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9. »Ei, Bäume, Wiesen, Bach und Hain …«

Um jene Zeit, da am Fenster uns die Eisblumen blühen, hat Jahr für Jahr seit frühsten Kindertagen das Zimmer hochwillkommenen Besuch. Mitten auf dem Tische steht er: eine schöngewachsene, rostrindige Fichte mit weit ausgreifenden, schwer herabhangenden Nadelschirmen, Stockwerk auf Stockwerk und Zweig neben Zweig ohne Lücke gefügt, sich in wehrhaft starrender geschlossener Pyramide zu schlankem Wipfel verjüngend. Die »sinnende Fichte« hat Dichtermund einmal diesen schönsten unsrer Nadelbäume genannt, in dessen Bilde sich »Majestät und kühner Trotz mit einem Zuge tiefer Schwermut« eint: »der verhüllte Geist des Nordens thront auf ihr«, fügt Masius, Heines bekannten Versen als Naturforscher beipflichtend, hinzu, »wie in ewiger Sehnsucht nach dem Süden verlangend«.

Ich weiß nicht, wie es kommt – aber immer, wenn ich längere Zeit im Süden war und das Heimweh mich packte, dann stieg es als Sehnsucht nach den Fichtenwäldern Thüringens oder des Harzes in mir auf, nach diesen dunklen Massen, die wie Scharen schwarz geharnischter Krieger in unabsehbarem Heereszuge durch Täler schreiten und über Höhen klimmen. Nach diesen feierlich stillen Wegen in den sommerlichen Wäldern um die Mittagsstunde, wenn das goldquellende Harz wie Weihrauch duftet, jeder Vogelruf verstummt ist und nur das Bächlein wie verwunschen murmelt, oder wenn im Frühling alle Zweiglein ihre roten Blütenkerzen aufgesteckt haben, und das Sonnenglänzen die Säulen der Stämme zärtlich streichelt. Mehr als alle andern Bäume, mehr als Linde selbst und Eiche, scheint mir die Fichte ein deutscher Baum zu sein, und darum wohl hat sie ein tieferes Empfinden zum Baum der deutschen Weihenacht gewählt …

»Gemach, verehrter Reisemarschall«, unterbricht mein aus dem Duft der Fichte und der wohligen Wärme des Ofens geborenes Träumen der Kulturhistoriker. »Der Weihnachtsbaum? Wißt ihr, daß der ganz jungen Datums ist in unsres Volkes Brauch, kaum mehr als drei Jahrhunderte alt?«

»Auff Weihenachten richtett man Dannenbäume zu Strasburg in den Stuben auff, daran henckt man roßen auß vielfarbigem papier geschnitten, Aepfel, Oblaten, Zischgolt undt Zucker. Man pflegt darumb eine viereckent ramen zu machen, undt vorrn« – da bricht das wertvolle Manuskript eines Unbekannten vom Jahre 1605 ab. Mehr als zwei Zeilen fehlen auf dem zerrissenen Papier, und wie in Gustav Freytags »Verlorener Handschrift« um die fehlende Stelle in den »Annalen« des Tacitus hat der Scharfsinn zahlreicher Gelehrter sich um die Ergänzung und Deutung dieser Zeilen gemüht. Es ist bis heute verlorne Liebesmüh geblieben. Erst vierzig Jahre später erfahren wir aus einem Werk des am Münster predigenden Pastors und Professors Dannhauer – » nomen est omen« darf man hier mit dem alten Plautus wirklich sagen –, daß in Straßburg der weihnachtliche Tannenbaum damals schon eine ganze Weile zu Hause war. Denn der jeden poetischen Empfindens offensichtlich bare Professor und Pfarrersmann wettert bilderstürmerisch in seinem »Katechismusmilch« betitelten Opus: »Unter anderen Lappalien, damit man die alte Weihnachtszeit oft mehr als mit Gottes Wort begeht, ist auch der Weihnachts- oder Tannenbaum, den man zu Hause aufrichtet, denselben mit Puppen und Zucker behängt und ihn hiernach schüttelt und abblümen läßt. Wo die Gewohnheit herkommt, weiß ich nicht. Es ist ein Kinderspiel … Viel besser wäre es, man wiese die Kinder auff den geistlichen Cedernbaum Christum Jesum.«

Noch einmal vergingen dann an hundertundfünfzig Jahre, bevor der Weihnachtsbaum, nun nicht mehr bloß mit Zuckerwerk und buntem Tande behangen, sondern vor allem mit Lichtern besteckt, auch in andern Gegenden Deutschlands erwähnt wird, und selbst heute ist er, so seltsam das klingt, keineswegs allerorts in unserm Vaterlande bekannt. In Wien wurde er, nebenbei bemerkt, über Berlin her vor etwa hundert Jahren durch – ausgerechnet – jüdische Bankiers eingeführt. In einem der geheimen, für Metternichs mannigfache Zwecke bestimmten Polizeirapporte steht unterm 26. Dezember 1814 zu lesen: »Bei Arnstein war vorgestern nach Berliner Sitte ein sehr zahlreiches Weihbaum- und Christbaumfest. Alle gebetenen, eingeladenen Personen erhielten Geschenke oder Souvenirs vom Christbaum. Es wurde durch alle Zimmer ein Umgang gehalten mit den zugeteilten, vom Weihnachtsbaum abgenommenen Gegenständen. Es wurden nach Berliner Sitte komische Lieder gesungen.« Was mögen das wohl für Berliner Weihnachtslieder gewesen sein, die dem Wiener Spitzel so komisch vorkamen? Im Weimar Goethes, Schillers und Karl Augusts war der Weihnachtsbaum damals schon überall zu Hause, und der Oberforstmeister v. Wedel suchte den Herzog vergebens in wiederholten Berichten und Klagen über die »Barbarei« der »Ausschneidung dergleichen Tannen-, Fichten- und Kiefergipfel zu denen auf Weihnachten gewöhnlichen sogenannten Christbäumchen« zu strengen Maßregeln gegen solchen Forstfrevel zu bewegen.

Woher stammt dieser Brauch und dieser froh geschmückte Lichterbaum, ohne den wir uns gar keine rechte Weihnachtsfeier denken mögen? Der Freiburger Germanist Friedrich Kluge glaubt die Antwort darauf geben zu können, eine höchst befremdliche Antwort allerdings: die Heimat des Christbaums ist Indien. Da hat ein »uber all ander weit erfarner Ritter und Landtfahrer, Herr Ludouico Vartomans von Bolonia« im 16. Jahrhundert eine weite Reise gemacht, ist dabei auch nach Indien gekommen und hat »nit fern von Calicut« am 25. Dezember ein Fest erlebt, bei dem alle Bäume rings um den Tempel über und über mit Lichtern »unglaublich zu sagen« geschmückt wurden. Weit- und breither strömt wallfahrend das Volk Jahr für Jahr an diesem Tage hier zusammen, so erzählt er. »Die Übereinstimmung des festen Datums mit dem Brauche«, schließt Kluge, »kann nicht Zufall sein und drängt uns zu der Vermutung, daß Missionare von Indien her die Sitte zu uns gebracht haben … Für den Weihnachtsbaum gilt also vielleicht derselbe Satz wie für das Weihnachtsfest: ex oriente lux!«

Welch Rätsel birgt doch für uns so mancher Brauch, der uns urgewohnt und alltäglich dünkt … Der Weihnachtsbaum mit seinen Lichtern vielleicht ein Abbild aus einem indischen Kulte …

Freilich, unsre Altvordern haben ihn nicht gekannt, das ist gewiß. Ihr Julfest aber, das in diese Weihnachtszeit fiel, und das dem Wachsen des goldnen Himmelslichtes, dem heiß ersehnten Längerwerden der dunkelumhüllten Wintertage galt, ward an allen Pfosten des Hauses von Fichtenreisern, Stecheiche- und Mistelzweigen begrüßt und vom Feuer des nach alter Sitte neu entfachten Eichenblocks auf dem Herde und dem Glanze ungezählter Fackeln erhellt. Und sie schlachteten in feierlicher Zeremonie den feisten Jul-Eber und brachten Früchte dar und Backwerk als Opfergaben. Was wir da an unsern Lichterbaum hängen: die Pfefferkuchenmänner und -tiere, die Äpfel, das Rauschgold – das sind Erinnerungen an jene lang verklungenen Zeiten der heidnischen Julopfer, zäh im Gedächtnis bewahrte Erinnerungen und Opfergaben, die nun längst in Kinderfreude und Weihnachtsglück umgedeutet wurden. Das weihnachtliche Marzipanschwein, die pfefferkuchenen Sonne, Mond und Sterne, die Pferde und Reiter aus Lebkuchen, sie alle haben etwas von jenem »hohen Sinn im kind'schen Spiele«. Wer von uns denkt wohl daran, daß die aus dem Sachsenlande zu uns als Weihnachtsgebäck gekommene »Christstolle« – der Sachse sagt männlicher der Stollen, gerad wie der Schwabe von dem Butter spricht, namentlich, wenn diese Butter ungesalzen ist – in ihrer Form das nach alter Art in Windeln gehüllte Christkind selber, so eine Art gebackenen »Bambino« nach Andrea della Robbia darstellt? Wer denkt noch daran, daß »Knecht Ruprecht« kein andrer ist als der »ruhmglänzende« (» hruodperacht«) germanische Himmelsherrscher Wodan in eigner Person, der, all seiner heidnischen Himmelsmacht entkleidet, zum Knecht und Begleiter des Christkinds und ein lustiger Kinderschreck geworden ist?

Aber wohin bin ich wieder mal abgeschweift? Von der Fichte und den Blumen im Zimmer wollte ich erzählen, und … Nun, lieber Leser und Reisekamerad, trösten wir uns: es ist Größeren auch so ergangen, wie du im 22. Kapitel jenes »Leben und Meinungen des Herrn Tristram Shandy« nachlesen magst. Da du aber das Buch vielleicht nicht gleich zur Hand hast, und daß du nicht im Schranke erst lange danach zu suchen brauchst, setz ich die Stelle lieber gleich hier hin. »Abschweifungen«, sagt Herr Shandy-Sterne, »sind unleugbar der Sonnenschein, das Leben und die Seele der Lektüre. Man nehme sie zum Beispiel aus diesem Buche, so könnte man ebensogut das ganze Buch mit fortnehmen – auf jeder Seite würde kalter, ewiger Winter herrschen; man gebe sie dem Schriftsteller zurück, und er schreitet einher wie ein glücklicher Bräutigam, bietet allen seinen Gruß, bringt Mannigfaltigkeit in sein Werk und verhindert so, daß dem Leser der Appetit vergehe.« Als Stomachika und Tonika also, ärztlich gesprochen: nur um deinen Appetit bei Laune zu erhalten und deiner geistigen Ernährung aufzuhelfen, habe ich hie und da meine »Nebenbeis« durch das Buch hin verstreut. Ich hoffe, du dankst mir diese zarte Rücksicht.

Und nunmehr endlich wieder zu unsrer Fichte. Mit wieviel Inbrunst wir am heiligen Abend auch »O, Tannebaum, o, Tannebaum« singen mögen – unsre »Tanne« ist in neunundneunzig Fällen von hundert eine Fichte. Das ist an sich gar nicht so schwer auseinanderzuhalten. Die Fichte hat eine rostfarbene, rauhe Rinde, die Tanne eine weißliche, glatte; die Nadeln der Fichte sind einfach und grün, die der Tanne stehen zweizeilig und zeigen auf der Unterseite zwei weiße Streifen. Das ist das ganze Geheimnis. Aber »Tanne« klingt offenbar den meisten Menschen vornehmer als Fichte, und vollends die Bezeichnung »Silber- oder Edeltanne« erhöht das Ding in unsrer Wertschätzung und der unsrer Geldscheintasche noch um ein Beträchtliches. Im übrigen sind die Blätter der Fichte oder meinetwegen auch Tanne durchaus nicht so »treu«, wie das alte Lied es darstellt. Eine Treue von zwei bis drei Jahren ist doch wirklich nicht allzu viel: so alt werden aber in der Natur nur die schmalen Fichtenblättchen; alljährlich im September und im November werfen unsre Nadelhölzer einen Teil ihrer Blätter ab. Jahr für Jahr setzt das »mathematische Geschlecht« der Nadelhölzer ein Stockwerk auf, und in immer gleicher exakter Weise verlängern und verzweigen sich auch die quirlartig um den schlanken Schaft des Stammes angeordneten Zweige.

Wie glatt diese Nadeln den Boden machen – wie auf gebohntem Parkett gleitet unsre Sohle darüber hin. Das macht ihr Harzgehalt, jenes Fichtenharz, aus dem Terpentin und das Kolophonium für den Geigenbogen gewonnen werden, jenes Harz, das, urweltlichen Nadelhölzern einst entquellend, sich zu Bernstein verhärtete.

Bernstein ist ja jetzt bei uns an Gold und Edelsteinen Verarmten wieder einmal »große Mode« geworden, wie er es zur Zeit des römischen Kaiserreichs war, als die Übersättigten nach immer neuen Reizmitteln suchten, als man den gefangenen Germanenfrauen das goldblonde Haar vom Kopfe schnitt, um sich damit zu schmücken. In jenen frühen Tagen unsrer Kultur war Bernstein etwas so Gewöhnliches, daß die Bewohner der samländischen Küste ihn nicht selten statt des Kienspans zu Beleuchtungszwecken verwandten: von »börnen«, d. h. brennen, ist ja auch das Wort Bernstein (eigentlich also Börnstein) abzuleiten. Die Römer rüsteten damals große Expeditionen aus, um ihn in Massen heimzuführen, und unter Nero wurden bei einem der Fechterspiele – den »Boxermatchs« jener Verfallszeit der Kultur – einmal alle Waffen der Kämpfer, die Netze für die wilden Tiere und zum Schutze des Parketts, die Bahren für die Verwundeten, überhaupt die ganze Ausrüstung des Kampfplatzes mit Bernsteinstücken verziert. »Das größte Stück davon«, hat Plinius gewissenhaft aufgezeichnet, »wog dreizehn Pfund.« Schon die Alten kannten übrigens jene Eigentümlichkeit des von ihnen nach seiner Goldfarbe » Electron« geheißenen Bernsteins, gerieben leichte Teilchen andrer Stoffe anzuziehen, und von dieser Bezeichnung und jener geheimnisvollen Eigenschaft stammt unser physikalisches Rätselwort »Elektrizität«. Natürlich hat der Bernstein demgemäß auch bei den Alten als Amulett und Heilmittel eine große Rolle gespielt, wie ja noch heute bei uns eine Bernsteinkette den Kindern das Zahnen erleichtern soll, und wie man in der Steinzeit an der Ostsee Bernstein als Amulett gegen jenen bösen Geist trug, den wir heute respektlos »Rheumatismus« nennen, und der offenbar ein leiblicher Bruder Grippos, des »Pfnüffelgotts«, aus der Pfahldorfgeschichte in Vischers »Auch Einer« war. Du erinnerst dich doch, lieber Reisegefährte:

»Sende das kitzlige,
Prickelnde, bitzlige,
Kratzende, kritzlige
Übel uns nur …
Pfisala, Pfnisala, Pfeia!«?

Noch ein andermal in jedem Jahre schickt uns der deutsche Wald eines seiner geliebten Kinder als hochwillkommenen Gast in Haus und Stube. Uralter deutscher Volksbrauch schmückt zu Pfingsten das Heim mit jungem Birkenlaub, das in seinem eigenen, ganz zarten Duft uns ein wenig von dem blauen, sonnenstrahlenden Frühlingshimmel mit seinen weißen Schäfchenwolken und seiner alles erfüllenden Sehnsucht ins Haus zu tragen scheint:

»O, frischer Duft, o, neuer Klang!
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muß sich alles, alles wenden.«

Wald und Baum waren unsern Altvordern ja einmal gleichsam Dom und Götterbild, und so trugen sie zu ihren Festeszeiten gern die heiligen Bäume zu Schutz und Trutz in das Haus, allen bösen Unholden zu wehren. Ein Mai-, ein Wald- und Wasserweihfest ist uns über alle christliche Deutung hinaus das »liebliche« Pfingsten geblieben, dieses Fest des »fünfzigsten« (gotisch-griechisch paintekuste) Tags nach Ostern. Und laubprangende Birkenzweige – die »Maien« des Volksmunds – und schwellender, würziger Kalmus wurden uns, den immer mehr in »niedriger Häuser dumpfen Gemächern« Eingepferchten und unter dem »Druck von Giebeln und Dächern« Seufzenden, zu hoffnungsvollen Sinnbildern des Frühlingswaldes, der des Sommers gewiß ist, und des fließenden Wassers, das in quellender Erneuerung sich ewige Jugend bewahrt. Aber prosaisch über alle Maßen, wie der Mensch nun mal ist: aus dem Kalmus macht er einen »magenstärkenden« Schnaps und aus dem Saft der ja seit altersher auch mit wertvollen »pädagogischen« Eigenschaften begabten Birke einen berauschenden Wein und rühmt sich gar noch wie jener britische Dichter bei unserm Spötter Lichtenberg – ich übersetze die englischen Verse gleich:

»Geblutet hab ich oft, ich armer Schächer,
Von deinen Streichen, grimmes Birkenreis.
Doch nun, Triumph, ich mich zu rächen weiß
Und schlürf dein goldnes Blut aus meinem Becher.«

Wildlinge in unserm Zimmer sind Fichte und Birke, Naturburschen sozusagen, Logierbesuch, der die besten Räume für sich beansprucht, aber dem man schon deshalb nicht gram sein kann, weil er nur ein paar Tage bleibt. Doch auch sonst hat der Mensch allgemach es gelernt, mancherlei Kinder Florens in sein Haus zu locken und an sein Zimmer zu fesseln. Wer mag wohl den liebenswürdigen Brauch, Blumen im Zimmer zu hegen, erdacht haben? Diesen Behelf des Armen, der keinen Garten sein eigen nennt, diesen Sieg des Menschen über die Natur, der ewigen Frühling in unsre Stube trug? Die Sitte kam vermutlich erst mit der Wertschätzung gewisser Blumen fremder Zonen auf, wie zumal der Tulpen und Hyazinthen, beides Liliengewächse, die, in Westasien heimisch, um die Mitte des 16. Jahrhunderts als Kostbarkeiten nach Europa gebracht wurden. In der Folgezeit waren es namentlich die handelsmächtigen Holländer, die sich der Blumenpflege widmeten, und es klingt uns schier wie ein Märchen, wenn wir lesen, daß die sonst doch so nüchtern-praktischen Mynheers im 17. Jahrhundert für eine einzige, seltene Tulpenzwiebel 13 000 Gulden bezahlten. Auch das kleinste Dorf in den Niederlanden hatte damals seinen Blumenzüchterverein, der bei Wettbewerben besondere Gesetze und Zeremonien beobachtete und Feste feierte, bei denen die schönste Blume und ihr glücklicher Besitzer mit Sang und Trank gepriesen wurde. Die Blumenliebhaberei beherrschte das ganze Dasein der Mynheers, und der französische Gesandte im Haag spöttelte so einmal: » on causait fleurs«, man sprach nur von Blumen und nicht von Politik. Glückliche Zeiten! Ungetrübt glücklich waren freilich auch sie nicht. Denn die Holländer züchteten jene Blumen nicht sowohl aus Freude an ihren Farben und ihrem Duft, als vielmehr zwecks Spekulation – darin glichen sie gewissermaßen den Engländern von heute, von denen der alte Dubslav Stechlin fontanisch-sarkastisch, aber nicht ganz ohne Grund behauptet: »sie sagen ›Christus‹ und meinen ›Kattun‹« – und so kam es dann und wann zu wahren Tulpenbörsenkatastrophen.

Damals ward es auch Sitte, schöne Blumen in zierlichen Vasen auf den Tisch zu stellen und daran erbauliche Gespräche über die Wunder der Natur zu knüpfen. Ob wohl die naturbegeisterten Blumenfreunde und -freundinnen daran gedacht haben, daß alle solche Blütenpracht eigentlich eine Zurschaustellung jener Organe ist, von denen man bei Tier und Mensch in guter Gesellschaft niemals sprechen darf?! Doch nein, es verging ja noch fast ein Jahrhundert, bis der Konrektor an der Großen Lutherischen Stadtschule zu Spandau, Herr Christian Conrad Sprengel, in seinem »Entdeckten Geheimnis der Natur« das Wunder der Blüte und deren »intime« Beziehungen zu den Insekten enthüllte und zeigte, daß in den allermeisten Fällen Bienen, Schmetterlinge, Käfer und Fliegen es sind, die den (männlichen) Blütenstaub der einen auf die (weibliche) Narbe der andern Blüte übertragen und so die Befruchtung vollziehen. Daß also nicht »dir und mir«, wie es in dem naiven Sommerliede des frommen Paul Gerhardt heißt, die Blumen »sich ausgeschmücket« haben, sondern daß all die Blütenpracht gleichsam nur Wirtshausschild und Schenke für liederliche Käfer und zechlüsterne Schmetterlinge ist.

Eben fällt mir ein, daß ja schon die alten Ägypter ihr Heim mit Blumen schmückten. Sie taten sie in tönerne Vasen, die merkwürdigerweise oben geschlossen waren, dafür aber an den Seiten Öffnungen hatten, um die Stiele darein zu stecken. Im übrigen kannte das klassische Altertum als »Blumenarrangement« lediglich den Kranz. Wie »verliebte Leut« heut Ansichtskarten miteinander wechseln, tauschten sie damals zierliche Kränze, und wenn einer zur Kneiperei ging, verfehlte er nicht, sich einen Kranz aus Efeu und Krokus oder Rosenblättern auf das Haupt zu setzen, was zuverlässig – gegen Trunkenheit schützte. Herr Raffke-Trimalchio, den wir schon kennen, ließ seinen Gästen natürlich auch um Beine und Knöchel solche Kränze winden.

Wer hat nicht von jenem Gastmahl des Heliogabal gehört, der die Geladenen unter einer aus der Decke des Festgemachs niederbrechenden Sintflut von Rosen, Narzissen, Lilien und Levkojen in Mördersinn zu ersticken versuchte? Dieser » roi soleil« der Antike, dieser Sonnenkönig und -gott, der an Stelle des Helios selbst auf die Erde hinabgestiegen war, schlief auf einem Lager von Rosenblättern und hüllte sich in eine aus duftenden Veilchen gewobene Decke, und Veilchen waren auch das Polster für sein Haupt. Kleopatra ließ Rosen auf den Boden schütten und ein engmaschiges Netz darüber spannen, damit ihr Fuß federnd über diesen Rosenestrich schreiten könnte. Nie wieder waren so sehr »die Tage der Rosen« wie in jener Römerzeit, da Rosen als Symbol der Lebenslust das ganze Dasein begleiteten, und niemals wieder hat man auch so unerhörten Blumenluxus getrieben.

Erst zu Ausgang der Renaissance (16. Jahrhundert) ward es Mode, kleine Blumensträuße bei sich zu tragen, ein paar stärker riechende Blumen und Pflanzen wie Nelken und – Majoran, Salbei oder Thymian, und solche Sträußchen nannte man bei uns auch wieder »Maien«. Erst das Rokoko aber kennt Blumenkörbe und, wie wir bereits betonten, Blumen in Vasen.

Scheint es mir nur oder ist dem wirklich so, daß unsre liebevolle Pflege, ja, etwas wie mütterliche Güte heischenden Zimmerblumen immer mehr vom Fenster verschwinden und den in kurzen Lebensstunden verblutenden Sträußen in Vasen und Gläsern Platz machen müssen? Hyazinthe und Tulpe – das Wort ist übrigens von dem türkischen » tülbent« (Turban) hergeleitet – haben sich zwar bis heute auch als Zimmerpflanzen in der Gunst der Blumenfreunde zu erhalten gewußt. Auch die Primel – primula veris, die »erste des Frühlings« –, die Schlüsselblume, der Himmelsschlüssel, hat noch Freunde und Gönner genug. Aber wo sind all die andern Blumen meiner Kindertage geblieben: die Fuchsie, das »fleißige Lieschen«, die kokett steife Balsamine, die üppig fade Hortensie, die Aschenblume ( Cineraria) …? Wo ist der Gummibaum, das Philodendron, der Myrtentopf hingeraten? Wo ist das Blumentischlein mit seinem laubfroschgrünen Blecheinsatz wohl noch zu finden? Dafür sind überall die bizarren Kakteen, einst nur Liebe und Entzücken verschrobener Hagestolze und verspotteter Sonderlinge – was für köstliche Kakteenfreunde von damals hat uns nicht Spitzwegs biedermeierischer Pinsel geschenkt –!, ans Fenster zu seltsamen Gebirgen in winzigen Töpfchen hingebaut, nicht minder ein Abbild kränkelnden Zeitgeschmacks als die mondäne Zierpuppe mit den tiefen Schminkeschatten unter den von Belladonna und seltsamen Lüsten glänzenden Augen im mehlfarbenen Pudergesicht.

Im Berlin des Alten Fritz waren besonders »Orangebäumchen vor die Fenster zu setzen« und »kostbare Nelcken in Töpffen« beliebte Zimmerpflanzen, und der Generalleutnant v. Linger setzte einmal, einer Anzeige im Intelligenzblatt zufolge, als ihm zwölf solcher Töpfe aus seinem Garten gestohlen worden waren, eine Belohnung von 2 Dukaten für das Wiederbringen aus …

Sträuße und Vasen im Zimmer – ein ganzes Buch ließe sich über das beides schreiben. »Durch keine Kostbarkeit«, sagt Josef August Lux einmal, »können wir unsern Räumen jene Schönheit geben, die durch die farbige Erscheinung der Blumen auch im schlichtesten Heim hervorgebracht wird. Mittels der Blumen kann man die Stichprobe machen: ein Raum, darin nicht die farbige Wirkung der Blumen zur Geltung kommt, ist ein ästhetisch (zumindest koloristisch) vollkommen mißlungener Raum, und wäre er auch mit verschwenderischem Reichtum ausgestattet.« Und dieser unermüdliche Prophet und Lobredner edlen Geschmacks im Alltag fügt hinzu: »Zur farbigen Pracht der Blumen gehören bunte Töpfe.«

Hast du schon einmal empfunden, liebe Reisegefährtin, welch unbeschreiblicher Reiz oft in schlichten, einfarbig bunten Bauerntöpfereien liegt; wie es nichts, aber auch gar nichts gibt, worin ein bunter Strauß so durchaus hineingehört wie gerade in solchen Wasserkrug aus Bürgel oder eine lustige hessische Kuppel? Vielleicht, daß hier das einfache Glas, das Wasserglas, der Champagnerkelch, gelegentlich den Wettbewerb noch aufzunehmen vermag – sonst aber wüßte ich keinen ebenbürtigen Nebenbuhler. Und, will ich weiter fragen, hast du schon einmal empfunden, daß keine noch so gläsern steife, pervers geformte und wie mit Fäulnisflecken übertupfte Orchidee neben unsern heimischen Bauernblumen mit all dem Zierlichen und Derben, Schlichten und manchmal auch Aufgedonnerten, immer aber Gesunden, Lebenskräftigen und Farbenfreudigen, das sie haben, standzuhalten vermag?

Freilich, du mußt es auch verstehen, einen Strauß zu binden! Zwei Dichter, recht verschiedenartig nach Abstammung wie Temperament, mögen dich das lehren statt meiner.

In seiner »Lilie im Tal«, dieser innigsten, keuschesten aller seiner Liebesgeschichten, läßt Balzac seinen Felix von Vandenesse der soviel älteren, heimlich geliebten Frau einmal zwei Sträuße »für die Vasen ihres grauen Salons« binden. »Ich lief in die Weinberge und suchte dort Blumen. Aber während ich eine nach der andern pflückte, sie an der Wurzel abschnitt und bewunderte, bedachte ich, daß Farben und Laubwerk ihre eigene Musik haben, eine Poesie, die der Verstand begreift, indem das Auge entzückt wird, so, wie Musik in Liebenden und Geliebten tausend Erinnerungen wachruft. Da Farbe organisches Licht ist, muß sie da nicht eine Bedeutung haben, wie sie die Luftschwingungen im Ton haben? Stelle dir eine Quelle von Blumen vor, die aus zwei Vasen hervorbricht, in flockigen Wogen sich senkt, und aus deren Mitte meine Wünsche in weißen Rosen und silberkelchigen Lilien steigen. Auf diesem hellen Grunde erglänzten Kornblumen, Vergißmeinnicht, lauter blaue Blumen, deren Himmelsfarbe sich gern dem Weiß vermählt; sind es nicht zwei Arten der Unschuld, die nichts weiß und die alles weiß, die eine ein Kindergedanke, die andre ein Märtyrergedanke? Die Liebe hat ihre Wappenkunde. Ich entdeckte die Wissenschaft des Sträußebindens wieder, die Europa abhanden gekommen ist, wo tintige Stilblüten die blühende, balsamgetränkte Blumensprache des Orients verdrängt haben. Wie reizvoll ist es, als Dolmetscher für seine Gefühle die Töchter der Sonne zu haben, die Blumenschwestern, die die Sonne der Liebe erblühen ließ … Was opfert man Gott? Düfte, Licht und Lieder, die lautersten Gaben der Natur. Und alles, was man Gott opfert, wird der Liebe dargebracht in solchem lichten Blumengedicht, das seine endlosen Melodien in das Herz summt, uneingestandene Hoffnungen und Wünsche, die auftauchen und wieder verschwinden wie Marienfäden in lauer Sommernacht …«

Dies ist die eine Art, eine etwas antiquierte und gleichsam verstaubte Art, Sträuße zu binden, einen Strauß, der in geheimer Menschenzunge zu dem andern spricht und etwas bedeuten will, einen Strauß des höflich-zudringlichen ancien régime, einen sentimentalischen Strauß, in Schillers unterscheidender Ausdrucksweise zu reden …

Die andre, frischere, der naive Strauß, der nur er selbst sein mag: »Ei, Bäume, Wiesen, Bach und Hain und blauer Himmel und Sonnenschein«, wie der heimgekehrte Wanderer mit Anastasius Grün jubelt … nun, Heinrich Seidel, der sich meisterlich auf solche Sträuße verstand, soll das Geheimnis uns verraten.

»Gartenblumen«, doziert er einmal, »haben mit wenigen Ausnahmen etwas Prunkendes, Wohlgenährtes und Aufdringliches an sich, und die Sträuße, die man aus ihnen bildet, gleichen den mit allem Pomp der Sprache und den glänzendsten Reimen ausgestatteten Schöpfungen eines Kunstdichters, während so ein Feld- und Waldstrauß unser Herz berührt wie die einfache Weise eines Volksliedes. Und damit komme ich zum Kernpunkt der Sache: Sträuße binden heißt dichten

» Hinc illae lacrymae« ruft Terenz, da liegt der Hund begraben: Sträuße binden heißt dichten, heißt singen können und Maler sein.

»Wenn Ihr's nicht fühlt, Ihr werdet's nicht erjagen.« Bleibt den von allen Musen Verlassenen noch immer der tröstliche Rat desselben Faust: »Braut ein Ragout von andrer Schmaus«, d. h. geht zum Gärtner und laßt Euch Euern Strauß dort binden. Auch unter den Gärtnern gibts ja Leute, die Mozarts »Komm, lieber Mai« dem »Im Hotel zur Nachtigall« entschieden vorziehen, darein heut den ganzen Morgen schon das blonde Töchterlein des Herrn Konsistorialrats von drüben bei weitgeöffnetem Fenster ihre Frühlingssehnsucht ergießt.


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