt ist: »Christli, wollen wir nicht ein wenig spazieren gehen, einmal sehen, wie die neue Kirche am Rebberg wird?«

»Nein,« erwidert es dumpf mit einem Blick des Abscheus auf seine Fabrikhände, von denen die Seife die schwarzen Tupfen, welche vom Oel der Maschine herrühren, nicht wegwäscht, und es brütet, in einer Ecke sitzend, starr und seelenlos vor sich hin.

»So spiele doch um Gottes willen wieder einmal ein Liedchen auf deiner Geige!« bettelt die Mutter. Aber wie von einem plötzlichen Schmerz getroffen, zuckt Christli jäh zusammen: »Nein, Mutter, nein!« erwidert es leidenschaftlich, eine dunkle Röte steigt in das blasse Gesichtchen, es bedeckt die Augen, und wie in einem wilden Weh stößt es hervor: »Wenn ich nur nie spielen gelernt hätte!«

»Dann lies noch einmal die Briefe Karls!« schmeichelt die um ihr Kind bekümmerte Mutter in dunkler Angst. »Sie sind so hoffnungsreich!«

Der Mutter zuliebe holt Christli die Briefe, deren Inhalt sie schon kennt, aus dem Schranke und entfaltet sie.

»Also bis nach Lyon sind Lony und ich gewandert, und wir haben auf der Reise Erfreuliches und Betrübendes erlebt,« erzählt Karl in seinem ersten Schreiben. »Während ich Arbeit in Schmieden und Werkstätten suchte, verdingte sie sich als Magd an die Bauern. Sie hat Korn gesichelt, hat in den Reben mitgeholfen, und die meisten Leute wollten sie behalten. Ueberall wunderten sie sich über die schöne, kräftige, arbeitsvertraute Magd. Aber sie litt auch manches unter den Scherzen der Knechte. In den Bergen, wo deutsches und welsches Land sich scheiden, warb ein junger angesehener Bauer, bei dessen Eltern sie erst drei Tage gearbeitet hatte, um ihre Hand. Da erzählte ihm Lony unsere Geschichte, und der junge Mann hatte eine solche Teilnahme, daß er uns Mundvorrate, so viel wir tragen konnten, mit auf den Weg gab. An der Grenze drehte sich uns das Herz um, aber was half es, wir mußten hinein in das französische Land! Nirgends bekamen wir Arbeit, weil wir die Sprache nicht beherrschten. In Lyon kauften wir bei einem Bäcker Brot, es war ein braver Elsässer, der deutsch sprach. Er wies Lony, die mehr Glück hat als ich, an seinen Bruder, den Obergärtner eines großen Herrschaftsgutes. Ich suchte umsonst eine Stelle in den vielen Betrieben der Stadt. Entmutigt wollen wir weiter ziehen, da wendet sich die Frau des Obergärtners, die Lony schätzen gelernt hat, an den Besitzer des Gutes, einen Großfabrikanten, und am anderen Tag morgens acht Uhr bin ich schon Arbeiter der großen Webereien Laporte & Cie., Reparateur, eine Stellung, die mich beglückt, weil ich alles anwenden kann, was ich bei dem alten David Fürst gelernt habe. Eines Tages kam, nachdem die Vorschläge anderer gescheitert waren, die Frage an mich, wie wohl ein Webstuhl umgeändert werden müßte, um darauf ein bestimmtes schwieriges Muster zu erzeugen? Eine Nacht des Versuchens und Probierens, und mit zwei Schnüren mehr, als sie ein gewöhnlicher Stuhl besitzt, erzeugt jetzt die Fabrik das gewünschte Muster. Ich aber sehe auf ein weites Feld, wo es noch viel auszuklügeln und zu erfinden giebt.«

Im zweiten Brief erzählt Karl von seiner Hochzeit:

»Lony meinte am Hochzeitstage immer noch, es müßte ein Brief vom Kommandanten kommen. Dann sagte sie: >In Gottes Namen!< Abends sechs Uhr begleiten uns zwei Nebenarbeiter als Trauzeugen, um sieben Uhr saßen wir bei der Obergärtnerin, die Kuchen gebacken hatte.

Seitdem hat Lony schon drei Briefe nach Hause geschrieben, Briefe zum Herzsprengen, aber auf die ersten zwei kam keine Antwort, der dritte wurde uns mit dem Vermerk: >Annahme verweigert< wieder zugestellt. – Lony leidet! – Gott, wenn sie mir meine Lony töten, die Herzlosen! – Nein, ich will sie zum Glücke führen, will dem hagebuchenen Bauernstolz zeigen, was ein rechter Mechaniker zu leisten im stande ist. Ich fürchte das Leben nicht, ich bin zähe bei meiner Arbeit Tag und Nacht, und zum Zeugnis, daß sie sich lohnt, sende ich euch die ersten ersparten hundert Franken!«

Beinahe teilnahmlos sind die Augen Christlis bis dahin über die Briefe geglitten, aber jetzt kommt es an eine Stelle, bei der es trotzig sein Köpfchen schüttelt und ein leises verächtliches Lächeln sein Mündchen umspielt:

»Und Du, liebes, herziges Schwesterchen, halte Dich an den jungen Herrn Pfarrer, niemand in Reifenwerd ist Dir besser gesinnt als er! Vor meiner Abreise hat er es mir herzlich versprochen, daß er ein hütendes, schützendes Auge über Dich halten werde, grad so, als ob er selbst Dein älterer Bruder wäre.«

Das Gesichtchen Christlis verzieht sich schmerzlich. Sie haßt den jungen Pfarrer, an dessen Augen und Lippen sie eine Weile wie an einer Offenbarung gehangen, von dem sie in einer gewissen Stunde voll kindlicher Leichtgläubigkeit etwas wie ein Wunder erwartet hat. Dort im Kreuzgang. Wie kalt hat er sie abgewiesen! Am meisten kränkt sie das Geigenspiel, das kindlich thörichte Geigenspiel unter seinem Fenster! Sie schämt sich über den unüberlegten Streich, von dem die Mutter nichts weiß, fast zu Tode, und der Gedanke an die Violine ist ihre Pein. Noch mehr als den Pfarrer haßt sie seine Braut Sigunde Fürst. Wie das vornehme Fräulein sie so spöttisch lächelnd anblickt und dann etwa fragt: »Kannst du nicht freundlicher grüßen, kleine Geigenspielerin!«

Starr und sonnenlos brütet das blasse Mädchen, in einen Winkel gedrückt, mit gefalteten Händen durch den Sonntagnachmittag.

Die Mutter hat sich an dem Geld, das Karl gesandt hat, erfreuen können, Christli nicht! Lombardi hat das Geld genommen. Und wie aufmunternd Karl schreibt, daß Christli nur bis zum Frühling in der Fabrik aushalten möge, schüttelt es ungläubig den Lockenkopf.

Das arme, an die Maschinen gezwungene Mädchen, das im dunklen Drang ihres kindlichen Gemütes Geigenspielerin hat werden wollen, hat den Glauben an Gott und die Menschen verloren!

»Wenn es nur schon Abend wäre und nicht wieder Tag würde!« schluchzt es tief in sich hinein.


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