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Dazumal jabs noch keene Fenstascheiben, da kuckten de Leute so aus de Fensta«, läßt Glaßbrenner seinen Berliner Guckkästner – dieser naive Guckkasten der Biedermeiertage war mit seinem »rrr, 'n anders Bild« sozusagen das Kino unsrer Großväter – einmal eine Szene aus dem Untergang von Sodom und Gomorra dem staunenden Publikum erläutern. Lieber Glaßbrenner, das stimmt nicht: die Leute guckten in alten Zeiten überhaupt nicht aus den Fenstern; denn wo es wirklich solche gab, da waren sie der Sicherheit wegen hoch oben in der Wand oder im Dache angebracht und nur Licht-, aber nicht Schauöffnungen. Tür und Fenster waren in der Entwicklungsgeschichte des Hauses sehr lange nur eines und sind es noch heute bei den meisten Wilden; gewisse Negerstämme am Kongo aber haben zwischen den beiden, wie uns Wißmann berichtet, ein sehr originelles Kompromiß geschlossen. »Eine tischartige Erhöhung vor der Hütte«, erzählt der berühmte Afrikadurchquerer, »erleichtert das Ein- und Aussteigen, und mit erstaunlicher Gewandtheit schlüpfen Männer wie Weiber durch die winzige, hochgelegene Fenstertür hindurch. Sie neigen dabei den Oberkörper vor, fahren mit einem Arm und einem Bein gleichzeitig hinein und ziehen den übrigen Körper schnell nach. Sie besitzen darin so große Übung, daß sie in vollem Laufe die kleine Öffnung passieren können.«
»Augatora« nannten unsre Ahnen höchst poetisch die Oberlichtöffnung im Dache, »Augentor« oder, praktischer klingend, »Windauga«, wovon das englische » window« für Fenster noch heute Zeugnis ablegt. »Fenster« ist, um das gleich zu sagen, wieder mal ein Lehnwort und lateinisch-griechischen Ursprungs ( fenestra von phainein, d. h. sichtbar machen), weshalb im 17. Jahrhundert der alte Sprachreiniger Philipp Zesen, der auch eine Anleitung zum Dichten geschrieben hat, es in »Tageleuchter« verdeutschen zu müssen meinte. Dieses nordische Windauge, schildert der Kulturhistoriker Lippert, spottete aller Veredlungsversuche der Architekten und beherrschte dennoch das ganze Haus. Nicht von einer flachen Decke sah es freundlich herab, sondern neben dem Firstbalken schwebte es an der einen Seite des Giebeldachs, und ungleichmäßig verteilte es das Licht in den dunklen Raum. Nie konnte ein Sonnenblick die eine der Langseiten des Zimmers erreichen; ja, damit überhaupt ein Sonnenstrahl den Weg in die dämmrige Tiefe hinabfände, mußte sich die ganze Lage des Hauses nach diesem Windauge richten, mußten die Giebelwände westöstlich orientiert sein. Das wurde in Skandinavien geradezu zu einer Art ungeschriebenen Volksgesetzes. Dem Regen und dem Schnee offen stehend, sich häufig durch eine Wasserlache auf dem Estrich verratend, blieb dieses primitive Fenster winzig klein, bis einer auf den Gedanken kam, es mit durchscheinender Tierhaut zu überziehen, und als man es endlich mit Glas verschloß und ein Hebelwerk zu beliebigem Öffnen und Schließen ersann, war sein Lebenslauf vollbracht. Noch heute aber lebt es neben den Wandfenstern im südschwedischen Bauernhause und vegetiert es hie und da bei uns auf Hausböden, in Scheunen und Ställen.
Bei Griechen und Römern waren die Fenster des Erdgeschosses hoch oben angebracht, ganz klein und mit durchbrochenen Tonplatten, eisernen Gittern oder beweglichen hölzernen Läden verschlossen, ja, sie gingen zu weiterer Sicherheit meist nicht auf die Straße, sondern auf den Hof hinaus. Die Fenster der oberen Stockwerke waren größer, aber ähnlich gesichert. Gelegentlich verwandte man zum Verschlusse auch dünne Platten eines »durchsichtigen Steins«, also wohl »Marienglas« (Glimmer), das noch heute in Rußland vielfach das Glas ersetzen muß. In Pompeji sind vollends kleine Stücke grünlichen, gegossenen Glases gefunden worden, die offenbar in die tönernen oder hölzernen Gitterrahmen eingelassen waren, und der »christliche Cicero«, der im vierten Jahrhundert lebende Kirchenschriftsteller Lactantius, erwähnt als erster gläserne Fensterscheiben. Daß man so spät erst das Glas zu dem hauptsächlichsten Zwecke verwertete, dem es heute dient, ist eigentlich verwunderlich: verstanden doch schon die alten Ägypter Glas zu erzeugen – nur in ihrem Lande, versicherten sie dem leichtgläubigen griechischen Geographen Strabo, fänden sich die Rohstoffe (Soda und Glassand) zu solcher Fabrikation – und haben sie uns doch wahre Kunstwerke aus Glas (Statuen, Perlen, Edelsteinimitationen usf.) hinterlassen. Nach einer andern Tradition, deren Urheber der jüdische Historiker und Feldherr Flavius Josephus ist, hätten die Juden zuerst diesen Industriezweig erfunden und ausgebeutet, was ersteres bestimmt nur Ausfluß von Lokalpatriotismus ist, was letzteres man aber wohl ohne weiteres annehmen darf, und merkwürdigerweise galten die Juden auch im Mittelalter als die geschicktesten Glasmacher. Ja, sie haben wahrscheinlich das ungefärbte, weißliche Fensterglas erfunden; denn in den zeitgenössischen Berichten über dieses »Bleiglas« wird es stets das »jüdische« genannt, so daß man also den braven Flavius Josephus so etwas wie einen kleinen Propheten nennen könnte.
Aber ich sehe Renate v. Vitzewitz schon spöttisch lächelnd den Zeigefinger erheben: »immer Vortrag, nie Geplauder« – eilen wir also, unsern Vortrag, der hier einmal unvermeidlich schien, zu beenden. Erst im Mittelalter wurde es mehr und mehr Brauch, die Fenster zu verglasen, und zumal die Fenster der Kirchen wurden mit farbigen Gläsern und Bildern aus solchem Glase geschmückt. In Privathäusern kamen Fensterscheiben zuerst in England im Jahre 1180 in Mode, bei uns in Deutschland wurden sie seit dem 14. Jahrhundert gebräuchlicher; bis dahin hatte man die Fenster durch Marienglas, Pergament, Hornscheiben, Tuchstücke und selbst Bretter verschlossen. Noch 1448 trägt Aneas Sylvius Piccolomini, der nachmalige Papst Pius II., in sein Reisetagebuch bewundernd ein: »In alle Fenster der Häuser (Wiens) sind Gläser eingelassen, viele sehr schön bemalt und (was eigentlich, wie man so sagt, »tief blicken« läßt) durch Eisenstäbe gegen Diebe geschützt.« Diese ersten kleinen, in Blei gefaßten Fenstergläser waren kreisrund gegossen – daher der Name » Scheibe«, – noch voller Blasen und Schlieren, grünlich und kaum durchsichtig und trugen in der Mitte eine schlackenartige, klumpige Erhöhung, einen »Butzen«, weshalb man in Nürnberg solche Scheiben » Butzenscheiben« taufte. Mitten zwischen diese einfachen Butzenscheiben aber setzte selbstbewußter Bürgerstolz gern eine bunt bemalte Scheibe mit dem Wappen des Hausherrn, mit seinem und der Eheliebsten Konterfei, mit frommem Spruch und Sinnbild, und damit kam ein frohes Leuchten in das Zimmer:
»Da ward's auf einmal farbig helle,
Geschicht' und Zierat glänzt' in Schnelle,
Bedeutend wirkt' ein edler Schein.«
Zumal in der Schweiz entstand im 16. Jahrhundert die hübsche Sitte, einander solche »Wappenscheiben« zu schenken, zu denen selbst ein Hans Holbein, ein Urs Graf u. a. m. die Bilder entwarfen, und bald blieb kein Bürgerhaus mehr ohne solch Geschenk von Freunden und Verwandten.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Fenstergläser größer und viereckig geschnitten, und um die Mitte des vorigen Säkulums lernte man, diese viereckigen »Scheiben« fabrikmäßig zu schleifen und sogenanntes Spiegelglas dazu zu verwenden. Damit ward es zwar weit lichter im Zimmer, zugleich ging dem Gemach aber auch etwas von seiner Abgeschlossenheit und dem Behagen verloren. Die dem Blicke undurchdringlichen Butzenscheiben hatten gewissermaßen Welt und Wetter ausgesperrt; die großen, klaren Spiegelscheiben öffneten spähender Neugier Tür und Tor. Man sah und wurde gesehen und wollte bald noch mehr sehen und noch besser gesehen werden. So brachte man denn vorm Fenster draußen den das Tun und Lassen, kurzum die Schwächen unsrer lieben Mitmenschen ausspionierenden, drehbaren Spiegel an – wie sagt doch Polzin (wißt ihr, der »Teppichfabrikant« aus »Stine«), der die Menschen akkurat so gut kennt wie Fontane selber, zu seiner Frau: »Emilie, so lange der da ist, so lange vermieten wir« – stellte weiblicher Scharfsinn in wundervoll erdachter Kombination zwischen Sehen und Gesehenwerden – das häuslichere Pendant von einst zum Theaterbesuche der Damen von heute den Nähtisch mit der angefangenen Arbeit an das Fenster. Montaigne fürchtete, seine berühmten »Essais« könnten einmal von Bildungsprotzen »ans Fenster des Besuchszimmers« gelegt werden, und Klöden erzählt uns, wie er als Knabe seine Flöte »schräg in einen Fensterflügel lehnte; denn das war damals (um 1800) in kleinen Städten allgemeine Sitte. Die Flöte war von außen zu sehen und kündete jedem Vorübergehenden an: hier wohnt ein Liebhaber der schönen Künste, somit also ein seltener Vogel. Es schien mir, als ob die Ehre der Stadt dabei interessiert sei, wenn sich möglichst viele Gegenstände der Liebhaberei für Kunst und Wissenschaft an den Fenstern zeigten. »Der Mensch«, fügt der berühmte Historiker in kritischem Rückschauen hinzu, »ist niemals scharfsinniger, als wenn er eine Schwäche vor seinem Gewissen zu rechtfertigen hat.« Was hat nicht der arme, gelähmte Hoffmannsche »Vetter« von seinem »Eckfenster« am Berliner Gendarmenmarkt aus – »das Fenster ist mein Trost; hier ist mir das bunte Leben aufs neue aufgegangen« alles für amüsable und amüsante Geschichten gesehen und erlebt: die mannigfachste Szenerie des bürgerlichen Lebens, und sein Geist, ein wackrer Callot, Hogarth oder Chodowiecki, entwarf dann mit keckem Umriß eine Skizze nach der andern …
Und wiederum: man wollte nicht gesehen werden – der sittliche, von Nächstenliebe erfüllte Mensch hat ja so viele Gründe, sich oftmals zu verbergen – und wie im Theater »fiel die Kurtine über die Szene herab«. Allmählich ward die Gardine – das Wort stammt vom neulateinischen cortina (runder Vorhang) und wurde demgemäß noch im 18. Jahrhundert Gordine geschrieben – eine immer unentbehrlichere Begleiterin des Fensters. Sie verdunkelt so hübsch das Zimmer, fängt reichlich Staub auf, man kann durch geschmacklose, von der Maschine gewebte Stickereien mit ihr prunken (denk an Montaignes »Essais« und die Flöte im Fenster), man kann durch schwere »Lambrequins« noch mehr das Oberlicht absperren und eine wirkliche Lüftung des Zimmers so gut wie unmöglich machen, und so um 1870 herum hat die wildgewordene Tapeziererphantasie das alles ja aufs genialste inszeniert und fertig bekommen. Was eine echte und gerechte Hausfrau ist, hält bis zum heutigen Tage an solcher liebgewonnenen Fensterdekoration getreulich fest; denn echte und gerechte Hausfrauen sind konservativer, als es je ein englischer Hochtory und ein schottischer Laird von Walter Scotts Gnaden waren, und strafen jenes schnöde Wort Vergils: » varium et mutabile semper femina«, es gibt nichts Wankelmütigeres und Launischeres als das Weib, täglich und stündlich Lügen – zum mindesten in solchen Dingen. Immerhin gibt es heute doch auch schon bemerkenswerte Ausnahmen von dieser Generalregel und Fensterverkleidungen, die eine zweckmäßige Lichtdämpfung anstreben, das nun auch bereits häufiger wieder durch enge quadratische Sprossenteilung reizvoll gegliederte Fenster als Raumelement gewissermaßen architektonisch behandeln und an der Farbenstimmung des Zimmers den gebührenden Anteil nehmen.
Und wie viel Geheimnisvolles hat nicht bisweilen das verhangene Fenster? Die Schönste der Schönen verbirgt neidisch hinter ihm dem allzu kecken Tageslichte ihre zärtlichen Reize, ein romantisch-grausiges Verhängnis wird von ihm dem entsetzten Blick verhüllt, und wie mit den » ombres chinoises« von einst spielt sich zur Nacht beim Kerzenschein auch dann und wann die lustigste Policinellikomödie in Schattenrissen auf seinem weißen Leinen ab.
Schon das Fenster als solches hat im Glauben der Völker etwas Magisches: durch seine Öffnung dringen die bösen Geister ins Haus. Darum haben die Alten Kreuzdorn und Löwenmaul ans Fenster gehängt, steckt man in Bayern und Franken noch heute Johanniskrautstauden kreuzweis an die Fensterscheiben, den Gespenstern den Eintritt zu wehren. Um einen Täufling vor frühem Tode zu bewahren, reicht man ihn nach dem Kirchgange der Mutter durchs Fenster ins Zimmer, und wenn jemand gestorben ist, so muß man das Fenster öffnen, daß die Seele daraus ins Freie entweichen kann. Mit Geisterfinger an die Scheibe klopfend, pflegt der Revenant sich zu melden. Die Wilden Afrikas, die in Gespenstersachen ja viel erfahrener und gewitzter sind als wir, kennen freilich ein sehr probates Mittel, der wiederkehrenden Seele solche Belästigung der Hausbewohner unmöglich zu machen. Sie binden nämlich dem Toten die Augen zu und legen ihn auf den Magen, brechen alsdann in die Hütte eine neue Tür- und Fensteröffnung und tragen nunmehr die Leiche, die Füße voran, durch diese neue Pforte, worauf endlich die Öffnung wieder sorgfältig vermauert wird: jetzt mag der gespensternde Tote sich mal beim Zurückkommen zurechtfinden!
Wer weiß nicht, wie heilkräftig der » Fensterschweiß« bei Augenschmerzen und Flechten ist? Zumal wenn man nach ostpreußischem Brauche in letzterem Falle, die kranke Haut damit bestreichend, höflich dreimal »Guten Morgen, Herr Flechte, sei nicht morgen, nur heute« sagt. Leider pflegen unsre Fensterscheiben bei unsrer neumodischen Manie, die verbrauchte Zimmerluft durch Öffnen des Fensters möglichst häufig zu erneuern, und unsre Doppelfenster wohl nicht genügend Fensterschweiß und nicht die rechte Art dieser Medizin zu liefern, weshalb sie immer mehr aus Gebrauch gekommen und durch chemische Substanzen ersetzt worden ist. Wer sie in reinster Essenz kennenlernen will, der muß einmal zur Winterszeit in eine Tiroler Bauernstube gehen, wo den ganzen Winter hindurch kein Fenster geöffnet wird. »Was sich da«, schildert der volkskundige Ludwig v. Hörmann einmal, »aus dem Dampf feuchter Wäsche und Lodentschölder (Joppen), die am heißen Ofen trocknen, aus Speisegeruch und dem Qualm schlechten Tabaks für eine Atmosphäre entwickelt, davon hat ein Städter keinen Begriff; er würde es keine fünf Minuten in der Stube aushalten.«
Und doch – dieses Schwitzen der Scheiben verhilft ihnen eines Tags zu einem Zauber, vor dessen Pracht all die andern magischen Eigenschaften des Fensters verschwinden. Wenn draußen der helle Frost klingt, wenn das Rollen der Wagen wie Salvenfeuer ins Zimmer knattert und die Stimmen der Vorübergehenden wie Glockenschläge hallen, dann ist über Nacht am Fenster ein ganzer Garten voller Eisblumen erblüht, stachlichte wie ein Igelkaktus, zierlich gezackte wie Moos oder Palmenwipfel, eine ganze Landschaft voll phantastischer Herrlichkeiten, pointilliert wie ein Gemälde Segantinis. Mein warmer Atem ertaut mitten darin ein Stellchen. Wie ich ein wenig zurücktrete, fährt Kristall auf Kristall wie Raketen über dem ertauten Felde in die Höhe, ein Strahlenbüschel glitzernder Nadeln, Säulen und allgemach schillernde Quadern. Ich hauche von neuem dagegen, die dünne Eisschicht schmilzt, und da: die erste Nadel wieder. Sie wächst von unten, gleichsam aus dem eisigen Erdreich unsres Zaubergartens auf, droht auf der senkrechten Fläche der Scheibe zu fallen und neigt sich. Jetzt schießt über sie die zweite hin, und wieder das gleiche Spiel des Fallens und Sichneigens: im Fallen hält sie die dritte, die vierte, die fünfte, die zehnte … und nun ist daraus eine Palme geworden mit schön geschwungenen Wedeln und Fiedern, ein Röhricht am See, ein moosiger Waldboden, wie ihn Dürer und Menzel zeichneten, die bizarre Sammlung eines Spitzwegschen Kakteenfreunds … entstanden all die seltsam schönen Formen und Gestalten, die, wie Gottfried Keller einmal malt, dem Werke eines gotischen Baumeisters gleichen, der einen Kreuzgang erbaut und für die hundert Spitzbogen immer neues Maß erfindet. Und wie ich jetzt die Lupe nehme, unsre Wunderblumen näher zu studieren, enthüllt sich dem staunenden Schauen ein neues Wunder: die Mystik der Sechszahl. In all den geheimnisvoll und doch offensichtlich vor unsern Blicken geborenen Nadeln und Quadern und Säulchen birgt sich als Grundform die magische sechsseitige Säule. Nun ja, höre ich in Gedanken den trocknen Wissenschaftler mit seinem »sçavoir pedantesque« des alten Herrn v. Bellay hier bemerken, nun ja: Wasser kristallisiert eben im hexagonalen System, das ist das ganze Wunder von Eisblume wie Schneeflocke; das hat der Astronom Kepler schon vor dreihundert Jahren gewußt und der englische Walfänger und Polarforscher Scoresby in unsrer Zeit gleichsam wiederentdeckt. Als ob damit das Rätsel gelöst wäre! – Was müssen das früher übrigens für herrliche Eisblumengärten in den Zimmern gewesen sein, ehe es die Doppelfenster gab! Als Felix Mendelssohn-Bartholdys Eltern 1825 das Grundstück und Gartenhaus Leipziger Straße 3 in Berlin, das einst den v. d. Reckes gehörte und später zum »Preußischen Herrenhause« wurde, erwarben und auch im Winter bewohnten, »strömten täglich von den gefrorenen Scheiben große Wassermassen, die fortwährend aufgewischt werden mußten«, wie Felixs Schwager Hensel erzählt, und »über eine Zimmertemperatur von 13 Grad kam es im Winter selten«.
»Die Fenster auf, die Herzen auf, geschwinde, geschwinde!« haben wir einst als Kinder in der Schule mit Wilhelm Müllers Liede dem Frühling entgegengejubelt. Es gibt aber auch bedachtsame Gemüter, denen offne Fenster und offne Herzen verpönt erscheinen. »Ich liebe ein offnes Fenster nicht«, bekennt Wilhelm v. Humboldt in einem Frühlingsbrief aus Tegel, »auch nicht im höchsten Sommer in den Stuben, während man sich darin aufhält, und dulde, wenn ich in meinem Arbeitszimmer bin, niemals eines. Beim Arbeiten stört mich die Luft.« Ist das nicht der ganze, immer gemessen sich gerierende Geheime Staatsminister und etwas verstaubte, gelehrte Verfasser der Untersuchung »Über die Kawisprache auf Java« gleichsam in nuce? Und wenns keine offnen Herzen und die entsprechenden offnen Fenster gäbe, was finge dann wohl all das junge Blut dort oben in den Bergen und zumal auf der Alm an, wo's bekanntlich »koa Sünd« gibt? Ja, wenn solches » Fensterln« nicht eben schon recht alter Jugendbrauch wäre, wie hätte Shakespeare wohl jemals »Romeo und Julia« dichten können, jenes rührsame Trauerspiel, dessen gesamten Inhalt die praktische Weisheit des Schnaderhüpfels in die vier Zeilen faßt:
»Der Guggu im Wald
Ist nit jung und nit alt,
Und zwei blutjunge Leut'
Vergaggeln sich bald.«