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Wochen waren seit jenem Abend vergangen und für mich hatten sie nur Freude gebracht. Georg war hier und ich sah mit wahrer Seligkeit, wie sein bleiches Gesicht in der frischen Landluft von einem köstlichen Rot der Gesundheit überzogen wurde. Der schöne Junge hatte aller Herzen beinahe im Sturm erobert, selbst Ferra drückte mitunter sein brünettes Gesichtchen mit den südlich dunklen, leuchtenden Augen an ihre rosige Wange und nannte ihn ihren kleinen Pagen. Charlotte aber in ihrer allerliebst boshaften Weise beschuldigte Ferra der Koketterie, sie wisse sehr gut, die bella Ferra, daß neben dem dunkelfarbigen Teint des Knaben ihre zarte blonde Schönheit erst recht zur Geltung gelange.
Ferra ertrug solche kleine Ausfälle mit bewundernswürdiger Sanftmut, das heißt, sie begnügte sich damit, Charlotte enfant terrible zu nennen und dann still zu schweigen, wohl wissend, daß sie bei einem Wortgefecht mit der jungen Schwester doch nur unterliegen würde.
Charlottes gute Laune war im vollsten Maße wiedergekehrt. Ihrem ältlichen Freier hatte Gerhard eine artige, aber entschieden verneinende Antwort zu teil werden lassen: »sie sei noch gar so jung«; und dieser war mit dem empfangenen Korbe für einige Zeit auf Reisen gegangen; allerdings mit der Versicherung, er werde die Hoffnung auf den Besitz der jungen Dame noch nicht aufgeben. Indessen, er war doch vorläufig abgefunden und Charlotte dachte nicht mehr an dieses Schreckgespenst, wie sie ihn nannte. Ferra aber schien seine Hoffnungen zu teilen, denn sie sprach stets mit einer gewissen Vertraulichkeit von ihm, als gehöre er bereits sicher zur Familie.
Bei solchen Gelegenheiten war es geradezu kostbar, Charlotte zu beobachten. Sie hatte eine sehr gelungene Manier, von dem Gespräch scheinbar nichts zu hören, die ungemein komisch wirkte; gewöhnlich sang sie dann leise vor sich hin und fiel gerade in dem Moment, wo Ferra auf dem Höhepunkt ihres Gesprächs angelangt war, mit irgend einer so weit hergeholten Frage oder Bemerkung dazwischen, daß sofort das ganze kunstreich aufgebaute Gesprächsthema ihrer Schwester wie ein Kartenhaus aufs kläglichste zusammenfiel.
In jener Zeit war ich öfter in die Villa gebeten worden, fast immer zu Charlotte. Nur einmal sah ich die Tante Demphoff, als ich mit Georg hinging, um ihr den kleinen Burschen vorzustellen. Ich hatte Mühe, ihn mitzubekommen, denn er fand in seiner Kinderlogik es durchaus nicht für nötig, der bösen Tante, die Mama nicht leiden konnte, guten Tag zu sagen. »Sie hat hier ja gar nichts zu befehlen, Lena,« bestürmte er mich, »es gehört alles Vetter Gerhard – ich will nicht zu ihr.«
»Du mußt, sonst würdest du den Vetter betrüben,« sagte ich; und da er mit einer wahren Leidenschaftlichkeit an Gerhard hing und dieser den Knaben beinahe nicht von sich ließ, so daß ich fast eifersüchtig wurde, gelang es mir, ihn hinzuführen. Es war merkwürdig zu sehen, wie das Kind und die hohe, strenge Frauengestalt sich gegenüberstanden. Das bräunliche Gesicht des Jungen war bleich geworden, die kleinen Hände hatten sich heimlich zu Fäusten geballt und unter den langen Wimpern hervor sahen seine Augen mit einem unnachahmlichen Gemisch von Geringschätzung und kindlicher Neugierde empor.
»Georg wollte guten Tag sagen,« stammelte ich schüchtern. Das kalte Gesicht vor uns versteinerte förmlich in Unnahbarkeit. Es war dasselbe Zimmer, in dem ich sie zuerst gesehen, und dasselbe Gefühl ertötender Kälte stieg wieder in mir empor.
Sie antwortete nicht; ihr Blick war fast durchdringend auf das Knabengesicht vor ihr geheftet. »Wie heißt du?« fragte sie dann.
»Georg von Demphoff,« antwortete er.
»Wie alt bist du?«
»Acht Jahre.«
Dann schritt sie zur Klingel und befahl dem eintretenden Diener, im Nebenzimmer Limonade und Kuchen aufzusetzen und Fräulein Charlotte von unserem Hiersein zu benachrichtigen, ersuchte uns, in besagtes Nebenzimmer zu treten und verabschiedete sich mit der Bemerkung, Charlotte werde uns Gesellschaft leisten. Dort hätte ich Georg indessen nicht mit zehn Pferden halten können; er stürmte zur Thür hinaus und verschwand sans façon in Gerhards Zimmer, weil dieser ihm gesagt habe, er solle mit in die Felder fahren.
Charlotte, die dies mit angesehen, wollte sich tot lachen und erklärte auf meine Verwunderung über die Ortskenntnis des Jungen, daß Gerhard ihn bereits am ersten Tage seines Hierseins mit in die Villa genommen habe, und nun komme der kleine Bursche beinahe jeden Tag.
»Mama scheint ja mit ihrer süßen Bewirtung gänzlich abgefallen zu sein,« schloß sie dann, den Kuchen betrachtend. »Das wird sie gewiß recht wundern, Joachim leckte stets jedes Krümelchen auf. – A propos, in einiger Zeit kommt er mit einem halben Dutzend Kameraden zur Jagd, da gibt's Leben drüben im alten Kloster, denn die ganze Gesellschaft wird dort logieren, hier wäre ja kein Platz – und Ferras Nerven, o Himmel!«
Zu dieser Jagd stand aber noch etwas bevor, und zwar erwartete Tante Edith ihren Sohn; er kam zum erstenmal in seiner jungen Oberförsterwürde. Und Tantes stille Seligkeit, mit der sie schon lange vorher Vorbereitungen zum Empfange ihres Lieblings traf, war rührend anzusehen; sie nahm selbst nicht übel, als Charlotte zur Erhöhung der Feier dieses Ereignisses sämtlichen Katzen scharlachrote Halsbänder verfertigt hatte, an denen je ein Glöckchen hing, daß es bei einer Anprobe dieses Schmuckes zu einem fürchterlichen Gebimmel, Miauen und Durcheinanderspringen der Tiere kam. Nur der alte Gottlieb, der zufällig durchs Zimmer ging, brummte unwirsch, als wir uns gar so himmlisch über diesen Anblick amüsierten, und wir hörten ihn zur Tante sagen: »Gnädige Frau, es ist mir immer, als ob wir in unseren jungen Jahren nicht gar so närrisch und kindisch gewesen wären, wie heutzutage die jungen Leute sind. Nun hören Sie nur!«
»Ei, Gottlieb, das habt Ihr vergessen!« antwortete Tante Edith freundlich. »Ihr wißt doch, ein Junge muß sieben Jahre narren, und wenn er eine einzige Stunde davon versäumt, muß er wieder von vorn anfangen.«
Aber der Alte blieb dabei. »Ne, ne, heutzutage ist alles anders«; er hätte den Schnabel nur aufthun dürfen, wenn sein Vater nieste; dann habe er »Gott helf« gesagt; worauf natürlich Charlotte sofort laut nieste, und der alte Mann mit unerschütterlicher Ernsthaftigkeit sein »Gott helf, gnädiges Fräulein!« hinüberrief, ohne die neckische Absicht zu merken.
Gerhard kam zuweilen zu Tante Edith und hatte sich sogar nach jenem Abende, als ich mir so ungeschickt den Fuß verstauchte, selbst nach meinem Befinden erkundigt; der rote Malvenkranz aber, den ich so ärgerlich fortgeworfen, und den ich hinterher so gern wiedergehabt hätte, der war verschwunden und Tante konnte sich in ihrer Zerstreutheit nicht besinnen, wo sie ihn hingethan; er wäre gewiß von Jette mit ausgefegt worden, meinte sie.
Georgs Ferienzeit näherte sich indessen unaufhaltsam ihrem Ende. Er hatte uns so lange gebeten, bis ihm noch zwei Tage zugestanden wurden, weil Vetter Gerhards Geburtstag sei, wie er mir verriet; er solle es aber eigentlich nicht sagen.
»Lena, was schenken wir ihm denn?« fragte er mich. Ja, was denn? Daß wir etwas schenken, war natürlich; Gerhard that so viel für uns, hatte uns beiden so schöne Tage verschafft, und Georg prangte in einem nagelneuen Anzug, »um den ihn die ganze Klasse beneiden und die Frau Doktor und Christiane die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würden, wenn er wiederkam«. – Wir gingen in mein Zimmer und zählten meine kleine Barschaft; es waren nach damaligem Gelde zwanzig Gutegroschen, die ich wie ein Geizhals gehütet hatte, um für Georg zu Weihnachten etwas kaufen zu können. Aber das war gleichgültig, hier mußte Georg zurückstehen, und der kleine, selbstlose Junge war auch sofort bereit dazu.
»Aber nun was, Lena?« fragte er. Ja, was? Ich sann und sann, und endlich hatte ich es heraus. »Für das Geld kaufen wir Wolle, Georg, und ich stricke ihm einen Shawl – Cousine Ferra sagt ja immer, daß er am Halse leidet, und da wird er ihm willkommen sein.« Dieser Vorschlag hatte natürlich Georgs Beifall und so mußte denn die Botenfrau heimlich Wolle aus der Stadt mitbringen, und auf meinem Lieblingsplätzchen im Klostergarten strickte ich mit wahrem Feuereifer ein langes, warmes Geburtstagspräsent, während Georgs große Augen das Wachstum mit Interesse und Spannung verfolgten.
Die kleine Scene bei Ueberreichung des Geschenkes gehört mit zu meinen liebsten Erinnerungen.
Als ich es nämlich fertig hatte und Georg einprägen wollte, mit welchen Worten er es dem Vetter Gerhard übergeben sollte, legte dieser die Hände auf den Rücken und erklärte rundweg, er habe den Shawl nicht gestrickt und auch das Geld nicht gegeben, und also auch kein Recht, ihn zu verschenken. Alles Schmeicheln, Bitten und Zureden, ihn in seinem Entschluß wankend zu machen, war vergeblich, und so mußte ich mich denn entschließen, falls ich den Shawl nicht behalten wollte, den feierlichen Akt selbst zu übernehmen.
»O, lieber Gott, laß es doch morgen recht, recht kalt sein,« betete ich am Abend zuvor, damit für die Nützlichkeit meines Geschenkes doch gleich der praktische Beweis vorhanden sei. Und richtig, es erschien ein so windiger, naßkalter Septembertag, daß wir in unseren kühlen Zimmern vor Kälte bebten. Georg war glücklich darüber, und so stand er den ganzen Morgen am Fenster, um aufzupassen, wann Vetter Gerhard komme, denn dieser hatte ihm erzählt, er wolle sich die Zimmer für die Jagdgäste ansehen.
Während ich indessen saß und grübelte, was ich wohl bei Ueberreichung meines Shawls sagen könnte, rief Georg plötzlich: »Lena, er kommt und hat keinen Shawl, er kommt!« Und im nächsten Augenblick lief ich auch schon den Korridor entlang, im Arm das weiche Präsent, und lehnte mich über das Geländer der Treppe. Als ich ihn aber heraufkommen sah, fing mein Herz ganz gewaltig an zu klopfen, und ich flüchtete mich schleunigst wieder aus dem hellen Treppenhause in den dunklen Korridor. Dort blieb ich stehen und machte wahrscheinlich ein so gottsjämmerliches Gesicht, als ob ich ihm statt eines Glückwunsches eine große Hiobspost zu verkünden hätte. Er sah mich aber erst, als er dicht vor mir stand, und über sein ernstes Gesicht flog ein freundliches Lächeln.
»Lieber Vetter, ich wollte – ich möchte zum Geburtstage gratulieren,« stammelte ich, »und Georg und ich – möchten Ihnen diesen Shawl schenken, wenn es windig und kalt ist – –«
»O, wie danke ich Ihnen, Cousinchen!« rief er herzlich und erfaßte meine Hände. »Das ist ja eine unerwartete Freude heute früh. Aber nun binden Sie mir den Shawl auch um, es ist gerade solch ein Wetter, daß man ihn gut gebrauchen kann.« Er bückte sich noch tiefer, und glückselig schlang ich ihm das weiche Gewebe um den Hals.
»O, wie prächtig!« sagte er, »und tausendmal Dank.« Und dann beugte er sich wieder herunter und seine Augen sahen mit dem nämlichen beredten Ausdruck in die meinen, wie damals, als er mich die Treppe hinauftrug. Aber nur einen Moment, denn durch den Korridor kam es in vollstem Lauf gestürmt, und Georg hing küssend und jauchzend an seinem Halse.
»Die Lena hat dir etwas vorgelogen!« rief er; »sie hat den Shawl ganz allein geschenkt von ihrem Gelde, und im Klostergarten hat sie ihn gestrickt!«
»Sei doch ruhig!« schalt ich böse; aber Vetter Gerhard nahm den kleinen Verräter auf den Arm und küßte ihn, und dann setzte er ihn auf seine Schultern; ein Ende des neuen Shawls wurde als Zügel benutzt, und fort ging es den Korridor hinunter bis vor Tante Ediths Stubenthür, wie die wilde Jagd.
Und dann mußte Tante Edith gebührend das Geburtstagsgeschenk bewundern, die gar nicht begreifen konnte, wo und wann ich es gearbeitet habe. Und als wir abends zu Bette gingen, da sagte Georg: »Weißt du, Lena, allen hat unser Shawl gefallen, nur Cousine Ferra nicht.«
»O bewahre, Georg.«
»Freilich, ich habe es ja gesehen; als Vetter Gerhard den Shawl ganz in Gedanken umbehielt in seinem Zimmer, da fragte sie ihn, was er da für ein ordinäres graues Ding trage? Da habe ich ihr aber gesagt, daß du es gestrickt hättest, und daß es etwas sehr Schönes sei.«
»Und was that Gerhard?« fragte ich mit einem unerklärlich bangen Gefühl.
»Ja, Lena, das hab' ich vergessen.«