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Das Begräbnis war vorüber, der Duft streng riechender Blumen und der Orangerie, die um des Toten Sarg gestanden, verflog durch die allerwärts geöffneten Fenster, und ein Wagen nach dem andern fuhr mit schwarzgekleideten Insassen wieder fort; es waren meist die Gutsnachbarn gewesen, aber auch einige von des Verstorbenen Kameraden; freilich hatte man von dieser Seite nur eine sehr geringe Teilnahme bezeigt.
Tante Edith saß in ihrem Sessel am Schreibtische noch genau so thränenlos und starr, wie an dem Unglückstage selbst; Charlotte und sie hatten sich noch nicht gesehen. Gerhard war öfter bei uns eingetreten in dieser Zeit, aber Tante hatte kaum Antwort gegeben auf seine teilnehmenden Fragen, sie berührte weder Speise noch Trank; es war ein jammervoller Zustand.
Ich wußte, daß die Damen aus der Villa bei den Trauerfeierlichkeiten zugegen gewesen waren, ich hatte aber ruhig bei Tante Edith gesessen. Nun drängte es mich, Charlotte zu sehen, und da Tante unbeweglich mit geschlossenen Augen verharrte, und es mir trotz aller möglichen Versuche nicht gelingen wollte, auch nur einen Blick von ihr zu erhalten, so stahl ich mich leise aus dem Zimmer, um vielleicht ein paar Worte mit Charlotte sprechen zu können; auch ich hatte sie seit jenem Abend nicht wiedergesehen.
Als ich den Korridor hinunterschritt, um nach dem Aebtissinnenhause zu gelangen, stieg eben Ferra die beiden Stufen empor. Sie war in einer tiefschwarzen, schleppenden Wollrobe, ein schwarzer Spitzenschleier lag auf dem üppigen Haar, das golden durch die düstere Umhüllung leuchtete; an der Hand führte sie ihr kleines Söhnchen. Es war zum erstenmal, daß ich die Mutter und das Kind zusammen erblickte; der reizende Junge mit dem blonden Lockenköpfchen trippelte zierlich neben ihr in seinem weißen, mit einer mächtig schwarzen Schleife dekorierten Kleidchen; am Arme trug er einen Kranz von späten Rosen, die ihre prachtvollen, mattgelben Kelche schwer niederhingen.
Ich trat zu Ferra und fragte nach Charlotte. Sie hob den Kopf und sah mich an; auch nicht die leiseste Spur einer Thräne hatte die schönen Augen gerötet; es lag in ihrem Gesichte ein Ausdruck, der grell mit ihrem verzweifelten Gebaren am Sterbetage kontrastierte; sie sah völlig getröstet aus.
»Charlotte ist in der Bibliothek oder im weißen Saal,« antwortete sie; »es wäre sehr vernünftig, sie nähme sich ein wenig mehr zusammen, aber es ist nicht möglich, ein gescheites Wort mit ihr zu sprechen, nicht einmal zur Gruft will sie mich begleiten; versuchen Sie es mit ihr. – Komm, mein süßer Liebling, wir wollen Onkel Joachim Blumen bringen.« Sie nickte mir zu und ging weiter.
»Zu Onkel Joachim gehen!« jauchzte der Kleine, während ich hinunter schritt und die hohe braune Thür öffnete zu dem Zimmer, in welchem Joachim gestorben war. Erst heute hatte ich einen Blick für die Einrichtung desselben, es durchmaß die ganze Tiefe des Aebtissinnenhauses; der grüne Samtvorhang schied es in zwei Teile; der vordere war zur Bibliothek eingerichtet, rings an den Wänden Büchergestelle von geschnitztem Eichenholz, mit zahllosen Bänden angefüllt; der Teil, in dem die Fenster sich befanden, bildete ein trauliches Herrenzimmer, welches Möbel enthielt, wie sie wohl zu Anfang dieses Jahrhunderts Mode gewesen waren, mit Bronzeverzierungen, eingelegten Kanten und gewaltigen, vergoldeten Löwenklauen, die sich trotzig auf den weichen grünen Teppich stemmten. Ueber dem großen Schreibtisch hing das Bild einer Frau; es zeigte die strengen Züge Tante Thereses, in nichts gemildert durch den Schmelz der Jugend, der über dem regelmäßigen Antlitz lag; köstlich weiße Haut, rosig angehaucht wie Apfelblüte, glänzend braunes Haar um das volle Oval, aber die Augen kalt und grau und die Lippen fest zusammengepreßt, wie noch heute.
Ich sah mich nach Charlotte um und fand sie nicht. Die Flügelthüren nach einem Nebenzimmer standen geöffnet, ich trat hinein; es war ein großer Saal, den ich überblickte, und hier war die Leiche aufgebahrt gewesen; Blumen lagen noch auf dem Parkett und massenhafte Kerzen flammten aus Gruppen von Palmen und Lebensbäumen, in deren Mitte der Sarg gestanden hatte. Von der Decke hing ein Kronleuchter herab; auch hier brannten die Kerzen und flackerten zu den schwebenden Engelsgestalten der reichornamentierten Stuckdecke empor; ebenso waren die weißen Wände überreich mit Stuckfiguren geziert; tanzende Nymphen, fischschwänzige Undinen und leichtgeschürzte Bacchantinnen tauchten aus üppigen Blätterranken und zierlichen Arabesken auf, fast zu weltlich für den ehemaligen Gesellschaftssaal einer vielfrommen, hochwürdigen Aebtissin.
In der Fensternische stand unbeweglich eine schlanke, schwarze Gestalt, die Stirn an die Scheiben gepreßt – Charlotte. Ich trat leise zu ihr und schlang den Arm um sie. Sie sah zu mir herunter; ich erschrak – was hatten drei kurze Tage aus dem blühenden Mädchengesicht gemacht? Um zehn Jahre erschien sie gealtert, mit dem wachsbleichen Teint, den blassen Lippen und den erloschenen Augen. Sie setzte sich auf eine der gepolsterten diwanartigen Bänke, welche in den Fensternischen standen, zog mich an sich und behielt meine Hand in der ihren.
»Mama ist mit Gerhard nebenan,« sagte sie leise und deutete auf eine nur angelehnte Thür, »um Joachims Verhältnisse ordnen zu helfen, es kam so ein ganzer Wust von eiligen Briefen. Es ist schrecklich, da liegt er kalt und bleich, und die Ueberlebenden müssen alle jene – –« Sie schwieg, als hätte sie schon zu viel gesagt.
»Du solltest hinübergehen, Mama,« hörten wir Gerhards tiefe Stimme, »es ist nichts für dich, in jenen Sachen herumzusuchen; laß es mich allein besorgen.«
»Nein!« erklärte sie kurz, »ich will sehen, wie weit es – gekommen war mit – –«
»Mutter!« Es klang so weich. »Das ist vergeben und vergessen, jetzt denken wir nur an das Gute, das ihm eigen war, an sein frisches, fröhliches Wesen, an die Verehrung, mit der er an seiner Mutter hing. Nicht wahr?«
»Ich will nicht,« erwiderte sie, ohne seine Worte zu beachten, »daß du Sorgen hast seinetwegen; was mir sein Leichtsinn noch gelassen hat von seinem Vermögen, steht dir zu Gebote. Gib mir die Briefe.«
»Ich danke dir,« antwortete Gerhard, »aber es würde einen zu großen Teil deiner Einkünfte hinwegnehmen, es ist mehr als du denkst.«
Während mehrerer Minuten blieb es still dort, nur das Knittern von Papieren unterbrach das Schweigen, dann ein kurzes, heftiges: »Was ist das?« Und gleich darauf ein befehlendes: »Gib mir den Brief zurück, ich will Klarheit haben! – Wechsel mit gefälschter – –?« Die Stimme brach bei den letzten Worten, daß es schreiend und undeutlich von den Wänden wiederhallte.
Eine lange Pause entstand.
»Weiß ein Mensch, Gerhard, weiß ein Mensch davon?« fragte sie dann tonlos.
»Niemand, liebe Mutter. Noch an demselben Morgen, als mir jener anonyme Brief zuging – du weißt, ich gebe grundsätzlich nichts auf anonyme Anschuldigungen, aber hier kamen Umstände hinzu, die mir leider diese Angaben nur zu wahr erscheinen ließen. Ich nahm Joachim hierher und – aber laß es doch, Mutter, die Wechsel sind bereits in meinen Händen –«
»Weißt du auch, Gerhard!« schrie sie gellend auf, »weißt du auch, daß ich Gott danken muß auf den Knieen, daß er ihn hingenommen? Daß noch keine Mutter so unglücklich war wie ich? Allmächtiger Gott, ich danke dir, daß du die Schande nicht hast offenkundig werden lassen! Und der ist mein Sohn gewesen, den ich geliebt und gepflegt, aus den ich so stolz war? Um den ich beinahe wahnsinnig wurde vor Schmerz, als –« Das Letzte erstarb in wimmerndem Schluchzen.
»Er war jung, Mutter, verwöhnt, er hatte Unglück – es kommt so leicht, daß – –«
»Niemals!« rief sie laut und schmerzlich. »Es darf nicht kommen, daß ein Mensch vergißt, was er sich, was er dem ehrlichen Namen seiner Eltern schuldig ist! Er ist ein Entarteter gewesen, der erste in der langen Reihe seiner Vorfahren, er hat Schande auf sie alle gebracht, er –. O, du glaubst es nicht, Gerhard,« fuhr sie leiser und hastig fort, »was ich für Angst um ihn gehabt; meinst du, ich hätte seit Jahren eine Nacht geschlafen vor Sorgen, wie ich seine Forderungen befriedigen sollte? Meinst du, ich habe noch einen Stein in meinem Schmuckkasten?« – Sie lachte laut auf. »Nichts! – Und doch, und doch –! Wie kam es mit dem Duell?« fragte sie nach einer Pause.
Gerhard schwieg einen Moment. »Joachim hat Robert beschuldigt,« begann er darauf, »er sei der Schreiber jenes anonymen Briefes gewesen. Robert wies die grobe Anschuldigung zurück und gab schließlich sein Ehrenwort, darauf Joachim die Achseln gezuckt hat. Die Folge war natürlich: Robert nannte ihn einen elenden Buben!«
»Und Joachim forderte ihn?« unterbrach ihn Frau von Demphoff.
»Ja! – Etwas zur Besinnung gekommen, versuchte Robert, ganz gegen seine Grundsätze, die Sache gütlich beizulegen, aber vergebens. Leider erfuhr ich zu spät davon, ich hätte sonst mit Aufgebot aller Mittel das Duell zu verhindern gesucht. An Ort und Stelle haben Robert sowohl wie Sekundanten noch einmal alles gethan, um einen gütlichen Vergleich herbeizuführen, den Joachim aber in einer Weise unmöglich machte, welche unter Kavalieren keine Wahl mehr gestattet. Mit den Worten: ›Gut denn, ich that das Mögliche,‹ fügte sich Robert und wurde im ersten Gange von Joachim leicht am Arm verwundet, nachdem er selbst absichtlich über den Kopf seines Gegners hinweg geschossen hatte. Im zweiten Gange feuerte Joachim, erbittert über die ihm bewiesene Schonung, ohne das Kommando abzuwarten, aber auch ohne Robert zu treffen, welcher sehr ruhig seine Waffe hob, in der Absicht, den gefährlichen Gegner nur soweit zu verwunden, um ihn unschädlich zu machen. Robert ist ein vortrefflicher Pistolenschütze, aber in demselben Augenblick, als sein Schuß fiel, hatte Joachim einen Schritt zur Seite gethan und sank sofort getroffen zu Boden.«
»Gott hat ihn zur rechten Zeit hingenommen,« unterbrach die Frauenstimme kalt, fast grausam. »Ich will nun wissen, wie viel ich herzugeben habe, um ihm wenigstens vor der Welt ein unbescholtenes Andenken zu sichern. Was ich besitze, steht zur Verfügung, Gerhard; wir werden uns einschränken, Ferra, Charlotte und ich – heute abend erwarte ich deinen Bericht.«
Sie stand plötzlich in der Saalthür wieder hoch aufgerichtet und stolz; sie sah uns nicht, ihre Augen hingen an der Stelle, wo der Sarg gestanden; dann schritt sie hinüber und begann, eine Kerze nach der andern zu löschen; ein bitteres Lächeln spielte dabei um ihren Mund. »Lorbeeren!« sagte sie ironisch, »es ist alles Lüge im Leben, alles –«
Angstvoll barg ich mich hinter der Gardine, während Charlotte regungslos verharrte, nur ihre Augen folgten dem Thun der Mutter. Auf einem Stuhle lagen Helm und Säbel des Verstorbenen; die dunkle Frauengestalt betrachtete düster sinnend jene Ehrenzeichen, die den Sarg des Offiziers geschmückt hatten, dann ging plötzlich ein Wanken durch die hohe Gestalt, sie sank in die Kniee vor jenem Stuhl und legte die Arme um den glänzenden Helm; wie liebkosend schmiegte sich ihre Wange an den kalten Stahl, und ein bitterliches Weinen scholl durch das stille Gemach – er war ihr zwiefach gestorben.
Charlotte zog mich leise und hastig hinaus. »Sie darf nicht wissen, daß du sie gesehen hast.«
»Kommst du nicht einmal zu Tante Edith?« bat ich flehentlich.
»Sobald ich mich stark genug fühle; jetzt laß mich,« erwiderte sie und begann die Treppe in den untern Stock hinabzusteigen.
»Willst du in den Klostergarten?« fragte ich; sie nickte, und so wanderten wir schweigend durch seine stillen Gänge, aber wie anders als sonst.
Dann stand Charlotte plötzlich still und griff hastig mit beiden Händen in das fast entlaubte Gebüsch, aus dem gleichwohl noch zahllose späte Windenblüten leuchteten, als müsse sie sich festhalten. Von jenseits der Mauer klang eine frische Knabenstimme herüber:
Da flog ein wilder Falke
Hoch über mir dahin;
Falk', schaust du meinen Liebsten,
Sag' ihm, treu wär' mein Sinn.
Wo Eichen stehn und Buchen,
Da blüht wild' Röslein rot;
Und soll ich dich nicht lieben.
So grämt' ich mich zu Tod' –.
Da rollten auch über ihre Wangen die ersten schweren Thränen. »Komm,« bat sie, »ich will zu Tante Edith.«