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6

Obgleich Seine Majestät an diesem Abend ungewöhnlich wenig Wein getrunken hatte, reichte diese Menge doch aus, um am nächsten Tage die Nachwirkung hervorzurufen, die er nur allzusehr fürchten gelernt hatte. Nachdem die Morgenaudienz unter den schwersten Qualen für den Sohn des Himmels und einem fast unverbrüchlichen Schweigen von seiner Seite vorüber war, zog er sich in sein Privatgemach zurück und gab Befehl, nur mich vorzulassen. So allmählich schlummerte er ein. Als er erwachte, war er ziemlich schmerzfrei, aber dafür von einer Unruhe befallen, die nicht zu beschwichtigen war. Ich konnte hören, wie sein Herz pochte. Ungefähr um die Stunde des Affen begann er zu mir zu sprechen.

,,Sung«, sagte er, »du bist mir eine Weile ein guter Diener gewesen.«

Ich verneigte mich bis zur Erde und murmelte ein Zitat aus Kong-Fu-Tse:

»Dem Weisen ist leicht zu dienen, aber schwer zu gefallen, mit dem Unweisen verhält es sich umgekehrt.«

Tung-Chih machte eine abweichende Handbewegung und sprach mit matter Stimme:

»Ich bin weit davon entfernt, weise zu sein. Ich möchte gerne ein Fürst derselben Art werden wie Kaiser Kang-Hsi, aber zwei Dinge verhindern dieses. Das erste sind meine Gelüste, das andere sind die Frauen, die den Palast bevölkern. Vielleicht rede ich im Widerspruch zur hergebrachten Sitte, wenn ich dieses letztere äußere, aber Mao-Changs Wein formt die Worte mehr als ich selbst. Und doch glaube ich, daß ich wahr spreche. Es ist mein Wunsch, ein Fürst wie Kang-Hsi zu werden. Aber diese zwei Dinge hindern mich daran. Eines davon vermag ich möglicherweise zu überwinden, nämlich meine Gelüste, aber nur unter der Voraussetzung, daß ich das andere überwinde.«

Ich verbeugte mich wieder, obgleich mein Herz zitterte. Hatte sich der Erhabene schon zum Aufruhr gegen die Furchtbare im Palast Chang-Chun-Kung entschlossen? Wollte er sich darauf einlassen, nur auf zwei weiße Personen gestützt, von deren Fähigkeiten er nichts wußte? Tung-Chih antwortete selbst auf meine unausgesprochenen Fragen, indem er fortfuhr:

»Der Franzose Laplace und der Amerikaner boten mir gestern ihre Dienste an. Daß ich mit ihrer Hilfe die Unabhängigkeit im Palaste erringen kann, die für einen großen Fürsten unumgänglich ist, daran zweifle ich nicht. Die Leistungen der Barbaren während der Regierung meines Vaters, wo sie nahezu ohne Truppen die Hauptstadt einnahmen und uns zu einem demütigenden Frieden zwangen, sprechen hinreichend für ihre Fähigkeiten. Ich weiß nicht, ob ich ihr Anerbieten annehme. Aber bevor ich mich dafür oder dagegen entscheide, wünsche ich eine Sache zu ordnen, die dich betrifft.«

Ich zuckte zusammen.

»Du bist mir ein guter Diener gewesen«, sagte Tung-Chih, »und, was mehr ist, ein anhänglicher. Wenn ich auch nicht weise bin, so bin ich doch weder undankbar noch blind. Deine Augen sind die einzigen in diesem Palaste, die mich mit liebevoller Ergebenheit betrachteten.«

Ich verneigte mich zum dritten Male bis zum Boden, ohne irgendeine Antwort auf seine Worte zu finden, in solchem Grade war ich innerlich bewegt. Tung-Chih fuhr fort:

»Heute, in der Morgenfrühe, wurde ich von dem Eunuchen Hsu bedient, der eifersüchtig auf dich ist der Gunst wegen, die ich dir bewiesen habe. Es gelang mir, ihm listige Fragen zu stellen, obwohl der Wein so in meinem Kopf tobte, daß er beinahe meine Stimme übertönte. Durch diese Fragen und dank der allzu großen Lust des Eunuchen Hsu, dir zu schaden, gelang es mir, eine Sache in Erfahrung zu bringen. Der Eunuch Hsu hat sie jemandem von einem Eunuchen im Dienst des Obereunuchen Li zuflüstern gehört. Meine Mutter und der Obereunuch wünschen dein Verschwinden. Sie wollen dich durch eine Person ersetzen, die sie in der Hand haben. Dein Verschwinden soll morgen oder an einem der nächsten Tage erfolgen.«

Die milden Worte, die Seine Majestät vorhin geäußert, wurden wie Blüten von einem Frostwind hinweggefegt. Die furchtbare Mütterliche Tugend wollte mich aus dem Wege räumen. Mein Tod war beschlossen! Ich war so gelähmt, daß ich kaum folgen konnte, als Seine Majestät weitersprach:

»Ich bin außerstande, dich zu beschützen. Auch ich fürchte, daß du verschwinden mußt, doch nicht auf die Art, wie der Palast Chang-Chun-Kung es plant. Tritt näher! Was ich sage, darf nur von uns beiden gehört werden.«

Ich kam so nahe, als ich es des Zeremoniells wegen tun konnte. Tung-Chih begann im Flüsterton:

»Du mußt von hier fliehen. Ändert sich der Zustand im Palast, sollst du zurückkehren.«

Er senkte die Stimme noch mehr:

»Aber es ist auch möglich, daß der Zustand im Palast sich nicht so gestaltet, wie ich es wünsche. Niemand weiß etwas von der Zukunft. Und im Hinblick darauf kann mir deine Flucht zum Nutzen gereichen. Trotz meiner Unerfahrenheit in diesen Dingen habe ich alles wohl erwogen. Sage mir, wie lange Zeit, glaubst du, hätte ich noch zu leben, wenn das, was ich zu unternehmen beabsichtige, mißlingen sollte?«

Ich wagte nicht zu antworten; ich zitterte, als ruhte bereits der Blick der furchtbaren Mütterlichen Tugend auf uns beiden. Tung-Chih nickte.

»Du denkst, was ich denke. Zwei Prinzen von Geblüt erhoben sich gegen meine Mutter. Das ist zehn Jahre her. Aus Gnade gestattete man ihnen, Selbstmord zu begehen. Sie waren alt, ich aber bin jung. Ich wünsche weder Selbstmord zu begehen noch unvermittelt an einer Krankheit zu verscheiden. Der Franzose Laplace sagte, ich sei mutig. Aber wenn das, was ich zu unternehmen gedenke, mißlingt, werde ich beweisen, daß er sich getäuscht hat. Ich gedenke dann zu fliehen.«

»Fliehen?« stammelte ich. »Fliehen aus der Heiligen Stadt?«

»Lieber in einer weniger heiligen Stadt, in der ich aber länger leben kann. Eine solche Stadt sollst du mir ausfindig machen, damit ich, falls es notwendig wird, ein Asyl habe. Geldmittel und gewisse Dinge, auf die ich Wert lege, werde ich dir mitgeben. Du siehst, welches Vertrauen ich in dich setze. Zu keinem einzigen im Palast, außer zu dir, habe ich solches Vertrauen – erhebe keine Einwendungen, sie ermüden mich nur. Es ist so, wie ich sage. Ich habe alles überdacht, obgleich Mao-Changs Wein in meinem Innern lärmt wie die taoistischen Priester, wenn sie böse Geister austreiben. Du sollst mir eine Freistatt ausfindig machen. Und da ich in meinem eigenen Lande nie sicher sein kann, sollst du sie in den Ländern der Barbaren suchen. Vieles von dem, was der Franzose mir erzählt hat, hat mir zugesagt. Vielleicht ist es besser, dort als Untertan, denn hier als Regent zu leben.«

»Will der Himmelsgeborene«, brachte ich stockend heraus, »seinen Fuß damit beschmutzen, die barbarischen …«

»Du hörst, was ich sage«, unterbrach mich der Sohn des Himmels. »Widersprich mir nicht, denn ich bin ungeduldig, und alles, was ich vorbringe, ist bereits beschlossen. Möglich, daß die Freistatt, die du für mich suchen sollst, nie benötigt werden wird. Gelingt mein Vorhaben, ist sie überflüssig. Was weiter? Geht es anders aus, so habe ich eben alles vorbereitet.«

»Aber«, stotterte ich, »wie soll ich dem Himmelsgeborenen mitteilen können, wo sich diese Freistelle befindet? Ein Brief würde die Augen des Erhabenen nie erreichen.«

»Sicherlich nicht«, bestätigte Tung-Chih. »Aber es ist eigentümlich, daß Mao-Changs Wein, der den größeren Teil meines Selbst wie durch einen Schlangenbiß gelähmt hat, gleichzeitig teilweise belebend auf mich wirkt. Während ich vorhin mit geschlossenen Augen dalag, kam mir eine Eingebung. Ich glaube, daß sie sich durchführen läßt, ohne daß jemand es entdeckt. Der Sohn des Himmels empfängt Geschenke von allen Untertanen. Auch Untertanen im Auslande senden solche. Was hindert dich, eines abzuschicken?«

»Wenn es den Erhabenen nur erreicht«, meinte ich.

»Auch daran habe ich gedacht. Pu-Tung, der die Oberaufsicht über die Geschenke hat, ist mir ergeben. Wenn das Geschenk, das du schickst, nicht allzu hohen Wert hat, wird es mich schon durch Pu-Tung erreichen, namentlich, wenn es gleichzeitig religiöser Natur ist.«

»Der Himmelsgeborene ist erfindungsreich wie einer der klassischen Schriftsteller, und der Gegenstand Sung genannt ist unempfänglicher für Weisheit denn ein Stein. Wie wäre es möglich, auf diese Weise eine Botschaft zu schicken?«

»Komm näher«, flüsterte der Erhabene. »Was ich dir jetzt sage, darf nicht einmal auf einen Fußbreit Entfernung gehört werden.«

Im Widerspruche gegen die Zeremonien näherte ich mich dem Erhabenen, bis mein verächtliches Ohr nur einen Zoll von seinem Munde entfernt war. Aber was er mir zuflüsterte, gedenke ich erst später zu erzählen.


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