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2.

.Endlich pfiff die Lokomotive zum letztenmal und der Zug fuhr in den Bahnhof ein; »Station Tennstedt!« rief der Schaffner, indem er die Wagenthür aufriß. Mit herzklopfender Angst bog ich mich hinaus und spähte umher; es standen einige Damen auf dem Perron, aber die eilten eben lebhaft auf ein anderes Coupé zu; verschiedene Herren gingen im Gespräch umher, einer von ihnen trug die Lorgnette im Auge und fixierte mich dreist, aber niemand kam, mich zu suchen, und ängstlich stieg ich aus.

»Gepäck in die Stadt zu bringen, Fräulein?« fragte ein numerierter Kofferträger.

»Ach nein, ich danke,« erwiderte ich, noch immer mich scheu nach rechts und links umsehend, »ich will nach Wendhusen, und –«

»Es ist ein Wagen da von Wendhusen, Fräulein, die Klosterkutsche mit dem alten Gottlieb – gelt, Sie wollen wohl die Wirtschaft lernen? Na, gehen Sie nur da herum ums Haus, und geben Sie den Gepäckzettel, ich bringe schon die Sachen an den Wagen.«

Ich folgte der Weisung und schritt um das Gebäude herum. Ein Hotelwagen rollte eben fort, in eine andere, sehr schöne Equipage stiegen die Damen, die ich vorhin auf dem Perron bemerkt hatte; es stand nur noch ein einziges Gefährt da, eine merkwürdige, durchaus nicht einladend aussehende Kutsche, deren Halbverdeck zurückgeschlagen war und die auf etwas lebensmüden Rädern zu stehen schien. Auf dem Bocke saß ein alter Mann in kerzengerader Haltung, die Zügel mit aller möglichen Kutscherwürde in den Händen haltend; sein brauner Livreerock sah vertragen aus, und die Pferde vor dem Wagen ließen, im Kontrast mit seiner strammen Haltung, die müden Köpfe bis beinahe auf den Boden hängen.

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Ich näherte mich dem Gefährt: »Ist das ein Wagen aus Wendhusen?« fragte ich den Kutscher.

»Jawohl!« erwiderte er, die Mütze abnehmend und eilig vom Bocke steigend. »Verzeihen das gnädige Fräulein, ich glaubte, die Anna wäre auf dem Perron, um Sie herzuführen. Gott weiß, wo sie noch steckt,« fügte er ärgerlich hinzu, indem er den Schlag öffnete. »Bitte, steigen Sie ein, gnädiges Fräulein, sie muß gleich kommen, wollte nur noch eine Besorgung in der Stadt machen für Frau von Niedingen – so lange müssen wir schon warten.«

Ich stieg ein, setzte mich zurecht und wartete. Es war heiß und der Platz vor dem Bahngebäude lag in vollster Sonnenglut. Mein Gepäck war längst auf dem Wagen befestigt, der Kutscher saß längst wieder auf dem Bocke und sah ungeduldig, und den Pferden dann und wann eine Fliege abwehrend, die Chaussee entlang, die zur Stadt führte, aber noch immer kam die Erwartete nicht.

Eine Viertelstunde verrann, dann noch eine; der alte Mann murmelte eine Verwünschung und schien nicht übel Lust zu haben, ohne die »Anna« abzufahren. Ich schloß die Augen vor Mattigkeit, mein Kopf schmerzte ohnehin vom vielen Weinen; endlich hörte ich eine Stimme, und da stand vor dem Wagen eine kleine, dicke Person, fast noch kleiner als ich, in hellem Sommerkleide mit unzähligen Frisuren, und unter dem großen Italiener Strohhut, der reich mit Feldblumen und einem blauen Bande garniert war, sah ein kugelrundes, dunkelrot glühendes Gesicht hervor mit kleinen Augen, die aber augenblicklich auf einen Jungen gerichtet waren, der einen riesigen Karton trug, unter dessen Deckel sich mattrosa Schleifen und ein weißes Mullgewebe hervorschob.

»Barmherziger!« rief sie, »du wirst das ganze Kleid herausfallen lassen, ungeschickter Bengel.« Damit nahm sie den Karton und stellte ihn auf den Rücksitz, so daß ich mich bescheiden aus meiner bequemen Stellung zurückzog und ebenso kerzengerade zu sitzen gezwungen war, wie der Kutscher vor mir, wollt' ich nicht mein schwarzes, verstaubtes Kleid mit dem duftigen Inhalt in Berührung bringen. Dann setzte sich die kleine Person mit einem kurzen »Guten Tag!« neben mich in den Fond und rief, ihre Filethandschuhe abziehend:

»Na, nun fahren Sie aber ein bischen zu, Gottlieb, es ist die höchste Zeit, schon beinahe halb fünf Uhr, und um sechs macht meine Gnädige Toilette; Gott steh' mir bei, wenn wir nicht da sind.«

»Hat sich was,« erwiderte der Alte brummig. »Dazu sind die beiden zu alt« – er deutete mit der Peitsche auf die Pferde –; »warum sind Sie nicht pünktlicher gewesen, das gnädige Fräulein hat schön in der Hitze hier braten müssen.«

»Kann ich etwas dafür, daß der Schneider die Robe nicht fertig hatte?« fragte sie schnippisch, ohne sich im geringsten vor mir zu genieren. »Ich mußte auf das Kleid warten, das war meine Pflicht, und Sie müssen mich zu rechter Zeit nach Hause bringen, das ist Ihre Pflicht.«

»Ich glaub's schon,« nickte der alte Mann, sich zurechtsetzend, »kann's aber nicht ändern; 's hätt' sollen der Friedrich mit der Gnädigen ihren Füchsen hereinkommen, dann konnte sie ihren Firlefanz zur rechten Zeit haben – was nicht geht, geht nicht. Fort!« rief er mit der Zunge schnalzend, und in langsamem Tritt setzten sich die Pferde in Bewegung.

Wie war das schön, zu fahren! Ich vergaß alle Bangigkeit, als wir nun die Höhe der Chaussee erreicht hatten, die steil an einem waldigen Berge emporführte; dort unten schlängelte sich ein kleines, rasches Flüßchen durch saftiges Wiesengrün, und drüben stieg wieder ein bewaldeter Bergrücken empor und hinter diesem hoben sich blaue Berge und Thäler, Berge und Wälder, so weit das Auge sah, in wunderbar üppiger Frische.

Die kleinen Augen unter dem Strohhut blickten mich lächelnd und verwundert an, als ich jetzt ein lautes: »Ach, wie wundervoll!« ausrief; der alte Kutscher aber wendete sich um und das Gesicht strahlte förmlich:

»Gelt, gnädiges Fräulein,« fragte er, »es ist schön bei uns? Und sehen Sie, dort hinter dem hohen Berge, da liegt Wendhusen; es ist ein wahres Stückchen Paradies, das wir hier haben.«

»Ach ja, schön ist es,« pflichtete ich bei und sah empor zu den Wipfeln der Eichen und Buchen, denn wir waren eben in den Wald gelangt.

»Das ist noch gar nichts, gnädiges Fräulein, aber warten Sie nur, wenn wir erst in unseren Forst kommen – solche Bäume haben Sie noch nicht gesehen, lauter Hochwald, da ist dies nichts dagegen,« fügte er, geringschätzig auf den Wald deutend, hinzu. »Ja, unser Herr, der hat seine große Freude an dem Walde, und so im Stande wie bei uns ist er nicht mehr in der ganzen Provinz.«

Und langsam trotteten die Pferde weiter, hinein in die lachende Gegend. »Das ist Flissen,« wandte er sich nach einer Weile wieder zurück, als ein stattliches Schloß aus grünen Baumgipfeln auftauchte, »das gehört dem Baron Stellen; Pr-r-r!« rief er gleich darauf und riß die Pferde hastig zurück, und in demselben Augenblicke flog dicht vor uns aus einer Allee ein leichtes Gefährt und bog ein auf die Landstraße; ein Paar prächtige Füchse zogen spielend einen eleganten kleinen Wagen, und auf dem Bocke saßen zwei Damen. Ich sah einen Moment lang ein junges Gesicht, das aus einer weißen Spitzenumhüllung mich mit gleichgültigen Blicken streifte; von der neben ihr sitzenden Dame, welche die Zügel führte, erhaschte ich nur den Anblick einer Fülle blonden Haares, das auf den Rücken herabfloß, und eines kleinen Hütchens, das auf einem stolz getragenen Kopfe saß; auf dem Hintersitze lehnte ein Diener mit verschränkten Armen. Pfeilschnell flogen sie vor uns her, uns mit einer förmlichen Wolke von Staub überziehend.

»Himmel, meine Gnädige! Na, wenn die nach Hause kommt und findet das Kleid noch nicht – Gottlieb, so fahren Sie doch endlich einmal zu!« rief meine Nachbarin heftig.

»Wie?« unterbrach ich sie verwundert, »das war meine Cousine, Frau von Riedingen?«

»Frau von Riedingen, gewiß,« bestätigte sie mit einem halb mitleidigen Blicke, »sie hat Fräulein von Sielten abgeholt, um sie mit auf die Reunion nach D. zu nehmen; das Fräulein hat keine Eltern mehr und die gnädige Frau nimmt sich ihrer sehr an, und jedenfalls wird« – Sie räusperte sich und schwieg.

Ich schwieg auch. Ja, mir war wieder eine heiße Angst aufgestiegen, als ich die elegante Erscheinung meiner Cousine gesehen, und daneben noch ein anderes Gefühl, das der Beschämung, des Gekränktseins. Mich hatte niemand empfangen, ich wurde in der alten Klosterkutsche abgeholt und saß neben der Kammerjungfer meiner Cousine! Aber freilich, Christiane hatte es ja prophezeit, es werde sich niemand freuen –. Ich fühlte, ich wurde dunkelrot; stolz richtete ich mich im Wagen auf, und »nur ruhig, nur den Kopf oben!« flüsterte ich mir zu. »Wenn das Mama wüßte – wie gut, daß sie es nicht weiß!«

»Dort fängt unser Forst an, gnädiges Fräulein,« rief Gottlieb und zeigte mit der Peitsche auf üppigen Laubwald, »und sehen Sie, dort drüben ragt eine Kuppel aus den Bäumen hervor, das ist das Mausoleum, da liegt, Gott sei es geklagt, unser Herr nun schon lange vierzehn Jahre darin.« Er drehte sich um und nickte mir treuherzig zu. »Ja, ja,« sprach er weiter, »wenn der noch lebte –«

»Sie thäten weit besser daran, etwas rascher zu fahren, als dem Fräulein hier die Gegend zu erklären,« fiel meine Nachbarin hier mit scharfer Stimme ein; »wenn ich zu spät komme mit den Sachen, werde ich sagen, daß Ihre Trödelei schuld gewesen ist.«

Der alte Mann wurde dunkelrot. »Hören Sie, Jungfer Anna,« sagte er mit Nachdruck und wandte sich vollends zu ihr herum, »Sie sprechen mit mir, mit dem alten Kutscher Gottlieb, der den seligen Herrn zwanzig Jahre lang zu dessen Zufriedenheit gefahren hat – ich lasse mir auf meinem Kutscherbocke von keinem einzigen Menschen Vorschriften machen; und wenn ich auch den schlechtesten Wagen fahre, der in der Remise steht, und es die ältesten Pferde sind, die ihn ziehen, darum bin ich doch noch derselbe, der ich immer war, und unter Ihrem Befehle stehe ich nun schon gar nicht, Sie wissen, was ich meine; ich bin hergeschickt, das gnädige Fräulein zu holen, Sie sind bei Gelegenheit mitgefahren und kommen auch bei Gelegenheit wieder mit nach Haus – und damit basta!«

»Ich werde der gnädigen Frau melden, was Sie da schwatzen,« eiferte die Zofe zornesrot.

Der Alte antwortete nicht.

»Und die gnädige Frau wird es dem Herrn erzählen, wie Sie ihren Befehlen nachkommen.«

»Das wäre das beste, was Sie thun können,« murmelte er.

»Ich bitte Sie, Gottlieb, fahren Sie ein wenig rascher,« sagte ich nun; mir wurde jeder Augenblick im Wagen neben der keifenden Nachbarin zur Ewigkeit.

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»Sehr wohl, gnädiges Fräulein,« erwiderte er und trieb die Pferde an.

Wir fuhren bereits in dämmerigen Parkwegen, die kühle Waldesluft hauchte erfrischend an meine brennenden Augen, das Herz aber pochte stürmisch vor Angst und Weh – wie ungemütlich, wie schrecklich war mir zu Mute –. Meine Blicke flogen den Weg entlang, jeden Augenblick konnte das Kloster vor mir auftauchen, in dem ich nun leben sollte; ach, wenn ich in ein wirkliches Kloster gemußt hätte, mir konnte nicht banger sein als in jenem Augenblick. Ein Handwerksbursche kam uns entgegen, er sang eine schwermütige Melodie; beim Näherkommen verstand ich die Worte dazu:

Es thut in der Fremde dem Herzen nicht wohl,
Ich wüßt' schon, wohin ich wandern soll.
Herr Vater, Frau Mutter, du Städtchen im Thal,
Ich grüß' euch, ich grüß' euch, viel tausendmal.

Mein Mädchen, du brauchst zu grämen dich nicht.
Dem Fremdling bringt niemand ein freundlich Gesicht,
Fremd ist er und wird's in der Fremde stets sein;
O Heimat, o Heimat, du Sehnsucht mein!

Er zog den abgetragenen Hut, als er an mir vorüberschritt; es war ein junges Blut – ob er wirklich Heimweh hatte? Solange ich ihn sehen konnte, schaute ich ihm nach, erst Gottliebs Stimme ließ mich den Kopf wieder wenden.

»Dort ist das Kloster,« sagte er und deutete auf hohe, spitzgieblige Dächer, die über die Wipfel der Bäume ragten, »und dort unten leuchtet die Villa durch das Geäst.«

Die Villa – eine Menge von Fragen drängten sich auf meine Lippen, ich wußte doch so gar nichts von den Personen, zu denen ich jetzt treten sollte; Christiane hat mir so wenig von ihnen gesprochen. Nur durch Mamas kurze Andeutungen hatte ich erfahren, daß eine Tante existiert und daß sie zwei Söhne und ebensoviel Töchter habe, von denen die eine bereits verheiratet sei – zu wem sollte ich Vertrauen haben, an wen mich wenden? »Es wird kein Freuen werden, Kindchen, wenn Sie ankommen!« Die Worte Christianes klangen mir immer wieder in den Ohren.

Aeußerlich ruhig sah ich dem näher rückenden weißen Gemäuer entgegen, welches aus üppigem Baumschlag auftauchte; noch eine Biegung, und da lag es vor mir wie ein Wunder aus dem Feenlande, das kleine, reizende Schlößchen. Die Abendsonne umwob es mit rosigem Schimmer und ließ die Marmorgruppen auf Balkon und Treppe fast lebenswarm erscheinen; ein samtgrüner Rasen breitete sich auf dem Platze davor aus, wie schimmernde Edelsteine lagen kleine leuchtende Blumenbeete darauf und umschlossen ein Sandsteinbecken, aus dem ein krystallheller Wasserstrahl emporstieg, dessen Plätschern allein die tiefe Stille unterbrach. Entzückt schaute ich das reizende Gebäude an, das so luftig und leicht dastand mit seinen durchbrochenen Balkons und dem säulengetragenen Vestibüle. Kletterrosen rankten sich üppig um das zierliche Geländer der Veranda, und Hunderte der blaßroten Blüten sandten ihren Duft mir entgegen. So hatte Christiane mir immer die Schlösser in den Feenmärchen beschrieben; wenn Georg das sehen könnte! – Georg! das eine Wort brachte mich wieder in die Wirklichkeit zurück.

Da hielt der Wagen; meine Nachbarin sprang behende heraus und verschwand mit ihrem Karton hinter der hohen Glasthür. Der alte Mann blickte horchend ihr nach.

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»Bleiben Sie sitzen, gnädiges Fräulein,« sagte er, »es wird gleich jemand kommen.«

Einen Augenblick blieb alles ruhig, es kam niemand; entschlossen stieg ich aus.

»Das Gepäck werde ich schon besorgen,« rief der Alte mir nach, dann hörte ich den Wagen fortfahren,

Da stand ich nun allein in dem fremden Hause und wagte nicht, vorwärts zu schreiten; kein Laut, kein Ton drang zu mir. Am liebsten wäre ich dem alten Gottlieb nachgelaufen und hätte ihn gebeten: Fahren Sie mich wieder fort, so weit Ihre müden Pferde gehen können, nur fort aus dem Hause, wo mir niemand ein Willkommen bringt, wo dem mutter- und vaterlosen Mädchen kein liebes Wort entgegengerufen wird. So blieb ich regungslos stehen mitten auf der Treppe, das Herz klopfte mir, daß ich meinte, es hören zu können, und in meiner Blödigkeit wagte ich nicht, weiter zu schreiten. Ein heißes Sehnsuchtsgefühl nach meiner toten Mutter überkam mich, und ein ebenso heißes Verlangen nach meinem kleinen Bruder – die Thränen drängten sich mit aller Gewalt in die Augen.

Da horch! War das nicht ein Schritt, das Rauschen eines Kleides? Ich hielt den Atem an, und richtig, da schimmerte ein Gewand durch das zierliche Bronzegeländer und eine schlanke Mädchengestalt flog die Treppe hinauf, die zu dem obern Stock führte; goldblonde Haare leuchteten einen Moment zu mir herunter, dann war sie verschwunden. Ich hörte, wie sich eine Thür öffnete und schloß, dann war alles wieder still.

Unwillkürlich folgte ich ihr, es war sicher meine Cousine. Ob nur mein Kommen nicht bemerkt worden – ob die Kammerjungfer nicht – –

Da tönten Tritte, ein Diener trug eine Platte mit Selterswasser und Zucker.

»Bitte, melden Sie der Frau von Demphoff, ihre Nichte sei angekommen und wünsche sie zu sprechen,« sagte ich ihm.

»Jawohl!« erwiderte er und schritt, nachdem er einen verwunderten Blick auf mich geworfen, den Gang hinunter und öffnete dort eine Thür. »Darf ich bitten einzutreten, ich werde sogleich der gnädigen Frau – –« Damit verschwand er hinter den dicken, veilchenblauen Vorhängen ins Nebenzimmer.

»Die gnädige Frau läßt bitten!« Er hielt den Vorhang zurück, viel zu hoch für meine kleine Person, und ließ mich eintreten.

Drüben am Schreibtisch, den Rücken mir zugewendet, saß eine Frauengestalt und schrieb eifrig. »Einen Augenblick!« sagte eine scharfe Stimme wie entschuldigend, »ich bin gleich bereit, setzen Sie – setze dich indessen.«

Ich hatte vollständig Muße, mir die elegante Einrichtung des Zimmers anzusehen, das in Vorhängen, Möbelstoffen und Teppichen ebenfalls die veilchenblaue Farbe zeigte. Ueber dem Schreibtische hing in ovalem Rahmen das Brustbild eines jungen Mannes, ein schönes Gesicht mit dunklen Augen und etwas übermütig aufgeworfenen Lippen, die ein keckes Schnurrbärtchen zierte; er trug Kürassieruniform; der weiße Rock sah prächtig aus zu dem frischen Teint. Ueber einer kleinen Chaiselongue, die unter einer Gruppe exotischer Blattpflanzen stand, hing das Pendant zu jenem Bilde; die feinen Spitzen der Palmenwedel reichten eben hinauf zu dem wundervoll gemalten, gelblich-weißen Atlas des Kleides, auf dem eine ganze Flut goldblonder Haare lag; prächtig geformte Schultern hoben sich aus dem gelblichen Stoff, und der Hals trug ein idealschönes Köpfchen, das dem Beschauer mit Halbprofil zugewendet war; ein feines gerades Näschen und große tiefdunkle Augen zeigte es, nur lag hier ein beinahe kindlich-unschuldiges Lächeln um den roten Mund.

Da machte die Schreibende eine Bewegung, sie schob den Sessel zurück und erhob sich; ich ging ihr instinktiv einige Schritt entgegen, ehe ich es wagte, sie anzusehen, und als ich es jetzt that, da traf mich aus einem Paar kalter, grauer Augen ein völlig fremder, gleichgültiger und trotz alledem musternd neugieriger Blick.

Ich weine von Natur nicht leicht, und von jemand bemitleidet zu werden, war mir stets ein peinliches Gefühl; nur die letzten schweren Wochen hatten es verschuldet, daß ich, wie Christiane sich ausdrückte, allzunahe ans Wasser gebaut habe; auch jetzt hingen noch große Tropfen an den Wimpern, aber im Nu hatte ich sie abgewischt, es durften keine neuen kommen – vor diesen kalten Augen hätte ich nicht weinen können, um die Welt nicht; sie sahen genau so aus, als wüßten sie nicht, was Thränen bedeuten, nicht, daß sie Quellen sind, die nur aus tiefstem Leid entspringen. Nein, ihr konnte ich nicht zeigen, wie unglücklich ich war, wie ich litt in der Trauer um meine Mutter, in der Sehnsucht nach Georg, in dem bangen Gefühl des Verlassenseins. Ich preßte die Lippen aufeinander und sah düster zu ihr hinauf.

»Wann bist du gekommen?« fragte sie, indem sie eine Handbewegung nach einem Sessel machte und sich ebenfalls niederließ. Sie saß kerzengerade und die Hände ruhten leicht gefaltet ineinander.

»Vor einer halben Stunde,« erwiderte ich.

»Weshalb kommst du erst jetzt zu mir?«

»Weil sich niemand um mich bekümmert hat und ich nicht wußte, wohin!« drängte es mich auszurufen, ich unterdrückte es aber mit anerkennungswerter Energie; doch ehe ich noch antworten konnte, öffnete sich hastig eine Thür, die blauen Vorhänge flogen auseinander und eine junge Dame trat in das Zimmer. Ich erkannte auf den ersten Blick das Original des Bildes über der Chaiselongue, nur verhüllte augenblicklich den schönen Hals ein langer, spitzenbesetzter Pudermantel, und ein reichgestickter weißer Rock schleppte lang hinterdrein.

»Mamachen!« rief eine sanfte, schmeichelnde Stimme – und auf dem rosigen Gesichtchen lag ein bittendes Schmollen –, »ich muß klagen kommen zu dir, Gottlieb hat die Anna grob behandelt und sie verlangt Genugthuung; willst du nicht Gerhard sagen, daß er ihn zurechtweist?« Sie war bei diesen Worten näher getreten und stand, mir den Rücken zuwendend, vor ihrer Mutter; in den Puffen des blonden Haares blitzte hie und da ein Brillant in leuchtendem Glanze auf, und ein paar frische dunkelrote Rosen hingen wie verloren in den Locken.

»Nicht wahr, liebes Mütterchen,« schmeichelte sie, »du sorgst dafür, daß diesem Grobian seine Unverschämtheit nicht so hingeht? Gerhard ist ja leider nie zu bewegen, dem alten Schleicher ein böses Wort zu sagen; Melanie Stelten ist auch empört, du hast keine Ahnung, wie grob er war. Uebrigens, die Kleine soll ja hier sein, wo hast du sie denn –?«

Im nächsten Augenblick hatte sich das schöne Gesicht mir zugewendet. »Ah, sieh da!« sagte sie gedehnt und die großen, mandelförmigen Augen sahen mich kalt prüfend an. »Nicht einen Zug von den Demphoffs hat sie an sich; sieht sie nicht aus, als käme sie geradeswegs von den Zigeunern, Mama?« fragte sie, mir die Hand reichend und doch die meine kaum erfassend. »Jedenfalls sehen Sie Ihrer Mutter ähnlich, nicht wahr? Oder doch nicht? Denn jene soll ja eine beinahe gefährliche Schönheit –«

»Fernande, weißt du nicht, wo Charlotte ist?« fragte die alte Dame, sie hastig unterbrechend. »Ich habe sie seit Mittag nicht gesehen. Gott weiß, wo sie wieder herumstreicht.«

»Hier bin ich,« lachte eine frische Stimme und die schlanke Mädchengestalt, die ich im Treppenhause flüchtig gesehen, stand im Zimmer. Das sonnigste Lächeln lag auf dem rosigen Gesichte, ein Paar lange, goldig schimmernde Zöpfe fielen auf den Rücken hernieder; man sah es an der Aehnlichkeit, sie waren Schwestern, die beiden, und doch gab es kaum ein Paar verschiedenere Wesen wie sie.

»Ach, die kleine Cousine!« rief sie, noch immer lachend auf mich zueilend. »Willkommen, Lena, so heißt du ja wohl?« fügte sie hinzu, mir beide Hände entgegenstreckend. »Siehst du, ich habe mir deinen Namen wohl gemerkt, als der Brief von deinem Vormund kam; nein, wie bist du klein,« lachte sie und schüttelte den Kopf, daß die Zöpfe flogen.

»Sei nicht kindisch,« ermahnte die Mutter und stand auf; »gehe jetzt und mache Toilette; Melanie von Stelten ist auch schon da, es wird die höchste Zeit.«

»Ich fahre nicht mit, Mama,« erklärte das Mädchen kurz und wandte sich von mir.

»Aber Lotte!« rief die Schwester, »das ist nicht dein Ernst, mein Liebchen.«

»O ja,« beharrte sie; »ich mag mich nicht an einem so schönen Sommerabend in einen glühend heißen Saal sperren lassen, um in der erdrückenden Hitze zu tanzen; Gerhard ist auch meiner Ansicht. Ich gehe lieber noch ein Stündchen im Parke spazieren, das ist angenehmer und gesünder.«

»Da siehst du es, Mama,« rief die junge Frau, »Gerhard ist auch der Ansicht! Wo es gilt, eine verrückte Laune durchzusetzen, beruft sie sich auf ihn – ich meine,« wandte sie sich an das junge Mädchen, »du bist heute genug im Parke herumgestreift und –«

»Und ich verbiete dir diese Streifereien ein für allemal, Charlotte, sobald du weißt, Robert ist hier; es paßt sich nicht für dich, ihr seid keine Kinder mehr,« befahl Frau von Demphoff. »Warst du heute bei Tante Edith?« fragte sie streng, als das junge Gesicht vor ihr, von einer dunklen Röte überflammt, sich senkte.

»Ja!« antwortete sie fest, den Blick wieder hebend, »heute, so wie jeden Tag. Ich kann keinen Grund darin finden, fern zu bleiben, weil Robert kam; wir haben als Kinder stets zusammen gespielt und sind außerdem Cousin und Cousine. Uebrigens ist Robert nicht mehr hier heute abend.« Sie wandte sich hastig um und schritt hinaus.

»Da haben wir's! Was soll daraus werden?« klagte die junge Frau; »immer ist Gerhard auf ihrer Seite, wir sind völlig machtlos, Mama!« Dann blieb sie stehen; aus dem angrenzenden Zimmer klang eine Männerstimme herüber, weich und beschwichtigend, wie man zu einem Kinde spricht:

»Du wirst mitfahren. Kleine, wenn Mama es so sehr wünscht, nicht wahr, Lotte?«

Die junge Frau schritt hinüber in das Zimmer.

»Gott sei Dank, lieber Gerhard,« hörten wir sie sagen, »daß du sie dazu bestimmst – sie hat heute wieder ihr ärgstes Trotzköpfchen aufgesetzt, obgleich sie recht gut weiß, daß man doch nur ihretwegen die strapaziöse Partie unternimmt. Geh, Lottchen, mach Toilette,« bat sie.

»Dein Kleiner ist ja wieder ganz wohl auf, Fernande,« sagte die Männerstimme jetzt, »ich traf ihn eben drüben an den Ställen, er saß, jauchzend vor Freude, auf einem von Gottliebs alten Pferden.«

»Das ist unerhört, das ist empörend! Gerhard, du hast ihn doch hoffentlich heruntergehoben? Mademoiselle ist eine leichtsinnige Person, daß sie es gestattet, den Jungen aufs Pferd setzen zu lassen – wenn er hinunterfällt und unter die Hufe kommt, dann ist's natürlich ein unglücklicher Zufall, weiter nichts!«

Sie sprach rasch und heftig und die weiche Stimme hatte etwas Scharfes bekommen.

»Nein, ich habe ihn nicht heruntergehoben, Gottlieb hielt ihn mit beiden Händen, wie er auch dich als Kind gehalten hat, Fernande, ich erinnerte mich vorhin lebhaft daran,« wurde ihr ruhig entgegnet.

»Ich will es aber nicht, daß der Mensch mein Kind anfaßt; ich habe einmal Mißtrauen gegen ihn, er thut, was er kann, mir zum Aerger; erst vorhin hat er sich grob gegen Anna benommen und ihr erklärt, es sei ihm höchst gleichgültig, ob ich meine Toilette zur rechten Zeit bekäme – oder nicht, und hat sich geweigert, rascher zu fahren.«

»Ich werde mich erkundigen, Ferra,« erwiderte er ruhig.

»O, das ist nicht nötig, wenn ich dir es sage,« schmollte sie; »übrigens, Gerhard,« setzte sie nach kurzem Besinnen hinzu, »wir haben hier ja einen Zeugen –«

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Im nächsten Augenblick lugte das schöne Gesicht der jungen Frau durch die veilchenfarbenen Vorhänge und sah zu mir herüber.

Im nächsten Augenblick lugte das schöne Gesicht der jungen Frau durch die veilchenfarbenen Vorhänge und sah zu mir herüber, die ich noch immer mit Hut und Mäntelchen auf demselben Fleck saß. Meine Tante schrieb schon wieder eifrig und hatte offenbar nicht auf den Wortwechsel der Kinder geachtet.

»Cousinchen,« klang es bittend, »nicht wahr, Gottlieb war unerhört grob zu meiner Anna?«

Ich weiß nicht, wie es kam, in ihren Blicken lag eine so dreiste Aufforderung, die Frage zu bejahen, daß der Abscheu vor der Lüge mich mit aller Gewalt ergriff. »Nein!« sagte ich laut, »Gottlieb ist durch sie gereizt worden, wir haben schrecklich lange auf sie warten müssen, und –«

Der blonde Frauenkopf verschwand und gleich darauf traf ein silberhelles Lachen mein Ohr; Lotte amüsierte sich augenscheinlich kostbar über meine Offenheit.

»Wie? Ist Fräulein von Demphoff mit deiner Kammerjungfer hier angekommen?« fragte jetzt Vetter Gerhards tiefe Stimme. »Wie ging das zu, Ferra, du versprachst mir doch, sie abzuholen?«

»Mein Gott, Gerhard – ja – ich – ich wollte – aber nachher erinnerte ich mich, daß ich Melanie von Stelten versprochen, sie zum Spazierenfahren abzuholen; da ließ ich im Kloster den Gottlieb bestellen, und Anna konnte dann auch gleich mitfahren, ich – sei nicht böse, Gerhard,« schmeichelte sie, »das Kind ist ja auch so heil und ganz hergekommen.«

Er erwiderte nichts; gleich darauf trat ein Herr durch die blauen Vorhänge. Fast hätte ich laut aufgeschrieen vor Staunen und Schreck, so Zug um Zug glich dieser schlanke Mann meinem Vater, wie er mir so deutlich in der Erinnerung lebte; dasselbe üppige blonde Haupt- und Barthaar, dieselben hellen Augen, die suchend nach mir spähten; nur lag ein Hauch krankhafter Blässe auf dem Gesichte, und als er näher schritt, sah ich, daß er etwas gebückt ging.

»Willkommen auf Wendhusen!« sagte er, zu mir tretend und mich augenscheinlich verwundert betrachtend, »aber wie ich sehe, sind Sie noch in Hut und Mantel; verzeihen Sie, die Damen befinden sich schon halb und halb auf der Reunion mit ihren Gedanken; ohne Zweifel hat Mama Ihnen bereits mitgeteilt, daß Sie vorläufig bei Tante Edith wohnen sollen; das Leben hier im Hause möchte Ihrem trauernden Herzen doch nicht wohlthun.«

Ich sah ihn angstvoll an. Wo wollten sie mich nur hinbringen?

Meine Tante wandte sich um. »Ich habe ihr noch nichts mitgeteilt, Gerhard,« sagte sie langsam; »Ferra kam dazwischen mit ihrer Beschwerde, und dann der Brief – es ist gut, daß du es übernimmst. Du wirst müde sein, mein Kind,« wandte sie sich kaltfreundlich zu mir, »es ist das beste, ich lasse dich hinüber bringen.«

»Seit wann ist denn dies beschlossen?« fragte Fernande, die plötzlich wieder im Zimmer stand, »gestern wart ihr ja noch grundverschiedener Ansicht über diesen Punkt?«

»Mama hat meinen Vorschlag heute früh endgültig adoptiert,« versetzte Gerhard gelassen, aber nicht ohne Ironie, »eine junge Dame in Trauer würde dir doch störend sein, Ferra, ganz abgesehen von ihren verletzten Gefühlen.«

»Eine junge Dame!« lachte die schöne Frau. »Aber Gerhard, wo hast du denn deine Augen? Sieh dir doch die Kleine an; ein Kind ist sie, ein richtiges Kind, und ein verzogenes dazu! Puh, was sie für Augen machen kann, wenn sie so von unten herauf sieht; Tante Edith wird ihre Freude haben an dieser Acquisition.«

»Um so besser für sie, wenn sie noch ein Kind ist,« sagte er ruhig und ohne mich bei der Personalbeschreibung anzusehen; »ich hoffe allerdings, daß Tante Edith Freude an ihrer jungen Hausgenossin haben wird.«

»Du hast recht, lieber Gerhard,« fiel sie mit veränderter Stimme ein, die eine leise Ungeduld nicht verkennen ließ; »bringe sie immerhin zu Tante Edith, meinetwegen mag sie sich ebenfalls ein Dutzend Katzen anschaffen, mir soll es recht sein. Ich habe übrigens keine Zeit mehr – du begleitest mich doch nach D.? Melanie fährt auch mit.«

»Es thut mir leid, Schwester, ich fühle mich nicht wohl genug, heute die Anstrengungen eines Ballfestes –«

»Du bist nicht wohl, Gerhard?« unterbrach sie ihn und legte, ihn erschreckt anschauend, die feinen Hände auf seine Schultern. »Liebster, bester Gerhard, warum sagtest du das nicht gleich, ich würde ja selbstverständlich kein Wort von der Reunion erwähnt haben – natürlich bleibe ich zu Hause.«

Er wehrte ungeduldig ab. »Ich bitte dich, Ferra, laß das,« bat er, »du weißt, mir ist diese Teilnahme solch unbedeutender Dinge wegen entschieden unangenehm.«

»Unbedeutend, Gerhard?« fragte sie zärtlich, »nein, ich sehe es jetzt erst, wie krank du aussiehst; bester Gerhard, es ist gar keine Rede mehr von der Reunion, Mama mag mit Lotte und Melanie fahren, ich bleibe bei dir.«

»Ich wünsche es aber nicht,« sagte er kalt, »und als Beweis, daß ich nicht so elend bin, mag dir dienen, daß ich mir den Inspektor herbestellt habe in Rechnungsangelegenheiten. Du würdest mich also nur stören, drum fahre und – amüsiere dich, wenn du kannst. Vor allen Dingen aber,« er schritt zur Thür und faßte den Glockenzug, »muß jetzt auf Fräulein von Demphoff Rücksicht genommen werden.«

»Mama,« wandte er sich an die alte Dame, die wieder eifrig schrieb, »hast du noch etwas anzuordnen in Betreff unseres Gastes?«

»Nein,« entgegnete sie kurz, ohne sich umzuwenden.

»Hast du Joachim mitgeteilt – ich nehme an, dein Schreiben gilt ihm –, daß der Preis des Schweißhundes bedeutend über meinen Etat geht?« fragte er.

»Nein,« erwiderte sie ebenso kurz, »ich werde ihm den Hund kaufen.«

»Du, Mama?« Er sah offenbar unangenehm überrascht zu ihr hinüber. »Schön,« sagte er dann, » mir wäre er zu teuer gewesen.« In diesem Augenblick trat ein sauberes Hausmädchen ein.

»Haben Sie die Güte,« wandte er sich freundlich zu mir, »dem Mädchen zu folgen; Sie werden der Ruhe und Erquickung sehr bedürfen.« Ich erhob mich und sagte meiner Tante adieu.

»Adieu, mein Kind,« erwiderte sie, sich flüchtig nach mir umwendend. Als ich mich dann von der jungen Frau verabschieden wollte, war diese verschwunden. Gerhard begleitete mich bis zur Treppe. »Ich werde mich morgen erkundigen lassen, wie Sie geruht haben, Cousine,« sagte er artig, »vorläufig wünsche ich Ihnen eine erquickende Nacht.«


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