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2. Reiseziel

Der Mensch ist nun einmal so geartet, daß er sich nach dem sehnt, was er nicht hat, und erst das recht zu schätzen weiß, was er nicht mehr hat.

Vielleicht muß man wirklich schon heimlos gewesen sein, um Glück und Behagen des Zimmers recht genießen zu können. Wir, die wir draußen so oft und so lange ohne Heim waren, wir können es. Wir wissen, was das dem allen Witterungsunbilden Ausgesetzten bedeutet, bloß schon ein »Dach«, d. h. eine schützende Decke, über dem Kopfe zu haben, welch »Ungemach« es ist, kein » Gemach« zu besitzen – Ruhe, Wohlgefühl, Bequemlichkeit sind in dem doppelsinnigen Wort und dem Begriffe eingeschlossen.

Wochen-, ja, monatelang haben wir gelebt wie unsre Altvordern, ehe sie Holz zum Heime recht zu »zimmern« wußten: in Erdgruben und Strohhütten. Und wie jene nach den Berichten der alten Römer haben auch wir bei unsern Kriegs- und Wanderzügen das Material zu solchem Hütten- und Höhlenbau oft genug auf Wagen mit uns geführt.

Diese uralten Erdgruben, die warmen Winterwohnungen und Vorratsräume der Germanen, haben sich, der Sache nach ganz unverkennbar, noch in unsern Kellern erhalten. Mit dicken Schichten von Dung pflegten unsre Vorfahren, wie Tacitus in der »Germania« berichtet, ihre Erdgruben zu belegen, damit sie wärmer wären, und die warmen Gruben waren besonders gesuchte Arbeitsräume für die webenden Frauen. Man nannte sie kurzweg wohl auch »tunc«, »Dung«, und bis zum heutigen Tage heißt man in der Ulmer Gegend die Webekeller noch immer »Dunk«: die Sprache bewahrt eben für alle Zeiten in ihrer Schatzkammer, was einstmals war. Und so verrät sie uns auch, daß » Stube« nur ein heizbarer Raum genannt werden darf, ja, eigentlich nur der dampferfüllte Baderaum so genannt wurde, wie »gestobte« oder »gestowte« Erbsen gedämpfte Erbsen sind.

Das Zimmer … es ist endlos langer Weg gewesen, den die Menschheit zurückgelegt hat, ehe sie zum Behagen des gezimmerten Gemachs gelangte.

Kaum viel anders als seine »Brüder im stillen Busch, in Luft und Wasser« – mit Goethes Faust zu reden – hat der Mensch anfänglich, selbst noch ein »Tier unter Tieren«, die mannigfaltigsten natürlichen Schlupfwinkel sich zur Behausung gewählt. Wo immer wir bislang Überreste der frühen Menschheit gefunden haben, waren es natürliche Felshöhlen, die sie bargen, und im Laufe mancher Jahrtausende hat die Menschheit allmählich gelernt, solche Nischen und Grotten wohnlich genug zu gestalten und sie gar mit Gemälden zu schmücken, Bildern, auf denen sie ihr Tun und Lassen mit Ocker und Rötel verewigte, wie etwa heute Kinder die kleinen Begebenheiten ihres Lebens, ihre Liebe und ihren Haß mit Kreide der Hauswand anvertrauen. Immer wieder haben die Robinsons aller Zeiten sich am liebsten Höhlen zum Unterschlupf gewählt oder sich Höhlen gegraben, und da im Grunde jedes Kind ein geborener Robinson ist – wer erinnert sich nicht, fragt Thoreau einmal, mit welchem Interesse er in seinen jungen Tagen ausgehöhlte Felsen ansah und alles, was nur im entferntesten Ähnlichkeit mit einer Höhle hatte? Es ist die natürliche Sehnsucht jenes Teils unsrer frühsten Vorfahren, der noch in uns lebt. Ganz so gruben sich die ersten europäischen Ansiedler in den Vereinigten Staaten unter dem Abhang von Hügeln Höhlen in die Erde zur Wohnung. »Sie sorgten nicht für Häuser«, berichtet der fromme alte Johnston, »ehe die Erde durch den Segen des Herrn Brot hervorgebracht hatte, sie zu ernähren; die Ernte des ersten Jahres war aber so gering, daß sie lange Zeit genötigt waren, ihr Brot sehr dünn zu schneiden.« Und von den Ansiedlern in Neu-Niederland heißt es in einem andern zeitgenössischen amtlichen Berichte des Staatssekretärs, die Leute machten sich zunächst ganz allgemein kellerartige, 6-7 Fuß tiefe Erdgruben, deckten sie mit Brettern und Rasenstücken zu und wohnten darin 2-4 Jahre, so lange, bis die Ernährung durch Urbarmachung des Landes sichergestellt war. Dann erst bauten sie sich wirkliche Häuser, die ja im übrigen – hat der oben erwähnte »Philosoph von Concord« damit nicht recht? – »noch immer nur eine Art Vorhalle über dem Eingang zur alten ursprünglichen Kellergrube sind«.

Als Kapitän Cook, der große englische Entdecker, im Januar 1777 auf Tasmanien landete, fand er die Eingeborenen »wie die Faune und Satyrn der alten Dichter« in hohlen Bäumen hausen. »Der Stamm war mit Feuer ausgehöhlt, und in der Mitte stand ein aus Ton errichteter Herd, um den herum noch hinlänglich Raum für vier bis fünf Personen war.«

Doch das sind vergleichsweise schon recht komfortable Behausungen. Noch heute wühlt sich hie und da der Wilde, um sich gegen Regen und Wind zu schützen, einfach in einen Busch ein, wie ein Tier, das sich verbergen will. In seinen »Briefen aus Ägypten« erzählt uns Flaubert, der Dichter der »Salambo« und »Madame Bovary«, seine Araber hätten sich gewöhnlich mit den Händen Löcher in den Sand gegraben, um darin zu schlafen, und der amerikanische Oberst Powell berichtet von den Indianern der unwirtlichen Täler des westlichen Colorado, ihre Lagerstätte sei ein runder Platz mit einem Wall von Sand und Gestrüpp darum; hier lägen sie bei Tage und kröchen nachts in ein Knäuel zusammen, »Männer, Frauen und Kinder, Leder, Lumpen und Sand«.

Auch die »erstaunlich wilden Fennen« hatten einst nach der »Germania« des Tacitus nur »den Erdboden zur Lagerstätte, ihre Kinder keine andre Zuflucht vor Regen und wildem Getier als ein Schutzdach von verflochtenen Zweigen. Dahin«, fährt der römische Historiker etwas dunkel fort, »kehren auch die Erwachsenen zurück, dort bergen sich die Alten.« Nun, die Fennen, die heutigen Finnländer, sind überhaupt keine Germanen gewesen, das hat auch Tacitus selber vermutet. Die Germanen andrerseits bewohnten, als sie in das helle Licht der Geschichte traten, bereits Flechtwerkhütten, wie sie uns die Nachbildung auf der Siegessäule des Kaisers Mark Aurel auf der Piazza Colonna zu Rom vor Augen führt, runde Hütten mit kegelförmigem Dache, ganz ähnlich den Behausungen vieler Negervölker von heute.

Diese runde Hütte ist sozusagen die Keimzelle des Zimmers: aus ihr ist nachmals, so seltsam das erscheint, das rechteckige Haus hervorgegangen.

Das »Obdach«, das Dach ob unserm Kopfe, die Behausung, ist letzten Endes nichts andres als die gemeinsame Schutzkleidung der Familie, und eben wie das schützende Kleid den Körper ringsum einhüllt, so ward das erste Haus rund um den Gesamtkörper der Familie aufgeführt. Nebenbei bemerkt: ist nicht umgekehrt unsre Kleidung gleichsam eine Art von tragbarem Privatkämmerlein? Als dann die Zahl der Hausgenossen wuchs und mit ihr das Heim selber sich zu dehnen strebte, als mit zunehmender Seßhaftigkeit der Wunsch nach einem festeren Hause rege ward, man drum zum Bau statt der biegsamen Äste und flechtbaren Zweige nunmehr die dicken Stämme wählte, da zeigte sichs, daß diese »ungefüge Masse«, wie Tacitus sie nennt, der runden Form des Baues widerstrebte. Ganz ohne Absicht des Erbauers nahm das Blockhaus rechteckige Form an, und durch allen Wandel der Zeiten hat das Haus diesen Grundriß beibehalten.

Jahrhundertelang ist das Haus nicht über dies eine Zimmer hinausgekommen; jahrhundertelang hat sich an dem primitiven Bau dieses Raumes nichts geändert. Die bloße festgestampfte Erde bildete den Fußboden, die Lücken in den baumstammgefügten Wänden waren mit Moos und Reisig verstopft, mit Lehm verstrichen. Fenster fehlten, Rohrlagen waren das Dach; eine Säule inmitten des Raumes half es tragen. Bis in die Ära der Karolinger blieb das so bei uns, hausten Mensch und Vieh im Winter gemeinsam in diesem Zimmer oder – wie Johannes Scherr etwas respektlos, aber zutreffend einmal sagt – »stallten sie zusammen«.

Aus dem leichten, von der Reisighütte unschwer herzuleitenden Fachwerkbau, der zumal im Süden Deutschlands, bei den Franken, Thüringern, Alemannen und Burgunden, schon ziemlich früh mit dem schweren, starren Blockhaus in siegreichen Wettbewerb trat, sind die höheren, geräumigeren, fensterlichten Zimmer hervorgegangen, und mit dem Fachwerkbau begann auch die Zerlegung des Hauses in mehrere Räume. Bis tief ins Mittelalter hinein blieb selbst das städtische Haus fast allenthalben ein schlichter Fachwerkbau, dessen Fächer mit Reisig gefüllt und mit Lehm verputzt waren. Nur selten besaßen die Bürgerhäuser bereits eine Backsteinfassade, zu deren Errichtung dann oft die Stadt selbst im Interesse des Aussehens und – Ansehens die Mittel beisteuerte.

Aber das soll ja hier keine Geschichte des deutschen Hauses werden und beileibe keine langweilige Wissenschaft. Genug davon also! Unsre Reiseroute führt ja nur durch das Zimmer, und da wirds ohnehin schon genügend zu betrachten geben.


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