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Und so saßen sie wieder einmal zusammen in gewohnter schweigsamer Weise. Charlotte war vor kurzem herübergekommen, sie hatte sich verspätet; Tante Demphoff war verreist gewesen und erst vor wenigen Stunden zurückgekehrt; Charlotte aber schien aufgeregt, und auf ihren Wangen brannten zwei große rote Flecke.
»Gerhard geht gleich nach Weihnachten nach dem Süden, der Arzt wünscht es,« sprach sie nach einem Weilchen tiefen Stillschweigens, während sie hastig in dem großen Arbeitskorbe herumwühlte, ohne ein Stück zur Hand zu nehmen, »und ich soll mit; o mein Gott, ich kann nicht fort von hier!« Sie brach in Thränen aus und kauerte sich zu Tantes Füßen nieder.
»Doch, Kind, doch, geh mit; du bist so jung, da kann die Welt, die schöne Welt noch helfen.«
»Tante, ich kann nicht!« schrie sie beinahe auf. »Denkst du denn, ich vergäße einen Moment, daß ich Robert verloren habe? Glaubst du denn nicht, daß mich jedes Schöne, das meine Augen sehen müssen, doppelt mahnt, wie es für mich kein Glück mehr auf der Erde gibt? Ach, wenn ich doch lange, lange gestorben wäre! Nun soll ich leben, einen Tag nach dem andern, immerzu, immerzu, ohne – –«
Sie schwieg. Es war die erste leidenschaftliche Klage, die ich von ihren Lippen hörte. Die alte Frau hatte Charlottes Hände ergriffen, aber sie sah nicht zu ihr hinunter; ihr Mund war fest aufeinander gepreßt und ein unsäglich bitterer Ausdruck lag auf dem feinen Gesicht.
»Wenn ich euch helfen könnte, arme Kinder, mein Herzblut gäbe ich her,« murmelte sie, »und sollte ich noch einmal all die Jahre voll Qual durchleben – ich thät's, wenn ich sie euch dadurch ersparte!«
»Ja, du hast recht,« sagte Charlotte leise, »es ist eine Qual, dieses Leben, nachdem ich gewußt, wie unsagbar schön es sein kann; aber diese Qual, Tante, sie kann nicht zu lange dauern – ich meine, es muß bald einmal ein Ende sein.«
Die alte Dame lachte ironisch. »Es stirbt sich nicht so rasch, mein Kind; ja, das wäre wohl leicht und schön; aber so gut hat es mir der liebe Gott nicht gemacht, den sie den Gerechten nennen. Sieh mich an; vor vierundzwanzig Jahren, da hätt' ich auch schon sterben mögen; es waren Tage, wo ich mir an jedem einzelnen den Tod herbeiwünschte; aber immer weiter ging es, und nach jedem Tage kam die Nacht, und dann wieder ein Tag bis heute – nein, nein, mein Kind, es ist noch lange nicht zu Ende, und – du bist noch jung!«
Sie hatte tief gereizt gesprochen; jetzt hielt sie inne und legte ihre Hand auf Charlottes Arm. »Du bist noch jung, Charlotte,« wiederholte sie mit verändertem, weichem Tone, »und ich bin alt und bitter; du kannst noch tausend glückliche Stunden erleben, nicht jedem folgt das Unglück so wie mir.«
»Ich will kein Glück!« rief Charlotte heftig. Sie stand plötzlich hoch aufgerichtet, der Kopf war zurückgebogen und unheimlich sprühend sahen ihre Augen unter den langen Wimpern hervor; dann schlug sie die Hände vor das Gesicht. »Was sollte es mir denn allein?« stieß sie hervor. Tante Edith aber war aufgesprungen, ein unsägliches Erbarmen lag auf ihrem alten Gesichte; es war, als ob die letzten Worte des Mädchens sie aufgerüttelt hätten aus ihrem Schmerz, ihr ein junges, tief zerrissenes Gemüt zeigend, das ohne einen Trost, ohne liebevolle Stütze sich selbst verlieren mußte.
»Charlotte!« Sie zog das Mädchen an sich, aber wie sie auch nach Worten suchte, sie wußte nichts zu sagen; ich sah nur, wie ihre Lippen bebten und wie ihre zitternden Hände über den blonden Scheitel strichen. Unwillkürlich langte sie dann nach ihrem Nähtischchen und ergriff das Neue Testament, in dem sie sonst jeden Tag zu lesen pflegte und das sie nicht aufgeschlagen seit jener Unglücksstunde; und als ich diese Bewegung sah, da wurde es mir leicht ums Herz mit einemmal, denn daß das tief gottesfürchtige Gemüt Tante Ediths sich so kalt und fest gegen jenen Trost verschlossen hatte, war mir fast unheimlich gewesen. Aber im selbigen Moment glitten ihre Finger wieder ab von dem kleinen, schwarzen Buche, und die Hände streckten sich wie abwehrend nach der Thür aus. Freilich, sie mochte wohl glauben, eine Erscheinung zu sehen, denn dort stand düster, schwarz, gespensterhaft unheimlich – Tante Demphoff –!
Was wollte sie? Wie kam sie hierher? Auch Charlotte, welche Tantes heftige Bewegung aufgeschreckt hatte, sah starr in die vergrämten Züge ihrer Mutter; dann trat sie vor Tante Edith, als wolle sie diese den suchenden Blicken der großen Frauengestalt entziehen. Jene ging mit unsicheren Schritten an Charlotte vorüber und streckte Tante Edith die Hand entgegen.
»Ich komme, um in etwas meine harten Worte gut zu machen, die ich zu dir sprach, als dein Sohn den meinen erschossen hatte,« begann sie mit ihrer spröden, harten Stimme ohne weitere Umschweife, und ließ die Hand sinken, die nicht erfaßt wurde; »indessen, ich sollte meinen, in einer solchen Schreckensstunde legt man die Worte just nicht auf die Goldwage –. Ich weiß jetzt, daß dein Sohn nur gezwungen das Duell annahm, ich weiß, wie fern es ihm lag, mir dieses Leid anzuthun, weiß, daß nur ein unglücklicher Zufall – – und deshalb –« sie hielt inne und schöpfte tief Atem; »und deshalb,« begann sie wieder, »war ich jetzt in B. und habe Se. Majestät um Roberts Begnadigung gebeten; Robert ist bereits unterwegs nach Fölkerode oder reist morgen aus E. ab. Ich hoffe, ich habe dir bewiesen, daß ich ein Unrecht wohl einzusehen im stande bin, Edith – ich – bitte dich noch einmal wegen jener harten Worte um Verzeihung: es soll nicht heißen, daß ich ungerecht gewesen bin –«
Tante Edith regte sich nicht. »Ich danke dir, Therese,« sagte sie dann, und ihre Stimme klang beinahe so hart als die, die eben verstummte. »Es ist rührend, daß eine Mutter für den Mörder ihres Sohnes bittet, und daß du hierher kommst, es mir zu sagen, ist eine Ueberwindung deiner selbst – –«
»Die du nicht erwartet hast,« vollendete Frau von Demphoff und um ihre Lippen zuckte es.
»Allerdings nicht, Therese, denn es sind dreiundzwanzig Jahre, seit dein Fuß nicht über diese Schwelle gekommen, und bis heute weiß ich noch nicht, was ich dir gethan, weshalb du mich gemieden, als sei ich eine Ausgestoßene? Vergib mir, wenn ich dir nicht danken kann, wie ich es wohl sollte, aber die Worte wollen nicht über meine Lippen. Neulich, als dein Lieblingssohn dort bleich und blutig lag, da waren alle diese Jahre wie ausgelöscht aus meiner Seele, da war mein Herz weich, war ich noch fähig, Liebe zu geben und Verzeihung – heute ist es vorbei, ich habe einen Stein in der Brust, und – – und machtest du mir heute noch einmal das Herz meines Kindes abwendig, wie vor Jahren, ich würde es nicht merken, denn ich fühle nichts mehr!«
Es war, als ob die alte Dame gewachsen sei bei diesen Worten, so imponierend stand sie vor der großen Gestalt der Schwägerin. »O, wie mich das freut, Therese,« fuhr sie fort, »es dir heute sagen zu können; lange, lange habe ich mich danach gesehnt! Ich bin namenlos unglücklich gewesen und du warst diejenige, welche die meiste Schuld daran trug; du hast mich aus meinem Vaterhause getrieben, bei Nacht und Nebel habe ich es verlassen müssen wie eine Ehrvergessene: du hast mir die Zeit meiner Witwenjahre zu der entsetzlichsten gemacht, du hast es dahin gebracht, daß mein Bruder sich von mir abgewendet, du, und immer nur du –«
»Tante! Tante!« rief Charlotte und ergriff den ausgestreckten Arm der alten Dame. »Mama hat es gut gemeint, liebe Tante!«
Frau von Demphoff hatte mit keiner Wimper gezuckt, ihre große, weiße Hand lag ruhig auf der Lehne eines Sessels. »Geh hinaus, Charlotte!« gebot sie; ihre Augen schweiften wie suchend durch das Zimmer und blieben an mir hangen, die ich angsterfüllt hinter der Gardine des nächsten Fensters kauerte. »Nimm sie mit!« rief sie hart und deutete auf mich. Instinktmäßig erhob ich mich und schritt scheu an der großen Frauengestalt vorüber, deren finstere Blicke mir folgten, bis sich die Thür hinter mir und Charlotte schloß.
Da saßen wir in Tantes Schlafzimmer und wagten kaum zu flüstern, und Charlottes Blicke hasteten weit geöffnet und angstvoll an der hohen, braunen Thür, durch die wir eben getreten. Im Anfang verstanden wir nichts von dem, was drinnen gesprochen wurde, Tante Ediths zarte Stimme klang wohl herüber, doch die Worte verhallten undeutlich. Aber dann erscholl es gewaltig und laut, jenes spröde, kalte Organ, das ich förmlich fürchtete. Charlotte sprang auf und schritt zur Thür, aber die Hände sanken ihr hinunter und blasser noch als sonst wandte sie ihr Gesicht ab. Unwillkürlich war ich ihr näher getreten und nun drang jedes Wort auch in mein Ohr.
»Ich habe ihn geliebt; – wie sehr – das weiß nur ich allein; er übersah mich deinetwegen. Weißt du wohl, was Eifersucht ist? Du kannst es nicht wissen, ich aber habe sie durchgekostet, ich kenne jene Qual, sie ist schlimmer als Wahnsinn! Ich gehörte nie zu denen, die einen Mann lieben, um ihn über den Nächsten zu vergessen; der uns Herz und Hand bietet, und dann einen Eid darauf zu schwören, dieser, und nur dieser sei ihre einzige, erste Liebe gewesen: ich war kein solches tändelndes Geschöpf; was ich einmal erfaßte, das hielt ich fest. Berka hatte sich wenig um mich bekümmert, aber ich hatte ihn nun einmal lieb, und diese Liebe, je weniger er mich beachtete, wuchs bis ins Unendliche. Und trotzdem verlobte ich mich, trotzdem heiratete ich; ich meinte, stark genug zu sein, es wagen zu können, und stolz genug; es sollte auch niemand erfahren, daß ich so lächerlich sei, ohne Gegenliebe. – – Ich gab mir Mühe, ich fing an zu vergessen – bis ich dich mit ihm zusammen sah. Da packte mich jene unselige Leidenschaft, und sie hat mich nicht verlassen, selbst nach seinem Tode nicht. Ich hätte dich nicht sehen können, Edith, ohne meine Fassung zu verlieren, ich weiß nicht, wer die Beklagenswertere gewesen, ich oder du? Ja, wende dich nur von mir, du warst ja stets der Inbegriff aller Tugenden, und du faßt es nicht, daß die Frau, die das Herz des besten, edelsten Menschen besaß, ihm untreu war mit jedem Gedanken. Ich weiß selbst nicht, wie es geschah; wer heißt ein solches Weh kommen? Ich habe mit mir gerungen und gekämpft im ewigen Zwiespalt; ich habe gebetet, Gott möge mir helfen, die unglückselige Neigung zu überwinden – umsonst – umsonst; sie ließ mich nicht, sie trieb mich sogar, dein Kind ans Herz zu nehmen und es mit Zärtlichkeit zu überschütten, die meine Kinder nicht kannten.«
Es war still geworden da drinnen; man vernahm weiter nichts als das leise, hastige Ticken der kleinen Uhr neben Tantes Bett. Ich sah, wie um Verständnis bittend, zu Charlotte empor – war das die kalte, herzlose Frau, die jene Worte sprach, aus denen es so schwül herüberwehte wie ein heißer, versengender Hauch?
»Ich wollte Frieden haben, Edith, um jeden Preis,« fuhr sie fort, »ich fing es verkehrt an; ich wollte dich nicht mehr sehen und Robert nicht mehr, und ich wurde hart gegen alle Menschen. Musterhaft war alles in meinem Hause, aber kalt, so kalt; mich fror am meisten dabei, und mein Mann und die Kinder froren; und doch habe ich keine Pflicht versäumt, habe sie lieb gehabt – ich merkte es jetzt so recht, da Joachim mir verloren ging.«
Wieder schwieg sie und aus Tante Ediths Stimme klang es wie Weinen; sie sprach lange, lange; zuweilen wurde ein Wort dazwischen geredet, das klang fast bittend und weich.
»– – Weil ich sie ebenso verabscheute, wie dich,« sprach Tante Demphoff jetzt wieder. »Bevor sie kam, hatte niemals mein Mann über mich geklagt, hatte vielleicht nicht gewußt, daß es anders sein könne zwischen uns – da sah er des Bruders junges Glück.«
»O, wie ich dieses Ineinanderaufgehen der beiden haßte. Sie sahen nur sich, und was der eine sagte, that der andere; und da schien es mir, als richteten sich die Augen meines Mannes öfter als nötig war auf dieses schöne, junge Weib, und als schweiften sie von dort vorwurfsvoll zu mir herüber. O, ich wußte, daß er einen Maßstab anlegte; nie war solch ein Sonnenschein in unserem Hause gewesen, wie er über jene beiden ausgegossen lag. Und meine Ahnung trog nicht. Es kam zu der ersten leidenschaftlichen Scene zwischen ihm und mir, ich weiß es noch wie heute; ich war finsterer wie je und stach deshalb wohl doppelt ab gegen jenes schöne, elfenhafte Wesen. Da war es so natürlich, daß er mir den ersten leisen Vorwurf machte wegen meiner Kälte und Unfreundlichkeit, und mir wie im Scherz dieses, keines ernsthaften Gedankens fähige, sorglose Geschöpf als das nachahmungswerte Beispiel einer Frau hinstellte, die es in Wahrheit verstände, ihren Mann glücklich zu machen!
»Wie mich das kränkte, wie mir das jeden Blutstropfen zu Eis gefrieren machte! Ich fand mich und meine Pflichttreue unerhört beleidigt, und ich fühlte dies um so tiefer, da ich mir sagte, ich vermöchte mich nie zu ändern. Und wie mit Geierkrallen faßte mich die Angst, ich könne auch das verlieren, was mir das Leben allein noch wert machte, die Liebe meines Mannes! Ich sah vielleicht zu schwarz damals, aber die Art und Weise, mit der jenes kokette Geschöpf vor seinen ernsten Augen umhergaukelte, mit der er auf ihre Neckereien einging, brachte mich außer mir, und dann – – das andere weißt du –«
Da zog mich Charlotte hastig fort, durch die geöffnete Thür meines Zimmers. »Geh, Lena, geh,« sagte sie und drückte mich fast gewaltsam in das altmodische Sofa. Ich wußte damals nicht, weshalb sie mich forthaben wollte, ich hatte nichts von dem begriffen, was sie gesprochen, nicht gemerkt, daß zuletzt mit dem eitlen, koketten Geschöpf meine Mutter gemeint sei, meine Mutter, in der ich alles das verehrte, was nur auf Erden eine edle Frau schmücken konnte. Wie hätte ich überhaupt einen klaren Gedanken fassen können? Mit tausend Gewalten packte mich der kurze Abriß jenes Frauenlebens! Alle diese Leiden, diese Irrtümer sollten aus dem entspringen können, was die Menschen Liebe nennen? Aus der Liebe, die ich mir als das Wunderbarste, Seligste im ganzen Menschenleben vorstellte?
Dort saß Charlotte; was war aus ihr geworden, dem lebensfrohen Mädchen? Wäre sie nicht tausendmal glücklicher, wenn sie Robert nicht geliebt – und – da drinnen jene beiden?
»Charlotte,« fragte ich und trat zu ihr, »Charlotte, möchtest du nicht lieber, daß du Robert Berka nie gekannt hättest?«
Sie wandte den Kopf und sah mich an; es war ein blitzähnliches Aufleuchten in den blauen Augen, fast wie früher. »O, Kind, wie du fragst!« erwiderte sie und eine wahre Rosenglut überzog das bleiche Gesicht, »was finge ich an ohne jene Erinnerung? Ich hätte ja dann niemals gewußt, wie schön das Leben sein kann –!«
Das war unlogisch von Charlotte. Ich wollte erwidern: »Dann brauchst du jene Erinnerung nicht, dann bist du ja nicht unglücklich.« Aber ich schwieg; es lag etwas in ihrer Antwort, das mich verstummen ließ. Und so blieb es still zwischen uns, bis sich die Dämmerung durch die hohen Fenster schlich. Dann stand Charlotte auf und ging in Tantes Zimmer, und als ich nach einer langen Zeit schüchtern um die Thür zu sehen wagte, da saß Tante Edith allein vor dem Sofatische, die Lampe brannte und warf ihren Schein voll auf ein verweintes Gesicht, und vor ihr lag das kleine schwarze Buch.
»Es thut gut, solch ein Weinen, Lena,« sagte sie aufstehend, »aber die Augen brennen davon, das Sehen geht nicht; setze dich her, Kind, und lies.« Sie bezeichnete mir eine Stelle und lehnte sich zurück. Es war der 77. Psalm, und ich begann laut zu lesen:
»Ich schreie mit meiner Stimme zu Gott, zu Gott schreie ich, und er erhöret mich.
»In der Zeit meiner Not suche ich den Herrn; meine Hand ist des Nachts ausgereckt und läßt nicht ab, denn meine Seele will sich nicht trösten lassen.
»Ich denke der alten Zeit der vorigen Jahre. Wird denn der Herr ewiglich verstoßen und keine Gnade mehr zeigen?«
Da legte sich ihre Hand auf das Buch. »Halt ein, Lena.« Und wieder nach einer Pause fragte sie: »Wie heißt der vierzehnte Vers?«
»Gott, dein Weg ist heilig,« las ich. »Wer ist ein so mächtiger Gott, als du, Gott, bist? Du bist der Gott, der Wunder thut.«
Da nickte sie und faltete die Hände. »Amen!« unterbrach sie mich laut.
»Wer hätte geglaubt, daß wir noch einmal zusammenkommen würden?« begann sie wieder; »nun will es klar werden zwischen uns nach langer Zeit – so vieles, was dunkel war. Und Robert kommt zurück; ich will zu ihm, beide wollen wir hin, sie und ich – –!«
»Charlotte?« rief ich hastig.
»Nein,« erwiderte sie, »Therese von Demphoff! Es ist mir, als ob ich träume. – Du bist der Gott, der Wunder thut!«
Was an jenem Nachmittage noch weiter gesprochen worden ist zwischen den beiden so lange verfeindeten Schwägerinnen, habe ich nie erfahren. Vorläufig blieb auch alles beim alten, und Frau von Demphoff kam nicht herüber und Tante Edith besuchte nicht die Villa, und doch war es anders geworden. Worin es eigentlich lag? Wer kann es sagen. Tante Edith hatte ihr ruhiges ergebenes Wesen wiedergefunden, das so anmutend, so friedenvoll war; und unermüdlich liebevoll sorgte sie um Charlotte und suchte ihr Trost einzusprechen.
Ferra kam in jenen kurzen Wintertagen beinahe täglich in das alte Kloster und half mit Verleugnung ihrer selbst grobe Kinderhemden zur Christbescherung nähen, so daß selbst Gerhard ihr einige anerkennende Worte spendete. Auch er sprach täglich bei uns ein, und jene Stunden waren die traulichsten, die man sich denken konnte. Wie wunderschön müßte es doch erst in der geheimnisvollen, reizenden Weihnachtszeit geworden sein, wenn nicht der düstere Kummerschatten auf allen Stirnen gelegen hätte.
Inzwischen traf man Vorbereitungen zu Gerhards Reise, und je näher die bestimmte Zeit kam, desto mißvergnügter wurde er. »Gott weiß, was ich da draußen soll!« sagte er ärgerlich eines Tages. »Ich bin wahrhaftig ganz gesund; – aus Vorsicht erklärt unser alter Medizinalrat, aus Vorsicht! Und es ist tödlich langweilig, so allein herumzureisen, noch dazu, wenn man, wie ich, die Ueberzeugung hat, daß das Geld unnötigerweise ausgegeben wird.«
»Doch, Gerhard, du mußt!« tröstete Charlotte freundlich. »Dies ist ja das letztemal, im nächsten Jahre bleibst du bei uns.«
»Jawohl bei uns,« pflichtete Ferra bei, »wer weiß, wo Lottchen nächsten Winter ist –!«
»Hier!« gab jene zurück. »Wo sollte ich sein?«
Ferra zuckte die Schultern. »Möglich!« sagte sie kurz.
Und das Weihnachtsfest zog vorüber, stumm und kalt und traurig. Nur für mich gab es eine Freude; und für meinen Liebling, der so jubelnd aus dem beschneiten Schlitten sprang, brannte ein Bäumchen in Tantes Zimmer, und unter ihm hatte eine fast väterliche Liebe für den schönen Jungen aufgebaut. Gerhard war herübergekommen in der Dämmerung, um ihn zu sehen und die ganze zaubervolle Weihnachtsseligkeit, die aus den dunklen Kinderaugen leuchtete.
Doch das verflog wie ein Traum und Georg reiste wieder ab; in seinem Täschchen trug er mit wahrem Stolz das Schulgeld, das ich für ihn erstrickt und erhäkelt hatte, denn Vetter Gerhard durften um keinen Preis noch mehr Sorgen aufgebürdet werden.
»Ich gehe nie zum Konditor, Lena, wie die anderen Jungen,« versicherte er treuherzig, »und ich schreibe ganz enge in meinem Diarium, damit ich Papier spare; und auf der Eisbahn brauche ich nicht zu bezahlen, du weißt ja, Christianens Onkel läßt mich immer umsonst hinauf.«
»Du bist ein lieber, kleiner Kerl, Georg. Du hast ja nun aber das Taschengeld für die gute Zensur, da kannst du wohl auch einmal Sonntags ein Stück Kuchen essen.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Lena, das spare ich; denn weißt du, was ich werden will? Ich will ein Jäger werden und den ganzen Tag im Walde sein, und dazu muß ich so einen Rock haben mit grünem Kragen und hohe Stiefel; ich habe es Vetter Gerhard schon gesagt.«
Und ein paar Stunden später hörte ich keine plaudernde kindliche Stimme mehr, und auf dem alten Kloster lag wieder Schweigen und Trauer. Ich hatte Sehnsucht nach Georg und bangte vor Gerhards Reise, es war mir, als ob dann auf einmal alles anders werden könne.